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Ein Plädoyer für Zölle auf Kohlenstoff

AVIGNON – Im letzten Januar schlugen 3.554 US-Ökonomen – darunter 27 Nobelpreisträger, vier ehemalige Vorsitzende der Federal Reserve und zwei ehemalige Finanzminister – eine Maßnahme vor, die bis dahin als Ketzerei gegolten hätte: Die Vereinigten Staaten, sagten sie, sollten Kohlenstoff im Inland einen Preis geben und dies mit einem „Kohlenstoffanpassungssystem an den Grenzen“ kombinieren. Indem sie auf diese Weise Zölle vorschlugen, die in der Größenordnung der Kohlenstoffintensität wichtiger Importe liegen, traten sie der orthodoxen marktliberalen Meinung entgegen, die nationale Umweltpolitik solle sich nicht in die weltweite Liberalisierung des Handels einmischen.

Dies war genau der richtige Vorschlag. Bislang verhindern die Sorgen über die industrielle „Wettbewerbsfähigkeit“ wichtige Maßnahmen gegen den Klimawandel. Dies könnte durch Kohlenstoffzölle beendet werden.

Das grundlegende Hindernis für eine Dekarbonisierung besteht in dem offensichtlichen Paradox, dass ihre Kosten auf der Konsumentenebene letztlich zwar trivial, aber auf der Ebene der einzelnen Unternehmen ziemlich hoch sind. Wie der jüngste Mission Possible-Bericht der Energiewendekommission betont, sind die Technologien, um bis etwa 2050-2060 die vollständige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft zu erreichen, heute bereits vorhanden – und dies, ohne den Lebensstandard der Menschen erheblich zu beeinflussen. Würde der gesamte in den Automobilfabriken verbaute Stahl kohlenstofffrei hergestellt, würde sich ein typisches Auto um weniger als 1% verteuern. Und die Gesamtkosten zur Dekarbonisierung aller schwer anpassbarer Sektoren – also der Schwerindustrien für Stahl, Zement, Chemie oder des Langstreckentransports (durch Lastwagen-, Flug- und Schiffsverkehr) – würden 0,5% des weltweiten BIP nicht übersteigen. So gesehen gibt es für nationale Politiker keine Entschuldigung dafür, den Fortschritt hin zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft nicht zu beschleunigen.

Aber auf die einzelnen Unternehmen können die Kosten der Dekarbonisierung durchaus abschreckend wirken. Wird Stahl ohne die Verwendung von Kohlenstoff hergestellt, könnte dies die Kosten der Gesamtproduktion um 20% erhöhen, und eine kohlenstofffreie Zementherstellung könnte zu einer Verdopplung der Zementpreise führen. Also wäre es möglich, dass Stahl- oder Zementunternehmen, die sich zu Nullemissionen verpflichtet haben oder durch Regeln oder Kohlenstoffpreise dazu gezwungen werden, aus dem Geschäft gedrängt werden, wenn es ihren Wettbewerbern nicht ähnlich geht.

Dieses Dilemma hat bislang verhindert, dass zur Förderung der Dekarbonisierung explizite Kohlenstoffpreise eingesetzt werden. Fast alle Ökonomen, die auf die Klimawissenschaft hören, sind der Meinung, um auf das Klimaproblem politisch optimal reagieren zu können, seien Steuern auf Kohlenstoff oder Preise innerhalb eines Emissionshandelssystems erforderlich. Aber dort, wo solche theoretisch erwünschten Maßnahmen bereits umgesetzt wurden – beispielsweise innerhalb des europäischen Emissionshandelssystems – haben die Kohlenstoffpreise bei der Förderung der Dekarbonisierung eine weniger wichtige Rolle gespielt als Regulierungen oder direkte Subventionen erneuerbarer Energien. Der Grund dafür liegt entweder darin, dass die Preise für Kohlenstoff zu niedrig waren, um wirksam zu sein, oder darin, dass die energieintensivsten Schwerindustrien von den Regeln ausgenommen wurden. Dass diese Maßnahmen so schwach sind, liegt an der Sorge, höhere Kohlenstoffpreise und weniger Ausnahmen könnten die Wettbewerbsfähigkeit der heimischen Industrie gegenüber Importen aus Ländern ohne solche Maßnahmen schwächen.

Die offensichtliche Antwort darauf ist, in einem Land oder in einer Zollunion mehrerer Länder auf kohlenstoffintensive Importe entsprechende Zölle pro Tonne Kohlenstoffäquivalent zu erheben – und gleichzeitig Steuererleichterungen für Exporteure einzuführen. Vor zehn Jahren, als ich Vorsitzender des britischen Klimawandelkomitees war, haben wir über diese Möglichkeit diskutiert. Aber sie stieß auf eine Mauer der Ablehnung. Solche Maßnahmen, hieß es, verletzten die WTO-Regeln, seien prinzipiell unerwünscht und würden Vergeltungszölle auslösen, die die jeweiligen Länder durch beliebige umweltpolitische Prioritäten rechtfertigen könnten.

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Seitdem haben wir erfolgreich andere Hebel in Bewegung gesetzt, um die großflächige Bereitstellung erneuerbarer Energiesysteme zu fördern, was zu dramatisch sinkenden Kosten geführt hat. Aber es gibt eine große Vielzahl möglichen Wege zur Dekarbonisierung, und unterschiedliche Wege sind unter unterschiedlichen Umständen optimal. Daher müssen in den industriellen Sektoren Preismechanismen verwendet werden, um eine marktgetriebene Suche nach möglichst kostengünstigen Lösungen in Gang zu bringen. Und um dies zu tun, müssen wir das Problem der Wettbewerbsfähigkeit lösen.

Dies ist der Grund, warum sich der Mission-Possible-Bericht der Energiewendekommission dafür einsetzt, die Kohlenstoffanpassung an den Grenzen (also Zölle auf Kohlenstoff) in den Werkzeugkasten der Politiker aufzunehmen, und warum dies von so vielen führenden US-Ökonomen unterstützt wird. Diese setzen sich nun für eine Kohlenstoffbepreisung innerhalb der USA ein – gemeinsam mit Grenzanpassungen für den Kohlenstoffgehalt der Importe und Exporte. Solch ein Programm „würde die amerikanische Wettbewerbsfähigkeit schützen und Trittbrettfahrer aus anderen Staaten bestrafen.“

Aber obwohl die Ökonomen ihre Argumentation in einer Sprache vorbringen, die in den USA gut ankommen soll, kann diese Maßnahme ebenso gut auf andere Länder übertragen werden, die ihre Industrien gegen kohlenstoffintensive Importe aus Amerika verteidigen wollen – falls die USA ihrerseits als Trittbrettfahrer gegen den Klimaschutz auftreten sollten.

Länder, die sich zu einer Lösung des Klimaproblems verpflichtet fühlen, sollten diesen Vorschlag keinesfalls als Bedrohung ihrer Wirtschaft sehen. Nehmen wir an, ein Land führt eine Steuer von 50 Dollar pro Tonne Kohlendioxid ein, belegt seine Importe mit entsprechenden Zöllen und gibt seinen Exporteuren Steuererleichterungen. Dann würde sich die Industrie eines anderen Landes, das sich ebenso verhält, in genau derselben relativen Wettbewerbsposition zum ersten Land befinden wie vor der Einführung dieser Maßnahmen. Aber die Unternehmen in beiden Ländern könnten nun mit einem effektiven Kohlenstoffpreis belegt werden.

Globale politische Einigungen über die Preisfindung für Kohlenstoff haben sich als schwierig erwiesen. Kohlenstoffzölle könnten dabei eine Welle unabhängiger nationaler Entscheidungen auslösen, die zu einem positiven „Wettrennen“ führen, im Zuge dessen sich ähnlich hohe Kohlenstoffpreise um die ganze Welt verbreiten.

Manchmal muss man intellektuelle Tabus loslassen. Die Kohlenstoffanpassung an den Grenzen ist eine Idee, deren Zeit gekommen ist. Sie könnte ein entscheidendes Werkzeug hin zu einer kohlenstofffreien Wirtschaft darstellen – einer Wirtschaftsform, die technologisch und wirtschaftlich bereits Mitte dieses Jahrhunderts möglich ist.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/L55xAGEde