Was bleibt vom Konfuzianismus?

PEKING – Die nach der Erdbebenkatastrophe in der Provinz Sichuan sehr öffentlich zur Schau gestellte Anteilnahme und Offenheit der chinesischen Regierung scheint ihre Autorität und Bindung zu den gewöhnlichen Chinesen gestärkt zu haben. Regierung und Armee arbeiteten Hand in Hand mit Heerscharen von Freiwilligen und privaten Netzwerken zur Rettung der Bebenopfer. Der emotionale Zuspruch von Ministerpräsident Wen Jiabao für die Überlebenden überzeugte selbst hartgesottene Zyniker.

Aber heroische Rettungsaktionen werden der Regierung nicht ewig weiterhelfen und daher stellt sich die Frage, wodurch langfristige politische Legitimität erlangt werden kann. Schließlich ist dem Kommunismus seine Fähigkeit, die Chinesen zu begeistern, abhanden gekommen. Wodurch soll er also ersetzt werden?

Die meisten Menschen im Westen sind ebenso wie viele chinesische Liberale im 20. Jahrhundert der Meinung, die Lösung wäre eine liberale Demokratie. Aber es gibt noch eine Alternative in Form der alten und ehrwürdigen Tradition des Konfuzianismus, der von Regierungsvertretern, kritischen Intellektuellen und gewöhnlichen Bürgern gerade wieder entdeckt wird.

Bei der Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele wird diese Wiederentdeckung hervorgehoben: Dort soll nämlich nicht aus den Werken Marx’ zitiert werden, sondern aus den Analekten des Konfuzius. Milliarden Menschen werden weltweit Sinnsprüche wie „Alle Völker der Welt sind Brüder“ oder „Wenn Freunde von weit her zu Besuch kommen - ist das nicht wirkliche Freude?“ verfolgen. Durch diese Leitsätze wird das Beste, was die chinesische Kultur zu bieten hat, zum Ausdruck gebracht.

An dieser Stelle geraten wir jedoch in Schwierigkeiten. Schon seit der Han-Dynastie (vor über 2.000 Jahren) haben chinesische Regierungen die bekanntesten politischen Interpretationen des Konfuzianismus für ihre Zwecke instrumentalisiert. Der Konfuzianismus wurde mit dem Legalismus, der anderen bedeutenden politischen Tradition Chinas, vermischt, um Usancen wie blinden Gehorsam gegenüber dem Herrscher, Unterordnung der Frauen und den Einsatz harter Strafen zu rechtfertigen. Der heute wieder entdeckte „offizielle“ Konfuzianismus ist vielleicht weniger gefährlich – er betont soziale Harmonie und meint damit die friedliche Lösung von Konflikten – aber er bleibt eine konservative Moralvorstellung.

Allerdings gibt es eine weitere Interpretation des Konfuzianismus – nennen wir ihn „linken Konfuzianismus“ – der die Verpflichtung von Intellektuellen hervorhebt, schlechte politische Strategien zu kritisieren, der Regierungen verpflichtet, für das materielle Wohlergehen der Menschen zu sorgen und diejenigen ohne familiäre Bindungen zu unterstützen sowie von Regierungen fordert, einen globaleren Standpunkt einzunehmen und sich zur Verfolgung politischer Ziele weniger auf militärische als vielmehr auf moralische Macht zu stützen. Man ist offen gegenüber spirituellem Engagement und nimmt hinsichtlich des religiösen Lebens eine pluralistische und tolerante Haltung ein. Chancengleichheit in der Bildung wird ebenso hervorgehoben wie das meritokratische Prinzip für Regierungen, wo Spitzenpositionen mit den verdientesten und qualifiziertesten Mitgliedern der Gesellschaft besetzt werden sollen.

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Derartige Werte verdanken ihren Ursprung dem „ursprünglichen Konfuzianismus“ von Konfuzius, Mengzi und Xunzi, der bereits vor der Etablierung des Konfuzianismus als Staatsdoktrin existierte. In Zeiten des Kaiserreichs wurde diese kritische Tradition von Gelehrten wie Huang Zongxi weitergegeben. Heute fordern neue konfuzianische Linke wie Gan Yang die Schaffung einer „konfuzianischen sozialistischen Republik“.

Konfuzianische Gelehrte wie Jiang Qing räumen dabei offen ein, dass ihre Interpretation des Konfuzianismus den sozialistischen Idealen sehr nahe kommt: Nicht dem „real existierenden Sozialismus“ im heutigen China, sondern den sozialistischen Idealen von Karl Marx und anderen. Diese konfuzianische Tradition zielt darauf ab, die aktuelle Politik zu beeinflussen, hält sich aber von der Staatsmacht und Orthodoxie fern und ist stets präsent, um auf die Kluft zwischen Idealen und Realität hinzuweisen.

Tatsächlich ist die Abweichung des linken Konfuzianismus vom Status quo auch genau der springende Punkt: Er ist dazu gedacht einen moralischen Maßstab für Sozialkritiker zu bieten und Visionen einer wünschenswerten politischen Zukunft anzuregen. Im Gegensatz zum Kommunismus sieht er eine Zukunft vor, die ihre Legitimität aus der Tradition bezieht und auf den Fundamenten der Vergangenheit – auch auf der sozialistischen Tradition – aufbaut, anstatt diese zu zerstören.

Aus diesem Grund treten linke Konfuzianer für eine Institutionenreform ein. Sie argumentieren, dass politische Institutionen in chinesischen Traditionen begründet sein müssen, um langfristig stabil und legitimiert zu sein. Jiang Qing befürwortet eine Drei-Kammern-Legislative – ein demokratisch gewähltes Haus des Volkes, das die Interessen der gewöhnlichen Menschen vertritt, ein Haus beispielgebender Personen, um das Wohlergehen aller Menschen sicherzustellen, die von der Regierungspolitik betroffen sind, einschließlich Ausländer und Minderheitengruppen, sowie ein Haus der kulturellen Kontinuität, das für die Aufrechterhaltung der verschiedenen Religionen und Traditionen in China zuständig wäre.

Derart konkrete Vorschläge für eine von konfuzianischen Werten inspirierte politische Reform können in Festland-China selten veröffentlicht werden. Tatsächlich gibt es für die öffentliche Diskussion liberal-demokratischer Institutionen weniger Beschränkungen, und zwar deshalb, weil sich nur wenige Chinesen von einer liberalen Demokratie westlichen Zuschnitts angesprochen fühlen. Der linke Konfuzianismus ist heute die praktikabelste Alternative zum politischen Status quo in China.

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