PARIS – Vor sechs Monaten stand der Westen vor einem Dilemma: Einen Erfolg des russischen Angriffs auf die Ukraine konnte er nicht zulassen, aber auch keine eigenen Truppen einsetzen, um gegen Präsident Wladimir Putins Invasionsarmee zu kämpfen. Also hat er den Widerstand der Ukraine mit Waffen unterstützt und einen eigenen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland begonnen, um das Land massiv zu schwächen. Innerhalb weniger Tage haben die westlichen Mächte ein beispielloses Sanktionspaket verhängt – dessen „Shock-and-Awe“-Effekt den Kreml teuer zu stehen kommen und vielleicht sogar zur Aufgabe zwingen sollte.
Wie der Economistdokumentiert hat, bestehen die Sanktionen aus drei Elementen: Erstens gab es auffällige, aber triviale Maßnahmen wie Reiseverbote und die Beschlagnahme von Jachten und Villen russischer Oligarchen. Zweitens wurden außerordentliche finanzielle Strafmaßnahmen verhängt: Insbesondere wurden die Reserven der russischen Zentralbank eingefroren und ausgewählte russische Geschäftsbanken vom SWIFT-Bankenkommunikationssystem ausgeschlossen. Und drittens trat ein umfassendes Verbot von Technologieexporten nach Russland in Kraft –und westliche multinationale Konzerne wurden unter Druck gesetzt, sich aus dem russischen Markt zurückzuziehen.
Völlig neu waren an diesen Sanktionen die finanziellen Strafmaßnahmen: Seit dem Zweiten Weltkrieg sind solche Maßnahmen nur sehr selten verhängt worden – und wenn, dann gegen relativ unbedeutende Finanzakteure wie den Iran und Venezuela. Auf keine der westlichen Konfrontationen mit der Sowjetunion wurde je derart reagiert. Und sogar nachdem Nazideutschland 1940 einen großen Teil Europas besetzt hatte, dauerte es noch über ein Jahr, bis die deutschen Vermögenswerte in den Vereinigten Staaten eingefroren wurden. Aber als Russland im Februar die Ukraine angriff, reagierte der Westen innerhalb weniger Tage.
So haben die USA, die Europäische Union und Großbritannien ihre Kontrolle über wichtige Finanzinfrastruktur als Waffe eingesetzt – eine Möglichkeit, die Henry Farrell von der Johns Hopkins University und Abraham L. Newman von der Georgetown University in einer Studie von 2019 vorausgesehen hatten. Bisher galten Auslandswährungsreserven als ziemlich unantastbares und unverletzliches Eigentum. Aus diesem Grund haben viele – vor allem asiatische – Länder, nachdem sie Ende der 1990er unter den strengen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds gelitten hatten, solche Reserven aufgebaut.
Globale Währungen, insbesondere der US-Dollar, wurden bislang als eine Art öffentliches Gut betrachtet. Dies galt auch weitgehend für das SWIFT-System. Obwohl es rechtlich gesehen privat ist (eine Genossenschaft unter belgischem Recht), diente es als gemeinschaftliche Marktinfrastruktur und hatte bis Februar dieses Jahres keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Nach der westlichen Reaktion auf Russlands Krieg wurde allerdings klar, dass dies eigentlich bedingte öffentliche Güter sind.
Diese Bedingtheit kann legitim sein, wenn es eine breite Unterstützung dafür gibt, ein Land aufgrund seines unakzeptablen Verhaltens vom Zugang zu einem globalen öffentlichen Gut auszuschließen. Hätte die überwiegende Mehrheit der G20-Staaten zu den Finanzsanktionen gegen Russland eine gemeinsame Position eingenommen, wäre dies der Fall gewesen.
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Aber dies ist nicht geschehen. Bald, nachdem die G7 und Australien finanzielle Sanktionen verkündet hatten, veröffentlichten China, Indien, Indonesien, die Türkei, Argentinien, Brasilien, Mexiko und Südafrika ähnliche Erklärungen darüber, warum sie sich den westlichen Sanktionen nicht anschließen wollten. So wurden die G20 gespalten.
