neier53_Vyacheslav ProkofyevTASS via Getty Images_lyudmila alexeyva Vyacheslav Prokofyev/TASS via Getty Images

Ein Leben für die Menschenrechte

NEW YORK – In ihren 1993 erschienenen Memoiren The Thaw Generation: Coming of Age in the Post-Stalin Era verwies Ljudmila Alexejewa auf den Umstand, dass es im Russischen keine gute Entsprechung für den Begriff „Dissident“ gibt. Stattdessen wurde manchmal ein Wort verwendet, das man als „Andersdenkende“ übersetzen könnte. Mit der Zeit griff die sowjetische Presse den englischen Begriff auf und verwendete die Bezeichnung Disidenty. Alexejewa, die in diesem Monat im Alter von 91 Jahren verstarb, fiel mit Sicherheit in diese Kategorie.  

Als ausgebildete Historikerin war Alexejewa weithin als die führende russische Verfechterin der Menschenrechte anerkannt. Im Jahr 1976, 20 Jahre nach Nikita ChruschtschowsGeheimrede” in der er Stalins Verbrechen verurteilte, befand sich Alexejewa unter den Gründern der Moskauer Helsinki-Gruppe, die die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki durch die Sowjetunion überwachte. Diese Beschlüsse waren im Jahr davor von 35 europäischen und nordamerikanischen Regierungen gefasst worden. 

Das Ziel der Schlussakte, die im Wesentlichen auf Initiative der Sowjetunion zustande kam, bestand in der Verbesserung der Beziehungen zwischen den Gegnern des Kalten Krieges – und für den damaligen sowjetischen Staatschef Leonid Breschnew in der formellen internationalen Anerkennung nationaler Grenzen nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Sowjets waren derart erpicht auf ein Abkommen, dass sie Bestimmungen akzeptierten, die – damals kaum beachtet – die bedeutendsten internationalen Menschenrechtsnormen nach dem Zweiten Weltkrieg enthielten. Durch die Verabschiedung der Schlussakte von Helsinki stimmte die Sowjetunion im Grunde der  Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte aus dem Jahr 1948 zu, der man zuvor die Unterstützung verweigert hatte.

Breschnew war so erfreut über die Annahme der Schlussakte von Helsinki, dass er den Text in ganzer Länge in der offiziellen kommunistischen Parteizeitung Prawda veröffentlichen ließ. Auf diesem Wege wurden Alexejewa und ihre Disidenty-Gefährten auf die Bestimmungen über Menschenrechte in der Schlussakte aufmerksam. Daher gründeten sie die Moskauer Helsinki-Gruppe, um die Einhaltung der Bestimmungen durch die russische Regierung zu überwachen und Verstöße zu melden.

Die winzige Organisation war von außerordentlicher historischer Bedeutung. Laut Robert Gates, der 1991 – mitten im Todeskampf der Sowjetunion – CIA-Direktor wurde, haben diejenigen, die die Einhaltung der Schlussakte von Helsinki überwachten möglicherweise mehr zum Untergang des Sowjetimperiums beigetragen als die CIA selbst.

Freilich nahm der Kreml die Aktionen der Moskauer Helsinki-Gruppe nicht auf die leichte Schulter. Mitglieder der Gruppe – darunter auch ihr Vorsitzender, der Physiker Juri Orlow - wurden inhaftiert. Alexejewa wurde vor die Wahl gestellt, ins Gefängnis oder ins Exil zu gehen. Sie entschied sich für das Exil in den Vereinigten Staaten, wo sie weiterhin eine bedeutende Rolle bei der Verteidigung der Menschenrechte in der Sowjetunion spielte.

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Einige meiner Kollegen und ich reagierten damals auf die Inhaftierung der Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe sowie auch anderer Disidenty mit der Gründung von Helsinki Watch, einer in den USA ansässigen Organisation, deren Ziel die Freilassung dieser Personen war. Alexejewa war für unsere Bemühungen von unschätzbarem Wert, da sie uns detaillierte und verlässliche Informationen darüber lieferte, was mit ihren Kameraden geschah. 

Im Lauf des darauf folgenden Jahrzehnts, als sich Helsinki Watch zur weltweit anerkannten Organisation Human Rights Watch entwickelte, trug Alexejewas Mitwirkung weiterhin Früchte. Als Historikerin war sie einer korrekten Faktenlage verpflichtet und stellte sicher, dass wir über ausreichend Zusammenhänge verfügten. Ihr Ansatz hat die Untersuchungsmethoden von Human Rights Watch mitgeprägt, die sich als unabdingbar für unsere Reputation erwiesen, nicht nur rasch, sondern auch angemessen und auf Grundlage präziser Informationen auf Entwicklungen zu reagieren. Als Chef der jungen Organisation Human Rights Watch war ich in hohem Maße auf Alexejewa angewiesen, mit der ich mich auch persönlich befreundete.  

In den späten 1980er Jahren, als Michail Gorbatschow begann, Disidenty aus dem Gefängnis zu entlassen, kehrte Alexejewa nach Moskau zurück, wo sie der Moskauer Helsinki-Gruppe neues Leben einhauchte, die nämlich 1982 gezwungen gewesen war, ihre Aktivitäten auszusetzen, weil sich beinahe alle Mitglieder im Gefängnis oder im Exil befanden. Seit der Wiederaufnahme der Aktivitäten hat sich die Organisation immer wieder mit der russischen Regierung angelegt und bot unter anderem auch dem immer despotischer agierenden Wladimir Putin die Stirn.

Unter Putin bleibt die Herausforderung der Wahrung von Menschenrechten in Russland weiterhin akut. Der Kreml hat einigen ausländischen Geldgebern, darunter auch den Open Society Foundations, verboten, in Russland Fördergelder zu vergeben und überdies eine Bestimmung eingeführt, wonach Organisationen, die Mittel aus dem Ausland erhalten, sich als „ausländische Agenten“ – also im Wesentlichen als Spione - deklarieren müssen.

Derartige Vorgehensweisen haben die Moskauer Helsinki-Gruppe hart getroffen, weil man gezwungen war, auf einen großen Teil der finanziellen Mittel und damit auch auf Mitarbeiter zu verzichten. Dennoch besteht die Gruppe weiter.

Obwohl Alexejewa Kritik an Putin übte, zollte ihr dieser widerwillig Respekt, womöglich, weil er sie als russische Patriotin betrachtete. Einmal fiel Putins jährliches Treffen mit führenden Menschenrechtsaktivisten mit Alexejewas Geburtstag zusammen und er überreichte ihr einen Blumenstrauß. Außerdem gratulierte er ihr ein weiteres Mal zu ihrem 90. Geburtstag.

Ich bezweifle, dass sich Alexejewa von diesen Gesten stark beeindrucken ließ. Aber sie sind Ausdruck des Respekts, den sie anderen abnötigte und ihres Bekenntnisses zu gesitteten Umgangsformen, auch wenn sie es mit ihren Gegnern zu tun hatte. Sie wusste, wofür sie stand und das wissen auch die vielen Menschen, die von ihren unermüdlichen Bemühungen zum Schutz der Menschenrechte profitierten.  

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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