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Libyen nach Gaddafi

BENGHAZI – Autokraten aus dem Nahen Osten warnen Ihre Bevölkerung regelmäßig vor Blutvergießen, Besetzung aus dem Westen, Armut, Chaos und alQaida, wenn ihre Regime gestürzt werden. Diese Drohungen hörte man in Tunesien, Ägypten, im Jemen, in Bahrain, Syrien und – im Stil der schwarzen Komödie – in Libyen. Aber in der ganzen Region herrscht die Überzeugung, dass die Kosten der Entfernung der Autokratien, so hoch sie auch sein mögen, niedrig sind im Vergleich zu dem Schaden, der durch die aktuellen Herrscher entsteht. Die Freiheit, mit anderen Worten, ist den Preis wert.

In Libyen können vier Szenarien die Aussichten auf Demokratisierung beeinträchtigen: Bürger- beziehungsweise Stammeskrieg, ein Militärregime, ein „Hängenbleiben“ in der Übergangsphase sowie eine Teilung. Angesichts des hohen Preises, den die Libyer gezahlt haben, müssen diese Szenarien verhindert werden, nicht gemildert.

Das Szenario des Bürger- oder Stammeskrieges ist das schlimmste Risiko. Die libyschen Revolutionäre haben das verstanden. Als  nach der Entfernung von Ägyptens Hosni Mubarak sektiererische Gewalt ausbrach, skandierten die revolutionären Koalitionen den Slogan „Damit wirst Du Dich nicht brüsten, Mubarak“. Repressive Diktaturen können freie und faire Wahlen nicht gewinnen. Aber sie können ihre Kontrolle über den Staat, seine Menschen und Institutionen mit extremer Gewalt konsolidieren.

Um also zu gewinnen, hat Libyens Colonel Muammar al-Gadaffi eine Bewegung des zivilen Widerstands absichtlich und erfolgreich in einen bewaffneten Konflikt verwandelt. Das wird Nachwirkungen im post-autoritären Kontext haben. Eine Studie der Columbia Universität zum Thema ziviler Widerstand hat gezeigt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass in einem Land nach einem erfolgreichen bewaffneten Kampf gegen eine Diktatur ein Bürgerkrieg ausbricht, bei 43 Prozent liegt, gegenüber 28 Prozent, wenn die Bewegung unbewaffnet war.

Laut derselben Studie, die auf 323 Fällen bewaffneter und unbewaffneter Oppositionskonflikte zwischen 1900 und 2006 beruhte, liegt die Wahrscheinlichkeit eines demokratischen Übergangs innerhalb von fünf Jahren nach einer erfolgreichen bewaffneten Auseinandersetzung bei nur dreiProzent, gegenüber 51 Prozent, wenn der Konflikt unbewaffnet ausgetragen wurde.

Natürlich kann Libyen dem düsteren Ausblick auf einen post-autoritären Bürgerkrieg entkommen. Aber dazu muss einer Polarisierung entlang von Stammes- und Regionsgrenzen sowie Rivalitäten zwischen dem Übergangsnationalrat und dem Militärrat sowie zwischen hochrangigen Militärs entgegengewirkt werden. Gewaltsame Polarisierung ist nicht nur zwischen den Stämmen im Osten und m Westen, sondern auch zwischen einigen westlichen Stämmen ausgebrochen.

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Vergangenen Monat zum Beispiel brachen bewaffnete Konflikte zwischen Aufständischen in Al-Zintan und den Bewohnern des 15 Kilometer entfernten Ortes Al-Rayyaniny aus. Sechs Personen wurden getötet – eine Erinnerung daran, was passieren kann, wenn gewaltsame Polarisierung zwischen benachbarten Städten und Dörfern fortbesteht. Die Politik der Vendetta, der Blutfehde, ist in Libyen nicht unbekannt, und in einer bewaffneten Gesellschaft mit mehr als 120 Stämmen – 30 davon von erheblicher Größe und mit weitreichenden Mitteln – kann es extrem gefährlich werden.

Ein weiteres negatives Szenario ist das Militärregime. Verschiedene Personen aus den Reihen der „freien Offiziere“ – der Gruppe, die 1969 den Coup gegen die Monarchie plante – führen den INC an. Dazu gehören unter anderem General Abd al-Fattah Younis, General Soliman Mahmoud, Colonel Khalifa Haftar, Major Mohamed Najm. Diese Personen sind doppelt legitimiert, aufgrund ihrer historischen Teilnahme an dem Staatstreich von 1969 und aufgrund ihrer Unterstützung der Revolution vom 17. Februar. Sie gehören verschiedenen größeren Stämmen an und gewährleisten damit eine breite Stammesrepräsentanz, falls ein Militärrat wie in Ägypten die Macht übernehmen sollte.

Die neuen Machthaber in Lybien jedoch werden anders als in Ägypten schlechte Wirtschaftsbedingungen vorfinden, die ihre Legitimation bedrohen und ihre Beliebtheit untergraben können. Das könnte eine Gruppe von hochrangigen Offizieren dazu verleiten, direkt die Macht zu übernehmen, besonders wenn der Sieg in Libyen militärisch erkämpft wurde. Ein Zug von Armeeoffizieren in Tripolis gegen Gaddafi und seine Söhne könnte den Konflikt beenden und Befehlshabern der Armee den Dank bescheren – und die Hauptstadt.

Aber vier Jahrzehnte der militärischen Diktatur sind möglicherweise genug für die Libyer, die in ihrer Mehrheit nie tatsächlich an dem Reichtum oder dem Potenzial ihres Landes beteiligt waren. Wenn es darum geht, Terroristen und nicht dokumentierte Flüchtlinge zu produzieren – zwei kritische Themen für Europa – haben arabische Diktatoren eine unrühmliche Vorgeschichte. Algerien in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts ist eine eindringliche Mahnung daran. Die westlichen Regierungen wollen nicht wieder in einen Teufelskreis geraten, in dem auf repressive Autokraten gewaltsame Theokraten und Flüchtlinge folgen.

In der „Übergangsphase hängenbleiben“ ist ein drittes mögliches Szenarium, bei dem Libyen in einer „Grauzone“ verbleibt, die weder eine richtige Demokratie noch eine Diktatur ist, sondern nur „halb frei“. Das bedeutet normale Wahlen, eine demokratische Verfassung und eine Zivilgesellschaft, gepaart mit Wahlbetrug, verzerrter Repräsentation, Verletzung der Menschenrechte und Einschränkungen der zivilen Rechte. Ein Land, das in der Übergangsphase hängenbleibt, verliert normalerweise die Kraft für demokratische Veränderung. Allgemeine Korruption, schwache staatliche Institutionen und fehlende Sicherheit beleben vielmehr den Mythos vom „gerechten“ Autokraten wieder. Vladimir Putins Herrschaft in Russland illustriert das Ergebnis.

Leider hat eine im Journal of Democracy veröffentlichte Studie gezeigt, dass von 100 Ländern, die zwischen 1970 und 2000 als Länder „in der Übergangsphase“ galten, nur 20 ganz demokratisiert wurden (darunter Chile, Argentinien, Polen und Taiwan). Fünf sind in brutale Diktaturen zurückgefallen Usbekistan, Algerien, Turkmenistan und Belarus), während die anderen noch immer irgendwo dazwischen feststecken.

Angesichts der fehlenden demokratischen Erfahrung Libyens sehen einige dies als ein wahrscheinliches Szenarium für die Zeit nach Gadaffi. Aber Libyen ist nicht das einzige Land, das trotz schwacher Institutionen und starker Stammesidentitäten versucht hat, den Wandel von einer Diktatur zur Demokratie zu bewältigen. Albanien, die Mongolei und Indien haben noch schwierigere Prüfungen bestanden – und bieten nützliche Lektionen für demokratische Übergänge unter ungünstigen Umständen.

Das vierte Szenarium ist die Teilung in die alten, oft erwähnten drei Provinzen nach dem ottomanischen Vorbild: Cyrenaika (Osten), Fezzab (Süden) und Tripolitanien (Westen). Cyrenaika ist frei von Gadaffi, Tripolitanien nicht und Fezzan ist nicht ganz in die Revolution eingestiegen. Aber die Verwaltungsgrenzen dieser Regionen wurden nie ganz festgelegt und sind seit 1951 mindestens acht Mal geändert worden. 2007 hatte Libyen 22 Verwaltugnsbezirke, nicht drei.

All diese Szenarien werden durch die Entwicklungen in Ägypten und Tunesien beeinflusst. Bei demokratischen Übergängen hilft ein Erfolg in der Nachbarschaft oft Zuhause. Jedes der beiden Länder oder beide können Libyen erfolgreiche Übergangsmodelle bieten und damit ein wichtiges Hindernis für eine Militärherrschaft oder einen Bürgerkrieg.

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