NUUK – Die Tage in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, werden länger. Nach ihrem Untergang bleibt die Sonne knapp hinter dem Horizont und taucht die felsige Küstenlandschaft in rotes Licht. An sonnigen Tagen, wenn der Himmel so blau ist wie das Meer, kann man Grönlands beeindruckende Berge bewundern. Ihre zerklüfteten Gipfel kontrastieren mit der Glätte ihrer Hänge – der Fjords, die durch die unbändige Kraft uralter Eisplatten geformt wurden. Hier und da wird die Szenerie durch Flecken duftender, braungrüner Tundra aufgelockert. Überall taut es, was matschige Spaziergänge durch eine nasse und schwere Schneedecke möglich macht.
Vor meiner Ankunft in Grönland zu Beginn der Schmelzzeit hatte ich mehr Schnee erwartet. Aber es gab nur noch einzelne weiße Flecken. Um die Trends zu erkennen, die wir Forscher mithilfe von Satelliten und anderen langfristigen Messungen ermitteln, muss man kein Wissenschaftler sein. Heute kommt der erste Schnee manchmal erst nach Weihnachten, und er ist auch nicht so beständig wie früher. Und das grönländische Inlandeis hat sich – nach einem Vierteljahrhundert der Schrumpfung – schnell und radikal verändert.
Es wird erwartet, dass Grönlands zunehmender Eisverlust stärker wird als jemals zuvor im Holozän, der geologischen Epoche, die vor etwa 12.000 Jahren begann. Und es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass der westliche Teil des grönländischen Inlandeises zunehmend instabil wird und auf einen Kipppunkt zusteuert, jenseits dessen sich die Dynamik und Struktur des Eises grundlegend und unumkehrbar ändert.
Tatsächlich könnten die Wissenschaftler unterschätzt haben, wie empfindlich Gletscher auf die globale Erwärmung reagieren, was bedeutet, dass der Kipppunkt schneller erreicht werden könnte als gedacht. Meine eigenen Forschungen zeigen, dass der Eisverlust die Grenzen des Inlandeises und der grönländischen Küste verschiebt, die Gletschergeschwindigkeit verändert und die Ströme von Eis, Wasser und Sedimenten umleitet. Diese Veränderungen beeinflussen wiederum die Reaktion der Eisdecke auf zukünftige höhere Temperaturen.
Bei meinem letzten Besuch in Nuuk habe ich weiter am QGreenland-Projekt mitgearbeitet und ein Geoinformationssystem für Wissenschaftler und Pädagogen aufgebaut, die sich mit Grönland beschäftigen und mehr über die dortigen Forschungen erfahren wollen. Obwohl es nicht möglich ist, über interaktive Karten die Tundra zu riechen und die arktischen Vögel zu hören, können die Menschen so die weltgrößte Insel kennenlernen – und verstehen, wie die Veränderungen in der Arktis ihre eigenen Gesellschaften beeinflussen, obwohl sie vielleicht Tausende von Kilometern entfernt liegen.
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Um eine Katastrophe zu verhindern, müssen wir sofort handeln. Ähnlich wie wir mithilfe des Lichts ferner Sterne in die Vergangenheit blicken können, bieten uns die Veränderungen, die wir jetzt in Grönland erleben – das Ergebnis unserer bisherigen Versäumnisse gegen den Klimawandel – einen erschreckenden Blick in die Zukunft. Wie es im jüngsten Synthesis Report des Weltklimarats IPCC heißt, ist der Anstieg der Meeresspiegel – weitgehend aufgrund der Eisschmelze – „für Jahrzehnte bis Jahrhunderte unabwendbar“.
Wenn man selbst nicht von Überschwemmungen bedroht ist, scheinen steigende Meeresspiegel kein so drängendes Thema zu sein. Aber etwa 40% der Weltbevölkerung leben weniger als 100 Kilometer von einer Küste entfernt. Der Anstieg der Meeresspiegel lässt nicht nur die Küsten erodieren und Salzwasser in Trinkwasserressourcen und Ökosysteme eindringen, sondern beeinflusst auch den Grundwasserstand, was Überschwemmungen und Kontaminierungen weiter landeinwärts möglich macht. Und auch wenn wir Tausende Kilometer von der Küste entfernt leben, sind wir von der Küsteninfrastruktur für Waren und Schifffahrt abhängig. Also müssen wir uns gemeinsam auf eine Zukunft dauerhaft steigender Meeresspiegel vorbereiten und eine Antwort darauf finden.
Das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Anstiegs hängt aber immer noch von den Entscheidungen ab, die wir jetzt treffen. Laut dem jüngsten IPCC-Bericht könnte die weltweite Temperatur bis 2100 um 3,5° Celsius steigen. Um unser vereinbartes Ziel von weniger als 2°C erreichen zu können, müssen wir also unbedingt die Lücke schließen, die zwischen den momentanen Bemühungen gegen den Klimawandel und den tatsächlich nötigen Maßnahmen klafft. Steigen die Temperaturen um 2-3°C, könnte das Inlandeis Grönlands und der Westantarktis „über mehrere Jahrhunderte hinweg fast völlig und unumkehrbar verloren gehen“, was die Meeresspiegel um viele Meter erhöhen würde. Schätzungen zufolge hat allein die grönländische Eisdecke das Potenzial für einen 7,4 Meter höheren Meeresspiegel.
Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit nicht völlig vorherbestimmt. Wenn wir jetzt den Klimawandel effektiv bekämpfen, können wir einen großen Teil des grönländischen Inlandeises retten, die Ausbreitung von Waldbränden begrenzen, die Häufigkeit von Dürren verhindern, die Ernährungssicherheit verbessern und für eine bewohnbare Welt sorgen.
Um dies aber zu erreichen, müssen wir uns gemeinsam und langfristig bemühen, den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen – wobei jedes einzelne Grad eine entscheidende Rolle spielt. Um den Klimawandel zu besiegen, müssen wir unsere vereinbarten Fristen einhalten und unsere bestehenden Versprechen erfüllen, auf fossile Energieträger zu verzichten. Die Botschaft aus Grönland ist klar: Eis lässt nicht mit sich verhandeln.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
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NUUK – Die Tage in Nuuk, der Hauptstadt Grönlands, werden länger. Nach ihrem Untergang bleibt die Sonne knapp hinter dem Horizont und taucht die felsige Küstenlandschaft in rotes Licht. An sonnigen Tagen, wenn der Himmel so blau ist wie das Meer, kann man Grönlands beeindruckende Berge bewundern. Ihre zerklüfteten Gipfel kontrastieren mit der Glätte ihrer Hänge – der Fjords, die durch die unbändige Kraft uralter Eisplatten geformt wurden. Hier und da wird die Szenerie durch Flecken duftender, braungrüner Tundra aufgelockert. Überall taut es, was matschige Spaziergänge durch eine nasse und schwere Schneedecke möglich macht.
Vor meiner Ankunft in Grönland zu Beginn der Schmelzzeit hatte ich mehr Schnee erwartet. Aber es gab nur noch einzelne weiße Flecken. Um die Trends zu erkennen, die wir Forscher mithilfe von Satelliten und anderen langfristigen Messungen ermitteln, muss man kein Wissenschaftler sein. Heute kommt der erste Schnee manchmal erst nach Weihnachten, und er ist auch nicht so beständig wie früher. Und das grönländische Inlandeis hat sich – nach einem Vierteljahrhundert der Schrumpfung – schnell und radikal verändert.
Die Arctic Report Card der US-amerikanischen Nationalen Ozean- und Atmosphärenbehörde für Grönland, die ich mitverfasst habe, zeichnet ein düsteres Bild: 2022 war das 25. Jahr in Folge, in dem Grönland Eis verloren hat, was von „beispiellosen spätsaisonalen Schmelzereignissen“ begleitet wurde. Am 3. September war über ein Drittel der Eisoberfläche von Schmelzvorgängen betroffen – auch an der Summit Station, einer Forschungsstation nahe dem Scheitelpunkt des Inlandeises. Ein Jahr zuvor, im August 2021, hatte die Summit Station die ersten Regenfälle überhaupt dokumentiert, obwohl – aufgrund fehlender Regenmesser in dieser Höhe – nicht festgestellt werden konnte, wie stark sie waren.
Es wird erwartet, dass Grönlands zunehmender Eisverlust stärker wird als jemals zuvor im Holozän, der geologischen Epoche, die vor etwa 12.000 Jahren begann. Und es gibt immer mehr Hinweise darauf, dass der westliche Teil des grönländischen Inlandeises zunehmend instabil wird und auf einen Kipppunkt zusteuert, jenseits dessen sich die Dynamik und Struktur des Eises grundlegend und unumkehrbar ändert.
Tatsächlich könnten die Wissenschaftler unterschätzt haben, wie empfindlich Gletscher auf die globale Erwärmung reagieren, was bedeutet, dass der Kipppunkt schneller erreicht werden könnte als gedacht. Meine eigenen Forschungen zeigen, dass der Eisverlust die Grenzen des Inlandeises und der grönländischen Küste verschiebt, die Gletschergeschwindigkeit verändert und die Ströme von Eis, Wasser und Sedimenten umleitet. Diese Veränderungen beeinflussen wiederum die Reaktion der Eisdecke auf zukünftige höhere Temperaturen.
Bei meinem letzten Besuch in Nuuk habe ich weiter am QGreenland-Projekt mitgearbeitet und ein Geoinformationssystem für Wissenschaftler und Pädagogen aufgebaut, die sich mit Grönland beschäftigen und mehr über die dortigen Forschungen erfahren wollen. Obwohl es nicht möglich ist, über interaktive Karten die Tundra zu riechen und die arktischen Vögel zu hören, können die Menschen so die weltgrößte Insel kennenlernen – und verstehen, wie die Veränderungen in der Arktis ihre eigenen Gesellschaften beeinflussen, obwohl sie vielleicht Tausende von Kilometern entfernt liegen.
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Wenn man selbst nicht von Überschwemmungen bedroht ist, scheinen steigende Meeresspiegel kein so drängendes Thema zu sein. Aber etwa 40% der Weltbevölkerung leben weniger als 100 Kilometer von einer Küste entfernt. Der Anstieg der Meeresspiegel lässt nicht nur die Küsten erodieren und Salzwasser in Trinkwasserressourcen und Ökosysteme eindringen, sondern beeinflusst auch den Grundwasserstand, was Überschwemmungen und Kontaminierungen weiter landeinwärts möglich macht. Und auch wenn wir Tausende Kilometer von der Küste entfernt leben, sind wir von der Küsteninfrastruktur für Waren und Schifffahrt abhängig. Also müssen wir uns gemeinsam auf eine Zukunft dauerhaft steigender Meeresspiegel vorbereiten und eine Antwort darauf finden.
Das Ausmaß und die Geschwindigkeit des Anstiegs hängt aber immer noch von den Entscheidungen ab, die wir jetzt treffen. Laut dem jüngsten IPCC-Bericht könnte die weltweite Temperatur bis 2100 um 3,5° Celsius steigen. Um unser vereinbartes Ziel von weniger als 2°C erreichen zu können, müssen wir also unbedingt die Lücke schließen, die zwischen den momentanen Bemühungen gegen den Klimawandel und den tatsächlich nötigen Maßnahmen klafft. Steigen die Temperaturen um 2-3°C, könnte das Inlandeis Grönlands und der Westantarktis „über mehrere Jahrhunderte hinweg fast völlig und unumkehrbar verloren gehen“, was die Meeresspiegel um viele Meter erhöhen würde. Schätzungen zufolge hat allein die grönländische Eisdecke das Potenzial für einen 7,4 Meter höheren Meeresspiegel.
Glücklicherweise ist die Zukunft der Menschheit nicht völlig vorherbestimmt. Wenn wir jetzt den Klimawandel effektiv bekämpfen, können wir einen großen Teil des grönländischen Inlandeises retten, die Ausbreitung von Waldbränden begrenzen, die Häufigkeit von Dürren verhindern, die Ernährungssicherheit verbessern und für eine bewohnbare Welt sorgen.
Um dies aber zu erreichen, müssen wir uns gemeinsam und langfristig bemühen, den globalen Temperaturanstieg zu begrenzen – wobei jedes einzelne Grad eine entscheidende Rolle spielt. Um den Klimawandel zu besiegen, müssen wir unsere vereinbarten Fristen einhalten und unsere bestehenden Versprechen erfüllen, auf fossile Energieträger zu verzichten. Die Botschaft aus Grönland ist klar: Eis lässt nicht mit sich verhandeln.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff