SALZBURG – Im Jahr 2009, als die Weltwirtschaft immer noch unter dem Einfluss der globalen Finanzkrise stand, beobachtete der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas, alle seien nun „Keynesianer im Fuchsbau“. Damit meinte er, bei schweren wirtschaftlichen Schocks müssten die konventionellen fiskalpolitischen Normen einer Stabilisierung weichen.
Die orthodoxe Ablehnung hoher öffentlicher Verschuldung geht aus der altehrwürdigen Doktrin des „crowding out“ hervor, die davon ausgeht, dass eine gut regierte Privatwirtschaft alle verfügbaren Ressourcen nutzt. Dabei wird auch angenommen, dass öffentliche Investitionen, die statt auf Marktindikatoren auf willkürlichen Entscheidungen beruhen, generell weniger effizient sind als Privatinvestitionen – und damit geringere oder gar negative Renditen erzielen. Entsprechend einer solchen Logik sollte es für die Fiskalpolitik immer an erster Stelle stehen, die Staatsschulden zu verringern.
Im Zuge dessen, dass die neoklassische Ökonomie seit den 1970ern wieder im Aufwind ist, ist dieser keynesianische Kompromiss allerdings massiv unter die Räder gekommen, was die heutigen Wirtschaftspolitiker vor ein Dilemma stellt: Die Regierungen wollen teure Projekte gegen globale Herausforderungen wie den Klimawandel starten, aber dabei werden sie von einen ökonomischen Dogma behindert, laut dem solche Investitionen unvermeidlich Ressourcen in weniger effiziente Bahnen lenken oder die Inflation anheizen. Wenn in einer Volkswirtschaft bereits Vollbeschäftigung herrscht, so die Theorie, kann sie nicht gleichzeitig mehr Waffen und mehr Butter herstellen.
Nehmen wir US-Präsident Joe Bidens (falsch benanntes) Inflationsverringerungsgesetz (Inflation Reduction Act, IRA): In seinem Kern stehen Investitionen in Höhe von 369 Milliarden Dollar zum Kampf gegen den Klimawandel und für eine sichere Energieversorgung. Um den Haushalt auszugleichen, werden allerdings in den nächsten zehn Jahren zusätzliche 739 Milliarden Dollar an Einnahmen veranschlagt, die aus höheren Unternehmenssteuern und der Preisreform verschreibungspflichtiger Medikamente stammen sollen.
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Die politische Strategie, die hinter dem IRA steckt, ist offensichtlich: Die geplanten Ausgaben entsprechen grundlegenden umweltpolitischen Zielen, während die prognostizierten Steuererhöhungen dazu dienen, fiskalpolitische Falken milde zu stimmen. Letztlich ist das Gesetz eine als Sparprogramm verkleidete Haushaltsexpansion.
Im Kern basiert dieses Paket auf einer guten Idee, die als budgetneutraler Multiplikator bekannt ist: Sie besteht darin, dass zusätzliche Staatsausgaben in einer Volkswirtschaft mehr Nachfrage erzeugen, als ihr durch eine gleich hohe Steuererhöhung entzogen wird, da ein Teil des durch die Steuern umgeleiteten Geldes nicht ausgegeben, sondern gespart worden wäre. Dies ist eine entscheidende Antwort auf die simple These des „crowding out“. Aber der „budgetneutrale Multiplikator“ ist ein Zaubertrick, der sich nicht zu seinem keynesianischen Ursprung bekennen darf.
Die Europäer sind von solchen gefährlichen Gedanken sogar noch weiter entfernt. Die Aufbau- und Resilienzfazilität, die 2021 in der Europäischen Union eingeführt wurde, um die EU-Volkswirtschaften beim Umgang mit den Folgen der COVID-19-Pandemie zu unterstützen, ist letztlich ein Schuldenfinanzierungsprogramm, dessen Rückzahlungslast von den zukünftigen Steuerzahlern getragen werden muss.
Und als die britische Schattenkanzlerin Rachel Reeves den neuen Plan der Labour-Partei vorstellte, jährlich zusätzliche 28 Milliarden Pfund (33 Milliarden Euro) für grüne Investitionen auszugeben, betonte sie, dass dabei die „fiskalen Regeln“ beachtet werden müssen. Der Plan, so behauptete sie, würde „die Ausgaben des Tagesgeschäfts mithilfe von Steuereinnahmen“ bezahlen und die Verschuldungsquote des Landes verringern. Aber wie dies durch die zusätzlichen Ausgaben erreicht werden sollte, sagte sie nicht.
Mit dem Niedergang des keynesianischen Interventionismus sind die heutigen politischen Diskussionen wieder zu einem traditionellen Patt zurückgekehrt: dem zwischen einer marktwirtschaftlichen Angebotspolitik und einem ebenfalls angebotsorientierten Ansatz, der aber in der Industriepolitik wurzelt. Dies erinnert an die kapitalistisch-sozialistische Spaltung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wie heute ging es in der ökonomische Debatte darum, ob Wohlstand und dessen faire Verteilung besser durch private oder öffentliche Ausgaben gewährleistet werden kann.
Dieses mikroökonomische Dilemma wurde von der keynesianischen Revolution umschifft, die ein neues Konzept, die Makroökonomie, einführte, bei dem es nicht so sehr um die Insuffizienz des Angebots ging, sondern eher um diejenige der Nachfrage. Genau dies ist es, was in der heutigen wirtschaftspolitischen Debatte fehlt. Dementsprechend wird angenommen, das Engagement für öffentliche Investitionen sei schädlich und müsse von Fiskalregeln begleitet werden. Politiker müssen überzeugend darstellen, dass ihre industriepolitischen Vorschläge Wachstum und Beschäftigung steigern – und gleichzeitig ihre eigenen Haushaltsprinzipien nicht verletzen.
Der beunruhigendste Aspekt dessen, was Reeves „Securonomics“ nennt, ist, dass sie in einer Art kriegerischem Rahmen stattfindet – mit der Andeutung, Großbritannien und andere Länder sollten nur mit Verbündeten Handel treiben und alle anderen Produktionsleistungen ins Land zurückholen. Die inhärent protektionistische Natur der heutigen Industriepolitik sollte der Linken zu denken geben.
Dass weiter über die Zukunft des Kapitalismus debattiert wird, ist zweifellos wichtig. Die wirtschaftlichen Schocks der letzten zwei Jahrzehnte waren keine Zufälle, sondern die Folge eines grundlegend fehlerhaften und korrumptierten Systems. Verengt man die politische Debatte allerdings auf eine binäre Entscheidung zwischen Marktfundamentalismus und Protektionismus, übersieht man die Möglichkeit konstruktiver politischer Führung. Bevor wir den kapitalistisch-sozialistischen Konflikt als unvermeidlich akzeptieren, wäre es klug, dem Keynesianismus eine weitere Chance zu geben.
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For decades, an efficiency-centered “economic style” has dominated public policy, overriding the concerns for fairness that animated the New Deal and Lyndon B. Johnson’s Great Society. Now, Americans must brace for economic governance that delivers neither efficiency nor fairness, only chaos.
highlights the high cost of the single-minded focus on efficiency that has come to dominate the discipline.
While some observers doubt that US President-elect Donald Trump poses a grave threat to US democracy, others are bracing themselves for the destruction of the country’s constitutional order. With Trump’s inauguration just around the corner, we asked PS commentators how vulnerable US institutions really are.
SALZBURG – Im Jahr 2009, als die Weltwirtschaft immer noch unter dem Einfluss der globalen Finanzkrise stand, beobachtete der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Lucas, alle seien nun „Keynesianer im Fuchsbau“. Damit meinte er, bei schweren wirtschaftlichen Schocks müssten die konventionellen fiskalpolitischen Normen einer Stabilisierung weichen.
Stellen wir uns das Szenario einer Weltwirtschaftskrise ähnlich der Großen Depression von 1929-32 vor, als die Arbeitslosigkeit auf 20% stieg. Sogar die glühendsten Antikeynesianer würden zustimmen, dass Regierungen, die in einer solchen Lage ihre Staatshaushalte ausgleichen wollen, die Sache nur noch schlimmer machen, indem sie der kollabierenden Wirtschaft noch mehr Kaufkraft entziehen. Daher ist es heute zur orthodoxen Ansicht geworden, dass fiskale Sparmaßnahmen nach einem solchen Schock nur schrittweise eingeführt werden sollten – obwohl sich die Politiker immer noch zum Haushaltsausgleich verpflichten müssen, da dies zur Erholung führt und den Unternehmen das nötige Vertrauen für Investitionen gibt.
Die orthodoxe Ablehnung hoher öffentlicher Verschuldung geht aus der altehrwürdigen Doktrin des „crowding out“ hervor, die davon ausgeht, dass eine gut regierte Privatwirtschaft alle verfügbaren Ressourcen nutzt. Dabei wird auch angenommen, dass öffentliche Investitionen, die statt auf Marktindikatoren auf willkürlichen Entscheidungen beruhen, generell weniger effizient sind als Privatinvestitionen – und damit geringere oder gar negative Renditen erzielen. Entsprechend einer solchen Logik sollte es für die Fiskalpolitik immer an erster Stelle stehen, die Staatsschulden zu verringern.
Die keynesianische Revolution hat die strenge Trennung zwischen öffentlichen und privaten Ausgaben allerdings in Frage gestellt. Wachstum und Beschäftigung hängen laut Keynes davon ab, zwei Arten von Verschwendung zu verringern: dass manche Ressourcen nur ineffizient genutzt und dass andere gar nicht genutzt werden. Auch wenn der Kapitalismus den Sozialismus bei der Allokationseffizienz übertroffen hat, verlässt er sich immer noch auf unsichere Gewinnerwartungen, wodurch potenzielle Ressourcen ungenutzt bleiben. Konsequenterweise befindet sich die kapitalistische Wirtschaft typischerweise in einem Zustand unausgenutzter Produktionspotenziale. Um dieses Dilemma zu lösen, hat Keynes einen Kompromiss vorgeschlagen: Aufgrund seiner Effizienzvorteile wollte er das System der freien Marktwirtschaft beibehalten, sprach sich aber gleichzeitig für autonome öffentliche Investitionen aus, um die Vollbeschäftigung zu sichern.
Im Zuge dessen, dass die neoklassische Ökonomie seit den 1970ern wieder im Aufwind ist, ist dieser keynesianische Kompromiss allerdings massiv unter die Räder gekommen, was die heutigen Wirtschaftspolitiker vor ein Dilemma stellt: Die Regierungen wollen teure Projekte gegen globale Herausforderungen wie den Klimawandel starten, aber dabei werden sie von einen ökonomischen Dogma behindert, laut dem solche Investitionen unvermeidlich Ressourcen in weniger effiziente Bahnen lenken oder die Inflation anheizen. Wenn in einer Volkswirtschaft bereits Vollbeschäftigung herrscht, so die Theorie, kann sie nicht gleichzeitig mehr Waffen und mehr Butter herstellen.
Nehmen wir US-Präsident Joe Bidens (falsch benanntes) Inflationsverringerungsgesetz (Inflation Reduction Act, IRA): In seinem Kern stehen Investitionen in Höhe von 369 Milliarden Dollar zum Kampf gegen den Klimawandel und für eine sichere Energieversorgung. Um den Haushalt auszugleichen, werden allerdings in den nächsten zehn Jahren zusätzliche 739 Milliarden Dollar an Einnahmen veranschlagt, die aus höheren Unternehmenssteuern und der Preisreform verschreibungspflichtiger Medikamente stammen sollen.
