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Die finanziellen Risiken von Frankreichs vorgezogenen Neuwahlen

LONDON – Als der frühere französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing in den 1960er-Jahren Finanzminister war, bezeichnete er den Status der USA als Emittent der Weltreservewährung als ein „exorbitantes Privileg“. Diese Bezeichnung trifft aber auch auf die Position seines Landes in der Europäischen Währungsunion zu. Trotz stetig steigender Haushaltsdefizite konnte sich Frankreich lange Zeit fast so günstig verschulden wie das fiskalisch vernünftige Deutschland. Selbst die Herabstufung der französischen Staatsschulden durch S&P Ende letzten Monats wurde vom Anleihemarkt gelassen hingenommen, so dass der Eindruck entstand, Frankreich sei in gewisser Weise immun gegen die übliche Kreditdisziplin. Doch dann mischte sich die Politik ein.

Nachdem die französische extreme Rechte bei den Wahlen zum Europäischen Parlament in diesem Monat einen starken Zulauf erhalten hatte, reagierten die Märkte ausgesprochen negativ auf die abrupte Entscheidung von Präsident Emmanuel Macron, die Nationalversammlung aufzulösen und eine vorgezogene Neuwahl auszurufen. Möglicherweise unterschätzen die Anleger jetzt aber die Widerstandsfähigkeit des exorbitanten französischen Privilegs.

Der Grundstein für dieses Privileg wurde 1992 mit dem Vertrag von Maastricht gelegt, der eine Währungsunion ohne Fiskalunion schuf. Dieses System erforderte eine „No-Bailout“-Regel, um zu verhindern, dass verschwenderische Länder die fiskalisch verantwortungsvolleren Mitglieder ausnutzen. Doch die Eurokrise von 2010-2012 offenbarte den fatalen Fehler dieses Konzepts: Wenn das Verbot von Rettungsaktionen bedeutete, dass die Europäische Zentralbank nicht als Kreditgeber der letzten Instanz fungieren konnte, würde dies die Währungsunion und damit das gesamte europäische Projekt gefährden.

Der Kompromiss basierte auf einer Fiskalregel. Die EZB war bereit, in unbegrenztem Umfang Anleihen der Mitgliedstaaten der Eurozone aufzukaufen, sofern deren Haushaltspläne den von der Europäischen Kommission festgelegten und durchgesetzten Haushaltsregeln entsprachen. Unterdessen blieben die Brüsseler Fiskalhüter gegenüber den französischen Regierungen sehr nachsichtig. Die Krisen in den kleineren Peripherieländern und dann in Italien waren alarmierend genug. Das Letzte, was sie wollten, war ein ähnlicher Konflikt mit Frankreich, dem Eckpfeiler des gesamten europäischen Gefüges. Also haben sie sich etwas einfallen lassen.

Als Strafe für die systematische Missachtung der Fiskalregeln würde Frankreich auf eine schwarze Liste gesetzt. Nach Maßgabe des Verfahrens bei einem übermäßigen Defizit (VÜD) der EU würde die französische Regierung versprechen, den Haushalt zu straffen, und die Kommission würde sich zufrieden erklären. Die EZB hätte dann die politische Rückendeckung, französische Staatsanleihen zu kaufen (wenn nötig), was dazu führte, dass die Märkte französische Staatsanleihen fast so hoch bewerteten wie deutsche Bundesanleihen, obwohl sich die französische Haushaltslage nicht wirklich verbessert hatte.

Diese Scharade war nicht nötig, als die Haushaltsregeln der Eurozone als Reaktion auf die COVID-19-Pandemie ausgesetzt wurden. Doch nun sind die Regeln (mit einigen Änderungen) wieder in Kraft, und das französische Haushaltsdefizit ist mit 5,1 % des BIP weiter denn je von der 3 %-Schwelle entfernt. Schon vor dem jüngsten politischen Schock wurde erwartet, dass der Tanz zwischen Paris und Brüssel heikler als üblich sein würde. Frankreich musste sich verpflichten, das Defizit um vielleicht einen halben Prozentpunkt des BIP zu senken, und selbst diese moderate Anpassung hätte ein Misstrauensvotum gegen Macrons Regierung in der Nationalversammlung auslösen können, wo seine Partei bei den Wahlen 2022 ihre Mehrheit verloren hatte.

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Nun, zwei Jahre später, könnten die vorgezogenen Neuwahlen Macrons lahme Mitte-Regierung durch eine Regierung ersetzen, die von Parteien geführt wird, die in ihren Wahlkampagnen jeden Anschein von Haushaltsdisziplin aufgegeben haben. Sowohl die Europawahlen als auch die jüngsten Umfragen deuten darauf hin, dass die größte Herausforderung von Marine Le Pens Rassemblement National und den mit ihr verbündeten rechten Parteien ausgeht. Die Finanzmärkte reagieren bereits so, wie sie es taten, als Le Pen 2017 zum ersten Mal einen glaubwürdigen Versuch unternahm, an die Macht zu kommen.

Damals versprach Le Pen, den Euro aufzugeben und den französischen Franc wieder einzuführen, was einen systemischen Finanzschock ausgelöst hätte. Obwohl sie die Idee eines Austritts aus der Eurozone später fallen ließ, verunsicherte sie die Märkte, als sie 2022 erneut für das Präsidentenamt kandidierte. Es ist keine Überraschung, dass die Märkte erneut verunsichert sind.

Sollten der Rassemblement National und seine Verbündeten die Wahl gewinnen, wird Le Pen jedoch kein Interesse daran haben, die exorbitanten Privilegien des Landes in der Eurozone zu zerstören. Im Gegenteil, sie wird alles daran setzen, dieses Privileg auszunutzen, um sich den Weg zur Präsidentschaft im Jahr 2027 zu ebnen. Aus diesem Grund hat ihr designierter Premierminister, der charismatische 28-jährige Jordan Bardella, bereits einen Rückzieher beim fiskalisch kostspieligsten Wahlversprechen der Partei gemacht: der Rücknahme der Erhöhung des Renteneintrittsalters (von 62 auf 64 Jahre), die Macron im vergangenen Jahr gegen öffentliche Proteste durchgesetzt hatte.

Im Falle einer rechten Regierung (die in „Kohabitation“ mit Macron regieren würde) würde ich daher erwarten, dass die alte finanzpolitische Farce gegenüber Brüssel wiederholt wird, wenn auch mit einer aggressiveren Rhetorik, die die Märkte weiter verunsichern würde. Das Gleiche gilt für eine linke Regierung, die auf der Grundlage einer aggressiven Steuer- und Ausgabenpolitik gewählt wird, da die Einnahmen aus höheren Steuern die europäische Steuerpolizei zufriedenstellen dürften.

Das Ergebnis, das die Befürchtungen des Marktes am besten rechtfertigen würde, wäre ein Patt. Wenn die rechten und linken Bündnisse jeweils rund 200 Sitze gewinnen, während Macrons zentristischer Block von 250 auf höchstens 150 Sitze schrumpft, wäre es äußerst schwierig, irgendeine Regierung zu bilden, ganz zu schweigen von einer stabilen. Obwohl jede künftige französische Regierung wahrscheinlich den Tanz um den Haushalt wieder aufnehmen wird, gehören immer zwei dazu. Ein anhaltender politischer Stillstand in Paris würde dazu führen, dass Brüssel keine Regierung hätte, mit der es verhandeln könnte, und je länger die politische Hängepartie andauern würde, desto größer wären die finanzielle Instabilität und der Schaden für die europäische Wirtschaft.

Deutsch von Andreas Hubig

https://prosyn.org/R4k9n4zde