CAMBRIDGE – Ketanji Brown Jacksons Bestätigung als Richterin am Supreme Court wurde als Durchbruch für Schwarze und andere Minderheiten, für Frauen und Mütter, für Strafverteidiger und sogar für die Absolventen staatlicher Schulen gefeiert. Der größte Gewinner ist aber der Oberste Gerichtshof selbst.
Laut Gallup-Umfragen ist inzwischen eine Mehrheit der Amerikaner mit der Arbeit des Supreme Court unzufrieden. Das Vertrauen der amerikanischen Öffentlichkeit in die Institution ist von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 40 Prozent im Jahr 2021 gefallen und Rechts- und Politikwissenschaftler warnen vor einer Legitimitätskrise. Trotzdem befürworten 66 Prozent Jacksons Bestätigung. Dies ist seit mehr als einem Jahrzehnt der höchste Wert aller Kandidatinnen und Kandidaten.
Obschon der Supreme Court nicht unbedingt „beliebt“ sein muss, ist die öffentliche Wahrnehmung trotzdem nicht unwichtig, weil sie mit einer Frage – und einem Rätsel – zusammenhängt, mit dem sich Rechtsphilosophen schon seit Jahrtausenden herumschlagen: Warum halten sich Menschen an Gesetze? Oder anders ausgedrückt: Was verleiht dem Recht – und den Rechtsinstitutionen – ihre Autorität?
In der Naturrechtstradition des Thomas von Aquin war das Recht eng mit der Religion verknüpft und erhielt seine Autorität aus derselben Quelle wie religiöse Gebote: von Gott. In einem säkularen Kontext ist die Frage nicht so leicht zu beantworten. Im Rechtspositivismus (der sich allgemein durchgesetzt hat), ist es die „Herkunft“ – oder die institutionelle Quelle – des Rechts, die ihm Wirksamkeit verleiht und es von einer bloßen Regel oder Norm unterscheidet. Dieses Argument schafft aber ein neues Henne-Ei-Problem, weil sie zur Frage führt, woher Institutionen ihre Legitimität haben, wenn nicht aus dem Recht.
Vertreter des Rechtspositivismus geben zu, dass ihre Erklärung eine „Teilnehmerperspektive“ erfordert. Das heißt, gleich welcher Rechtstheorie man anhängt, liegt der Funktion jedes Rechtssystems immer auch ein psychologisches Element zugrunde. Wenn sie nicht von genügend Menschen akzeptiert wird, bricht jede Institution zusammen. Demnach ist das Vertrauen der Öffentlichkeit – oder die Beliebtheit – ein zentrales Element des Rechtsstaats.
Theoretisch könnte die „Teilnehmerperspektive“ des Positivismus durch Moral (man glaubt, dass die Einhaltung der Gesetze eine moralische Pflicht ist), Zwang (das Gesetz wird aus Furcht vor den Folgen eines Verstoßes eingehalten) oder reine Gewohnheit (das Gesetz wird unreflektiert eingehalten, weil das der Norm entspricht) ersetzt werden. Allerdings argumentiert Tom R. Tyler von der Yale Law School, der Respekt für das Recht und seine Institutionen sei eine viel stärkere Motivation als die Angst vor Strafe. Tylers Arbeit zeigt, wie wir von einem Gleichgewicht der bloßen Regelbefolgung (bei der die Menschen widerwillig das Mindestmaß dessen tun, was das Gesetz verlangt) zu einer Kultur der Kooperation kommen können (in der die Menschen aus innerer Motivation freiwillig an der Gesellschaft und ihren Rechtsinstitutionen teilnehmen).
Rechtsstaatliche Institutionen können nur funktionieren, wenn sie den Kontext, in dem sie tätig sind, und die kognitiven Annahmen ihrer Teilnehmer berücksichtigen. Das heißt in diesem konkreten Fall, der Supreme Court muss sich an die neuen sozialen, politischen und demografischen Realitäten in dem Land anpassen, dem er dient, und er muss sich mit dem wirbelnden Kaleidoskop aus all den Erfahrungen und Weltanschauungen auseinandersetzen, die sich in der amerikanischen Bevölkerung wiederfinden.
In diesem Sinne könnte Jacksons Bestätigung die schwindende emotionale Bindung an den Gerichtshof durchaus festigen. Es ist wissenschaftlicherwiesen, dass Gerichtshöfe, an denen Afroamerikaner vertreten sind, von diesen als legitimer wahrgenommen werden.
Die Philosophin Martha C. Nussbaum argumentiert, „politische Emotionen“ seien für den Zusammenhalt politischer Gemeinschaften unverzichtbar. Entsprechend braucht der Rechtsstaat „rechtliche Emotionen“, das heißt die Menschen, die einem Rechtssystem unterliegen, müssen das Gefühl haben, dass sowohl der Buchstabe als auch der Geist des Gesetzes seinen Zweck erfüllt.
Das zeigt auch die Verwandlung einer scheinbar ernsten Rechtswissenschaftlerin an der Rutgers University in die „Notorious RBG“. Ruth Bader Ginsburgs immense Popularität verpasste der amerikanischen Justiz einen legitimierenden Energiekick und erreichte auch viele Menschen, die der verbindenden Kraft des Rechts sonst gleichgültig gegenüber gestanden hätten.
Das Recht soll uns nicht durch Furcht zum Gehorsam zwingen, sondern uns dazu inspirieren, engagierte und aktive Bürger zu werden. Auch Jacksons Berufung an den Supreme Court hat die Phantasie der Öffentlichkeit beflügelt und könnte sich für die allgemeine Zustimmung, die das Recht letztlich braucht, als Segen erweisen.
Institutionen sind von Natur aus zerbrechlich. Die Plünderung des Kapitols am 6. Januar 2021 war eine ernüchternde Erinnerung daran, wie schnell sich Institutionen und Normen auflösen können. Auf der anderen Seite des Atlantiks hat Boris Johnson gedanken- und schamlos gegen die COVID-Vorschriften verstoßen, die den normalen Briten das Leben so schwer gemacht haben, und damit 10 Downing Street, den Amtssitz der britischen Regierung, angreifbar gemacht. Bisher richtet sich die Wut der Öffentlichkeit gegen Johnson, sie könnte aber leicht in eine Entzauberung des Rechts selbst umschlagen.
Die Stellung des Supreme Court jedenfalls wurde nicht nur durch das politische Theater ausgehöhlt, zu dem die Bestätigung neuer Richter inzwischen geworden ist, sondern auch durch einige seiner rückschrittlichen und parteiischen Urteile der letzten Jahre. Amerikanische Konservative sprechen häufig über ihre Liebe zur „Rechtsstaatlichkeit“. Wenn jedoch trotz ihrer überwältigenden Popularität nur drei Republikaner für Jacksons Bestätigung stimmen, untergraben sie eben die Institution, die ihnen angeblich so heilig ist.
Jackson selbst sagte nach ihrer Bestätigung: „Es hat 232 Jahre und 115 Nominierungen gedauert, bis eine schwarze Frau an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten berufen wurde, aber wir haben es geschafft“. Ich glaube, unter das „wir“ in diesem Satz fällt auch das gesamte amerikanische Justizsystem. Jacksons Berufung ist nicht nur ein überfälliger Sieg für Minderheiten. Sie repräsentiert auch den Beginn eines Paradigmenwechsels für die Mehrheit. Jackson ist nicht nur ein Vorbild für schwarze Frauen. Sie ist eine wahre amerikanische Heldin und hätte von Anfang an so behandelt werden müssen.
Wir haben das Rätsel, warum wir uns an Gesetze halten, noch nicht völlig gelöst. Aber Jacksons Bestätigung bietet uns einen weiteren überzeugenden Grund.