Hätte der Westen eine größere Koalition schmieden können? Dazu hatte er es zu eilig, und China hätte sich sowieso nicht beteiligt. Auf einer tieferen Ebene wurde durch die Selbstbezogenheit und das sprunghafte Verhalten des Westens viel Vertrauen zerstört.
Die andere notwendige Bedingung für erfolgreiche finanzielle Sanktionen ist deren Effektivität. Eine Zeitlang schien der Schock stark genug gewesen zu sein, um die russische Wirtschaft zu destabilisieren. Zunächst brach der Rubel zusammen, die Inflation ging durch die Decke, die Zinsen stiegen und die Produktion ging stark zurück. Sechs Monate später allerdings ist die Lage der russischen Wirtschaft zwar schlecht, aber wahrscheinlich besser, als die meisten Beobachter erwartet haben.
Der Schock, der sich aus dem Einfrieren der russischen Zentralbankguthaben ergab, wurde durch die weiter fließenden Einnahmen aus Öl- und Gasexporten eindeutig ausgeglichen. Der Rabatt auf russisches Öl ist geringer als noch vor drei Monaten. Obwohl die EU – in der Hoffnung, Russland werde weiterhin Energie exportieren – gezögert hat, gasrelevante russische Banken wie die Gazprom-Bank von SWIFT auszuschließen, Ölimporte aus Russland völlig zu verbieten, oder russisches Gas mit Importzöllen zu belegen, hat Putin sein Erdgas in eine wirtschaftliche Waffe verwandelt. Außerdem gab es innerhalb der EU keine Einigkeit: Griechische Reedereien transportieren russisches Öl, der französische Konzern TotalEnergies bohrt immer noch in Sibirien, und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán setzt sich offen gegen Sanktionen ein.
Ob die Sanktionen effektiv sind, ist unter Experten umstritten: Jeffrey Sonnenfeld von der Yale University behauptet, sie würden die russische Wirtschaft lähmen, während Elina Ribakova vom Institute of International Finance glaubt, sie seien zu lückenhaft. Vieles deutet darauf hin, dass sie zwar nicht so effektiv sind wie erwartet, aber dass die Maßnahmen, die Russlands Zugang zu ausländischen Hochtechnologien behindern, langfristig wirksam sind. Mit anderen Worten, die russische Wirtschaft bricht nicht zusammen, aber ihre Wachstumsaussichten sind zurückgegangen und werden weiterhin schwächer.
Dies ist für den Ausgang des westlichen Wirtschaftskriegs kein gutes Zeichen. Da der Erdgaspreis in Europa momentan einem Ölpreis von über 400 Dollar pro Barrel entspricht, wird Russland mit einer Position finanzieller Stärke in den Herbst gehen. Es wird immer offensichtlicher, dass der Kreml die Gaslieferungen in eine gespaltene EU einschränken wird. Langfristig könnte Putin zwar scheitern, aber bevor er den Wirtschaftskrieg verliert, könnte die EU den Finanzkrieg verlieren.
Sollte dies geschehen, hätte der Westen seine Kontrolle über die Geld- und Finanzinfrastruktur der Globalisierung leichtfertig aus der Hand gegeben. Auch wenn Europa und die USA in den Bereichen Produktion, Handel oder gar Technologie nicht mehr weltweit dominieren, sind sie im Geld- und Finanzbereich immer noch konkurrenzlos. Signalisieren sie aber, dass ihre öffentlichen Güter in Wirklichkeit bedingt sind, schwächen sie diese Privilegien und beschleunigen die Suche nach Alternativen. Und verliert der Westen seinen Finanzkrieg gegen Russland, wird deutlich, dass seine finanziellen Sanktionen nicht mehr sind als ein Papiertiger.
Der Westen ist zu weit gegangen, als dass er jetzt noch einen Rückzieher machen könnte. Er hat keine Wahl mehr und muss nun die Feuerprobe bestehen. So wie es bereits Margaret Thatcher dem damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush unmittelbar vor dem Golfkrieg 1990-91 erklärte, ist auch dies keine Zeit zum Einknicken.
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For decades, an efficiency-centered “economic style” has dominated public policy, overriding the concerns for fairness that animated the New Deal and Lyndon B. Johnson’s Great Society. Now, Americans must brace for economic governance that delivers neither efficiency nor fairness, only chaos.
highlights the high cost of the single-minded focus on efficiency that has come to dominate the discipline.
While some observers doubt that US President-elect Donald Trump poses a grave threat to US democracy, others are bracing themselves for the destruction of the country’s constitutional order. With Trump’s inauguration just around the corner, we asked PS commentators how vulnerable US institutions really are.
PARIS – Vor sechs Monaten stand der Westen vor einem Dilemma: Einen Erfolg des russischen Angriffs auf die Ukraine konnte er nicht zulassen, aber auch keine eigenen Truppen einsetzen, um gegen Präsident Wladimir Putins Invasionsarmee zu kämpfen. Also hat er den Widerstand der Ukraine mit Waffen unterstützt und einen eigenen Wirtschafts- und Finanzkrieg gegen Russland begonnen, um das Land massiv zu schwächen. Innerhalb weniger Tage haben die westlichen Mächte ein beispielloses Sanktionspaket verhängt – dessen „Shock-and-Awe“-Effekt den Kreml teuer zu stehen kommen und vielleicht sogar zur Aufgabe zwingen sollte.
Wie der Economistdokumentiert hat, bestehen die Sanktionen aus drei Elementen: Erstens gab es auffällige, aber triviale Maßnahmen wie Reiseverbote und die Beschlagnahme von Jachten und Villen russischer Oligarchen. Zweitens wurden außerordentliche finanzielle Strafmaßnahmen verhängt: Insbesondere wurden die Reserven der russischen Zentralbank eingefroren und ausgewählte russische Geschäftsbanken vom SWIFT-Bankenkommunikationssystem ausgeschlossen. Und drittens trat ein umfassendes Verbot von Technologieexporten nach Russland in Kraft –und westliche multinationale Konzerne wurden unter Druck gesetzt, sich aus dem russischen Markt zurückzuziehen.
Völlig neu waren an diesen Sanktionen die finanziellen Strafmaßnahmen: Seit dem Zweiten Weltkrieg sind solche Maßnahmen nur sehr selten verhängt worden – und wenn, dann gegen relativ unbedeutende Finanzakteure wie den Iran und Venezuela. Auf keine der westlichen Konfrontationen mit der Sowjetunion wurde je derart reagiert. Und sogar nachdem Nazideutschland 1940 einen großen Teil Europas besetzt hatte, dauerte es noch über ein Jahr, bis die deutschen Vermögenswerte in den Vereinigten Staaten eingefroren wurden. Aber als Russland im Februar die Ukraine angriff, reagierte der Westen innerhalb weniger Tage.
So haben die USA, die Europäische Union und Großbritannien ihre Kontrolle über wichtige Finanzinfrastruktur als Waffe eingesetzt – eine Möglichkeit, die Henry Farrell von der Johns Hopkins University und Abraham L. Newman von der Georgetown University in einer Studie von 2019 vorausgesehen hatten. Bisher galten Auslandswährungsreserven als ziemlich unantastbares und unverletzliches Eigentum. Aus diesem Grund haben viele – vor allem asiatische – Länder, nachdem sie Ende der 1990er unter den strengen Bedingungen des Internationalen Währungsfonds gelitten hatten, solche Reserven aufgebaut.
Globale Währungen, insbesondere der US-Dollar, wurden bislang als eine Art öffentliches Gut betrachtet. Dies galt auch weitgehend für das SWIFT-System. Obwohl es rechtlich gesehen privat ist (eine Genossenschaft unter belgischem Recht), diente es als gemeinschaftliche Marktinfrastruktur und hatte bis Februar dieses Jahres keine ernst zu nehmende Konkurrenz. Nach der westlichen Reaktion auf Russlands Krieg wurde allerdings klar, dass dies eigentlich bedingte öffentliche Güter sind.
Diese Bedingtheit kann legitim sein, wenn es eine breite Unterstützung dafür gibt, ein Land aufgrund seines unakzeptablen Verhaltens vom Zugang zu einem globalen öffentlichen Gut auszuschließen. Hätte die überwiegende Mehrheit der G20-Staaten zu den Finanzsanktionen gegen Russland eine gemeinsame Position eingenommen, wäre dies der Fall gewesen.
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Hätte der Westen eine größere Koalition schmieden können? Dazu hatte er es zu eilig, und China hätte sich sowieso nicht beteiligt. Auf einer tieferen Ebene wurde durch die Selbstbezogenheit und das sprunghafte Verhalten des Westens viel Vertrauen zerstört.
Die andere notwendige Bedingung für erfolgreiche finanzielle Sanktionen ist deren Effektivität. Eine Zeitlang schien der Schock stark genug gewesen zu sein, um die russische Wirtschaft zu destabilisieren. Zunächst brach der Rubel zusammen, die Inflation ging durch die Decke, die Zinsen stiegen und die Produktion ging stark zurück. Sechs Monate später allerdings ist die Lage der russischen Wirtschaft zwar schlecht, aber wahrscheinlich besser, als die meisten Beobachter erwartet haben.
Der Schock, der sich aus dem Einfrieren der russischen Zentralbankguthaben ergab, wurde durch die weiter fließenden Einnahmen aus Öl- und Gasexporten eindeutig ausgeglichen. Der Rabatt auf russisches Öl ist geringer als noch vor drei Monaten. Obwohl die EU – in der Hoffnung, Russland werde weiterhin Energie exportieren – gezögert hat, gasrelevante russische Banken wie die Gazprom-Bank von SWIFT auszuschließen, Ölimporte aus Russland völlig zu verbieten, oder russisches Gas mit Importzöllen zu belegen, hat Putin sein Erdgas in eine wirtschaftliche Waffe verwandelt. Außerdem gab es innerhalb der EU keine Einigkeit: Griechische Reedereien transportieren russisches Öl, der französische Konzern TotalEnergies bohrt immer noch in Sibirien, und der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán setzt sich offen gegen Sanktionen ein.
Ob die Sanktionen effektiv sind, ist unter Experten umstritten: Jeffrey Sonnenfeld von der Yale University behauptet, sie würden die russische Wirtschaft lähmen, während Elina Ribakova vom Institute of International Finance glaubt, sie seien zu lückenhaft. Vieles deutet darauf hin, dass sie zwar nicht so effektiv sind wie erwartet, aber dass die Maßnahmen, die Russlands Zugang zu ausländischen Hochtechnologien behindern, langfristig wirksam sind. Mit anderen Worten, die russische Wirtschaft bricht nicht zusammen, aber ihre Wachstumsaussichten sind zurückgegangen und werden weiterhin schwächer.
Dies ist für den Ausgang des westlichen Wirtschaftskriegs kein gutes Zeichen. Da der Erdgaspreis in Europa momentan einem Ölpreis von über 400 Dollar pro Barrel entspricht, wird Russland mit einer Position finanzieller Stärke in den Herbst gehen. Es wird immer offensichtlicher, dass der Kreml die Gaslieferungen in eine gespaltene EU einschränken wird. Langfristig könnte Putin zwar scheitern, aber bevor er den Wirtschaftskrieg verliert, könnte die EU den Finanzkrieg verlieren.
Sollte dies geschehen, hätte der Westen seine Kontrolle über die Geld- und Finanzinfrastruktur der Globalisierung leichtfertig aus der Hand gegeben. Auch wenn Europa und die USA in den Bereichen Produktion, Handel oder gar Technologie nicht mehr weltweit dominieren, sind sie im Geld- und Finanzbereich immer noch konkurrenzlos. Signalisieren sie aber, dass ihre öffentlichen Güter in Wirklichkeit bedingt sind, schwächen sie diese Privilegien und beschleunigen die Suche nach Alternativen. Und verliert der Westen seinen Finanzkrieg gegen Russland, wird deutlich, dass seine finanziellen Sanktionen nicht mehr sind als ein Papiertiger.
Der Westen ist zu weit gegangen, als dass er jetzt noch einen Rückzieher machen könnte. Er hat keine Wahl mehr und muss nun die Feuerprobe bestehen. So wie es bereits Margaret Thatcher dem damaligen US-Präsidenten George H.W. Bush unmittelbar vor dem Golfkrieg 1990-91 erklärte, ist auch dies keine Zeit zum Einknicken.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff