ratti12_Samuel BoivinNurPhoto via Getty Images_bicycles rue de rivoli Samuel Boivin/NurPhoto via Getty Images

Haben sich Städte erledigt?

PARIS – Die Rue de Rivoli, ein Boulevard, der sich durch das Zentrum von Paris zieht, wurde nach und nach angelegt. Im Jahr 1802 stieß Napoleon Bonaparte nach jahrelanger Planung und Debatte den Bau an, doch nach der Abdankung des Kaisers 1814 kamen die Arbeiten zum Stillstand. Der Boulevard blieb ein Torso bis ein weiterer militärisch orientierter Machthaber, Napoleon III., das Projekt in den 1850er Jahren vollendete. Im darauffolgenden Jahrhundert wurden erneut Bauarbeiten in Angriff genommen - dieses Mal, um Platz für den Autoverkehr zu schaffen. Doch im vergangenen Frühjahr erlebte die Rue de Rivoli ihre bisher rasanteste Verwandlung.

Da der Verkehr in Paris aufgrund eines Covid-19-Lockdowns stark zurückgegangen war, beschloss Bürgermeisterin Anne Hidalgo am 30. April die gut drei Kilometer lange Straße für Autos zu sperren, um mehr Platz für Fußgänger und Radfahrer zu schaffen. Die Straße erhielt neue Markierungen und so wurde eine Hauptverkehrsader im Zentrum von Paris – an der auch das weltberühmte Louvre-Museum zu finden ist - praktisch über Nacht umgestaltet.

Diese Maßnahmen betrafen jedoch nicht nur die Rue de Rivoli. Lediglich mithilfe von Farbe und Schraubmarkierungen wurden in den ersten Monaten der Pandemie gut 160 Kilometer Straßen in Paris vorübergehend den Radfahrern zugewiesen - eine Revolution städtischer Neuprogrammierung. Später wurde angekündigt, dass die Änderungen dauerhaft werden würden.

Dieses Beispiel aus Paris verdeutlicht, wie sehr die Pandemie das Tempo der städtischen Innovation beschleunigt hat. Maßnahmen, die zuvor Jahre gedauert hätten wurden innerhalb von Monaten und sogar Wochen erledigt. Abgesehen davon, dass die Pandemie die Mängel in den städtischen Systemen zutage treten ließ – wie etwa den enormen Grad an Luftverschmutzung – ermöglichte sie es den Verantwortungsträgern in den Städten auch, mühselige bürokratische Verfahren abzukürzen und so weit effizienter auf die Bedürfnisse der Menschen und Unternehmen zu reagieren.

Und diese Bedürfnisse ändern sich rasch. Eine der meistdiskutierten Veränderungen betrifft die Trennung von Wohnen und Erwerbsarbeit. In den frühen Tagen der Urbanisierung gingen die Menschen zu Fuß zur Arbeit. Später nutzten sie die öffentlichen Verkehrsmittel. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg und mit dem Aufstieg der Suburbanisierung begannen die Menschen für den Weg vom Wohnort zu ihren Arbeitsstätten in riesigen Fabriken und Bürotürmen ihr Auto zu nehmen.

Im Lauf der Pandemie ist Telearbeit in vielen Branchen zur Regel geworden - und zahlreiche Unternehmen planen, dies zumindest weitgehend beizubehalten. Diese Reintegration von Erwerbsarbeit und Wohnen bedroht eines der letzten Überbleibsel des Industriezeitalters: nämlich die in den Zentren der Städte gelegenen Geschäftsviertel, wo Büroangestellte in Hochhäusern übereinander gestapelt arbeiten.

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Da viele Beschäftigte wohl nicht mehr an ihre Schreibtische in den Großraumbüros zurückkehren werden, könnten alte Bürotürme nach der Pandemie in dringend benötigte bezahlbare Wohnungen umgewandelt werden. So wäre es möglich, eindimensionale Geschäftsviertel zu lebendigen Nachbarschaften werden zu lassen.

Auch nicht-berufliche Aktivitäten erfuhren eine Änderung. Essen in Restaurants, Unterhaltung und Sport haben sich zunehmend ins Freie verlagert und nehmen Raum ein, der früher den Autos vorbehalten war. Wie im Fall der Radwege in Paris schafft die Pandemie Prototypen einer permanent post-automobilen, menschenzentrierten Stadt. Tatsächlich sind die Veränderungen in Paris Teil eines umfassenderen Plans zur Schaffung einer „15-Minuten-Stadt“ (ville du quart d'heure), in der die wichtigsten Aktivitäten des täglichen Lebens - wie Arbeiten, Lernen und Einkaufen –  an Orten erledigt werden, die nur wenige Schritte zu Fuß oder eine kurze Strecke mit dem Rad vom Wohnort entfernt liegen. 

Die Pandemie hat Städte also keineswegs obsolet werden lassen, wie von mancher Seite schon früh prognostiziert wurde, sondern ein noch breiteres Potential für eine Wiedererschaffung freigesetzt –  und somit eine vom Ökonomen  Joseph Schumpeter bekanntermaßen als „kreative Zerstörung“ bezeichnete Entwicklung auf städtischer Ebene in Gang gesetzt. Die Krise ließ den Regierungen kaum eine andere Wahl, als einen raschen Ansatz von Versuch und Irrtum zu wählen. Die außergewöhnlichen Innovationen in den Bereichen Fußgängerzonen, erschwinglicher Wohnraum und dynamische Zoneneinteilung, die entstanden sind, unterstreichen die Kraft positiver Rückkopplungsschleifen.

Gleichwohl ist ein Ansatz im Stile Schumpeters grundsätzlich experimentell und selbst die am besten konzipierten Experimente schlagen manchmal fehl. Außerdem sind die Kosten dieser Fehlschläge ungleich verteilt: am meisten leiden tendenziell jene Menschen, die über den geringsten Einfluss verfügen. Die Covid-19-Pandemie beispielsweise hat die Armen und Schwachen unverhältnismäßig stark getroffen.

In diesem neuen Zeitalter der städtischen Innovation müssen die Verantwortlichen sehr darauf achten, die Risiken für benachteiligte und gefährdete Gruppen zu minimieren und die Vorteile in deren Richtung umzuverteilen. Das bedeutet in erster Linie, ihnen zuzuhören. Die Black-Lives-Matter-Bewegung in den Vereinigten Staaten ist ein eindringliches Beispiel für eine Gruppe von Benachteiligten, die sich Gehör verschaffen wollen. Die politischen Führungen sollten überall ihre Aufmerksamkeit darauf lenken und Spaltungen entlang ethnischer Bruchlinien oder zwischen verschiedenen Bevölkerungsschichten direkt angehen.  Die Gestaltung der Stadt ist ein Herzstück jeder derartigen Strategie.

Um diesen Prozess zu unterstützen - und um die Flexibilität und Geschwindigkeit der städtischen Innovation nach der Pandemie zu bewahren - sollten die Verantwortlichen die Schaffung partizipativer digitaler Plattformen in Betracht ziehen, die es den Bewohnern ermöglichen, ihre Bedürfnisse zu kommunizieren. Dies könnte eine Politik fördern, die die Lebensqualität in den Städten - insbesondere in benachteiligten Vierteln - verbessert, auch indem problematischen Trends wie steigender Umweltverschmutzung und Gentrifizierung Einhalt geboten werden. Nur mit einem rasch umsetzbaren und inklusiven Ansatz wird es uns gelingen, diese Jahrhundertchance zu ergreifen - oder besser gesagt, unserer dringenden Verpflichtung nachzukommen – und einen Wiederaufbau im Sinne des „Build back better“ zu schaffen.

Ein Spaziergang entlang der Rue de Rivoli heute hat nichts mehr von der Trostlosigkeit und Tristesse, wie wir sie in den Straßen der Stadt während der Pandemie gewohnt waren. Stattdessen wird der Boulevard von Mundschutz tragenden Parisern bevölkert, die auf Fahrrädern, Rollern, E-Bikes und Rollerblades dahinsausen oder in Cafés und Restaurants auf einen Kaffee verweilen. Eine durch die Pandemie leblos gewordene Straße wurde wiederbelebt. Mit durchdachter Planung, mutigen Experimenten und etwas Glück können solche Übergänge in allen Städten der Welt ein neuer Anfang sein.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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