CAMBRIDGE – Ketanji Brown Jacksons Bestätigung als Richterin am Supreme Court wurde als Durchbruch für Schwarze und andere Minderheiten, für Frauen und Mütter, für Strafverteidiger und sogar für die Absolventen staatlicher Schulen gefeiert. Der größte Gewinner ist aber der Oberste Gerichtshof selbst.
Laut Gallup-Umfragen ist inzwischen eine Mehrheit der Amerikaner mit der Arbeit des Supreme Court unzufrieden. Das Vertrauen der amerikanischen Öffentlichkeit in die Institution ist von 62 Prozent im Jahr 2000 auf 40 Prozent im Jahr 2021 gefallen und Rechts- und Politikwissenschaftler warnen vor einer Legitimitätskrise. Trotzdem befürworten 66 Prozent Jacksons Bestätigung. Dies ist seit mehr als einem Jahrzehnt der höchste Wert aller Kandidatinnen und Kandidaten.
Obschon der Supreme Court nicht unbedingt „beliebt“ sein muss, ist die öffentliche Wahrnehmung trotzdem nicht unwichtig, weil sie mit einer Frage – und einem Rätsel – zusammenhängt, mit dem sich Rechtsphilosophen schon seit Jahrtausenden herumschlagen: Warum halten sich Menschen an Gesetze? Oder anders ausgedrückt: Was verleiht dem Recht – und den Rechtsinstitutionen – ihre Autorität?
In der Naturrechtstradition des Thomas von Aquin war das Recht eng mit der Religion verknüpft und erhielt seine Autorität aus derselben Quelle wie religiöse Gebote: von Gott. In einem säkularen Kontext ist die Frage nicht so leicht zu beantworten. Im Rechtspositivismus (der sich allgemein durchgesetzt hat), ist es die „Herkunft“ – oder die institutionelle Quelle – des Rechts, die ihm Wirksamkeit verleiht und es von einer bloßen Regel oder Norm unterscheidet. Dieses Argument schafft aber ein neues Henne-Ei-Problem, weil sie zur Frage führt, woher Institutionen ihre Legitimität haben, wenn nicht aus dem Recht.
Vertreter des Rechtspositivismus geben zu, dass ihre Erklärung eine „Teilnehmerperspektive“ erfordert. Das heißt, gleich welcher Rechtstheorie man anhängt, liegt der Funktion jedes Rechtssystems immer auch ein psychologisches Element zugrunde. Wenn sie nicht von genügend Menschen akzeptiert wird, bricht jede Institution zusammen. Demnach ist das Vertrauen der Öffentlichkeit – oder die Beliebtheit – ein zentrales Element des Rechtsstaats.
Theoretisch könnte die „Teilnehmerperspektive“ des Positivismus durch Moral (man glaubt, dass die Einhaltung der Gesetze eine moralische Pflicht ist), Zwang (das Gesetz wird aus Furcht vor den Folgen eines Verstoßes eingehalten) oder reine Gewohnheit (das Gesetz wird unreflektiert eingehalten, weil das der Norm entspricht) ersetzt werden. Allerdings argumentiert Tom R. Tyler von der Yale Law School, der Respekt für das Recht und seine Institutionen sei eine viel stärkere Motivation als die Angst vor Strafe. Tylers Arbeit zeigt, wie wir von einem Gleichgewicht der bloßen Regelbefolgung (bei der die Menschen widerwillig das Mindestmaß dessen tun, was das Gesetz verlangt) zu einer Kultur der Kooperation kommen können (in der die Menschen aus innerer Motivation freiwillig an der Gesellschaft und ihren Rechtsinstitutionen teilnehmen).
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Rechtsstaatliche Institutionen können nur funktionieren, wenn sie den Kontext, in dem sie tätig sind, und die kognitiven Annahmen ihrer Teilnehmer berücksichtigen. Das heißt in diesem konkreten Fall, der Supreme Court muss sich an die neuen sozialen, politischen und demografischen Realitäten in dem Land anpassen, dem er dient, und er muss sich mit dem wirbelnden Kaleidoskop aus all den Erfahrungen und Weltanschauungen auseinandersetzen, die sich in der amerikanischen Bevölkerung wiederfinden.
In diesem Sinne könnte Jacksons Bestätigung die schwindende emotionale Bindung an den Gerichtshof durchaus festigen. Es ist wissenschaftlicherwiesen, dass Gerichtshöfe, an denen Afroamerikaner vertreten sind, von diesen als legitimer wahrgenommen werden.
Die Philosophin Martha C. Nussbaum argumentiert, „politische Emotionen“ seien für den Zusammenhalt politischer Gemeinschaften unverzichtbar. Entsprechend braucht der Rechtsstaat „rechtliche Emotionen“, das heißt die Menschen, die einem Rechtssystem unterliegen, müssen das Gefühl haben, dass sowohl der Buchstabe als auch der Geist des Gesetzes seinen Zweck erfüllt.
Das zeigt auch die Verwandlung einer scheinbar ernsten Rechtswissenschaftlerin an der Rutgers University in die „Notorious RBG“. Ruth Bader Ginsburgs immense Popularität verpasste der amerikanischen Justiz einen legitimierenden Energiekick und erreichte auch viele Menschen, die der verbindenden Kraft des Rechts sonst gleichgültig gegenüber gestanden hätten.
Das Recht soll uns nicht durch Furcht zum Gehorsam zwingen, sondern uns dazu inspirieren, engagierte und aktive Bürger zu werden. Auch Jacksons Berufung an den Supreme Court hat die Phantasie der Öffentlichkeit beflügelt und könnte sich für die allgemeine Zustimmung, die das Recht letztlich braucht, als Segen erweisen.
Institutionen sind von Natur aus zerbrechlich. Die Plünderung des Kapitols am 6. Januar 2021 war eine ernüchternde Erinnerung daran, wie schnell sich Institutionen und Normen auflösen können. Auf der anderen Seite des Atlantiks hat Boris Johnson gedanken- und schamlos gegen die COVID-Vorschriften verstoßen, die den normalen Briten das Leben so schwer gemacht haben, und damit 10 Downing Street, den Amtssitz der britischen Regierung, angreifbar gemacht. Bisher richtet sich die Wut der Öffentlichkeit gegen Johnson, sie könnte aber leicht in eine Entzauberung des Rechts selbst umschlagen.
Die Stellung des Supreme Court jedenfalls wurde nicht nur durch das politische Theater ausgehöhlt, zu dem die Bestätigung neuer Richter inzwischen geworden ist, sondern auch durch einige seiner rückschrittlichen und parteiischen Urteile der letzten Jahre. Amerikanische Konservative sprechen häufig über ihre Liebe zur „Rechtsstaatlichkeit“. Wenn jedoch trotz ihrer überwältigenden Popularität nur drei Republikaner für Jacksons Bestätigung stimmen, untergraben sie eben die Institution, die ihnen angeblich so heilig ist.
Jackson selbst sagte nach ihrer Bestätigung: „Es hat 232 Jahre und 115 Nominierungen gedauert, bis eine schwarze Frau an den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten berufen wurde, aber wir haben es geschafft“. Ich glaube, unter das „wir“ in diesem Satz fällt auch das gesamte amerikanische Justizsystem. Jacksons Berufung ist nicht nur ein überfälliger Sieg für Minderheiten. Sie repräsentiert auch den Beginn eines Paradigmenwechsels für die Mehrheit. Jackson ist nicht nur ein Vorbild für schwarze Frauen. Sie ist eine wahre amerikanische Heldin und hätte von Anfang an so behandelt werden müssen.
Wir haben das Rätsel, warum wir uns an Gesetze halten, noch nicht völlig gelöst. Aber Jacksons Bestätigung bietet uns einen weiteren überzeugenden Grund.