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Im Kern basiert dieses Paket auf einer guten Idee, die als budgetneutraler Multiplikator bekannt ist: Sie besteht darin, dass zusätzliche Staatsausgaben in einer Volkswirtschaft mehr Nachfrage erzeugen, als ihr durch eine gleich hohe Steuererhöhung entzogen wird, da ein Teil des durch die Steuern umgeleiteten Geldes nicht ausgegeben, sondern gespart worden wäre. Dies ist eine entscheidende Antwort auf die simple These des „crowding out“. Aber der „budgetneutrale Multiplikator“ ist ein Zaubertrick, der sich nicht zu seinem keynesianischen Ursprung bekennen darf.
Die Europäer sind von solchen gefährlichen Gedanken sogar noch weiter entfernt. Die Aufbau- und Resilienzfazilität, die 2021 in der Europäischen Union eingeführt wurde, um die EU-Volkswirtschaften beim Umgang mit den Folgen der COVID-19-Pandemie zu unterstützen, ist letztlich ein Schuldenfinanzierungsprogramm, dessen Rückzahlungslast von den zukünftigen Steuerzahlern getragen werden muss.
Und als die britische Schattenkanzlerin Rachel Reeves den neuen Plan der Labour-Partei vorstellte, jährlich zusätzliche 28 Milliarden Pfund (33 Milliarden Euro) für grüne Investitionen auszugeben, betonte sie, dass dabei die „fiskalen Regeln“ beachtet werden müssen. Der Plan, so behauptete sie, würde „die Ausgaben des Tagesgeschäfts mithilfe von Steuereinnahmen“ bezahlen und die Verschuldungsquote des Landes verringern. Aber wie dies durch die zusätzlichen Ausgaben erreicht werden sollte, sagte sie nicht.
Mit dem Niedergang des keynesianischen Interventionismus sind die heutigen politischen Diskussionen wieder zu einem traditionellen Patt zurückgekehrt: dem zwischen einer marktwirtschaftlichen Angebotspolitik und einem ebenfalls angebotsorientierten Ansatz, der aber in der Industriepolitik wurzelt. Dies erinnert an die kapitalistisch-sozialistische Spaltung des frühen zwanzigsten Jahrhunderts. Damals wie heute ging es in der ökonomische Debatte darum, ob Wohlstand und dessen faire Verteilung besser durch private oder öffentliche Ausgaben gewährleistet werden kann.
Dieses mikroökonomische Dilemma wurde von der keynesianischen Revolution umschifft, die ein neues Konzept, die Makroökonomie, einführte, bei dem es nicht so sehr um die Insuffizienz des Angebots ging, sondern eher um diejenige der Nachfrage. Genau dies ist es, was in der heutigen wirtschaftspolitischen Debatte fehlt. Dementsprechend wird angenommen, das Engagement für öffentliche Investitionen sei schädlich und müsse von Fiskalregeln begleitet werden. Politiker müssen überzeugend darstellen, dass ihre industriepolitischen Vorschläge Wachstum und Beschäftigung steigern – und gleichzeitig ihre eigenen Haushaltsprinzipien nicht verletzen.
Der beunruhigendste Aspekt dessen, was Reeves „Securonomics“ nennt, ist, dass sie in einer Art kriegerischem Rahmen stattfindet – mit der Andeutung, Großbritannien und andere Länder sollten nur mit Verbündeten Handel treiben und alle anderen Produktionsleistungen ins Land zurückholen. Die inhärent protektionistische Natur der heutigen Industriepolitik sollte der Linken zu denken geben.
Dass weiter über die Zukunft des Kapitalismus debattiert wird, ist zweifellos wichtig. Die wirtschaftlichen Schocks der letzten zwei Jahrzehnte waren keine Zufälle, sondern die Folge eines grundlegend fehlerhaften und korrumptierten Systems. Verengt man die politische Debatte allerdings auf eine binäre Entscheidung zwischen Marktfundamentalismus und Protektionismus, übersieht man die Möglichkeit konstruktiver politischer Führung. Bevor wir den kapitalistisch-sozialistischen Konflikt als unvermeidlich akzeptieren, wäre es klug, dem Keynesianismus eine weitere Chance zu geben.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff