pa3916c.jpg Paul Lachine

Gegen den Strom der gängigen Meinung

CAMBRIDGE – Nach Abschluss meines Studiums im Jahr 1974 hatte ich das enorme Glück, eine Postdoktorandenstelle bei Judah Folkman an der Harvard Medical School antreten zu können. Dr. Folkman vertrat die Theorie, dass das Fortschreiten eines Tumors gestoppt werden könnte, wenn man diesen von seiner Nährstoffversorgung abschneidet. Er behauptete, dass Tumore eine Substanz namens Tumor-Angiogenese-Faktor absondern, die umliegende Blutgefäße anregt, zum Tumor hin zu wachsen, um diesen mit Nährstoffen zu versorgen und Zellabfall abzutransportieren. Folkman stellte die Hypothese auf, dass dieser Prozess, die Angiogenese, entscheidend für das Überleben des Tumors sei.

Diese Theorie stand in krassem Widerspruch zu den damals gängigen Meinungen. Wissenschaftler, die Folkmans Beiträge beurteilten, waren der Ansicht, dass sich die neuen Blutgefäße einfach aufgrund einer Entzündung bildeten. Doch Folkman beharrte auf seiner Theorie und legte schließlich den Beweis vor, dass es derartige chemische Substanzen gab. Heute, vier Jahrzehnte später, sind bereits über 10 Millionen Menschen, die unter neovaskulären Erkrankungen wie Makula-Degeneration oder verschiedenen Krebsformen litten, damit behandelt worden.

Ich machte ähnliche Erfahrungen, als ich in seinem Labor arbeitete, um die ersten Inhibitoren für das Blutgefäßwachstum zu isolieren (Substanzen mit hohem Molekulargewicht). Zu dieser Arbeit gehörte die Entwicklung eines Bioassays, der uns ermöglichen würde, die Hemmung des Blutgefäß-Wachstums im Falle eines Tumors zu beobachten.

Da Tumore mehrere Monate für ihr Wachstum benötigen, mussten biokompatible Systeme entwickelt werden, die im Körper Proteine und andere Substanzen mit hohem Molekulargewicht langsam und beständig freisetzen können – eine Aufgabe, von deren Unmöglichkeit die Wissenschafter überzeugt waren. Doch nach zwei Jahren Forschungsarbeit entdeckte ich, dass man gewisse Arten von Polymeren so modifizieren kann, dass sie in der Lage waren, über einen Zeitraum von 100 Tagen Moleküle fast jeder Größenordnung freizusetzen.

Jahrelang behaupteten viele der renommiertesten Chemiker und Techniker in diesem Fachbereich, dass unsere Arbeiten falsch sein müssten. Diese negativen Rückmeldungen hatten praktische Auswirkungen, indem sie nicht nur meine Bemühungen um Forschungsförderungsgelder, sondern auch meine Suche nach einem Arbeitsplatz auf einer Universität behinderten (vor allem angesichts des interdisziplinären Charakters meiner Arbeit, die nur schwer zu einem einzigen Universitätsinstitut passte). Aber ich blieb dran und widmete mich schrittweise den wichtigsten Fragen – wie Biokompatibilität, Herstellung der Polymere, Reproduzierbarkeit der Freisetzung und Bioaktivität. Heute blicken wir auf über 20 Millionen Patienten, deren Behandlung auf Grundlage dieser Prinzipien erfolgte.

Ein weiteres Gebiet, mit dem ich mich zu beschäftigen begann, war die Herstellung neuer Polymermaterialien. Da ich in einem Krankenhaus arbeitete, bemerkte ich, dass beinahe alle in der Medizin verwendeten Polymere von gewöhnlichen Gegenständen des täglichen Gebrauchs stammten. So werden beispielsweise die in Damenmiedern verwendeten Materialien aufgrund ihrer guten Dauerbiegefestigkeit auch in Kunstherzen eingesetzt. Die in Matratzenfüllungen verwendeten Polymere kommen auch in Brustimplantaten zum Einsatz. Doch ein derartiger Ansatz führt oft zu Problemen. In Kunstherzen bilden sich beispielsweise Blutgerinnsel, wenn das Blut mit der Oberfläche – dem Mieder-Material – in Kontakt kommt. Diese Blutgerinnsel können zu Schlaganfällen und zum Tod führen.

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Daher kam ich zu dem Schluss, dass wir zur Lösung medizinischer Probleme andere Möglichkeiten finden müssten, als die entsprechenden Materialien in Gegenständen des täglichen Lebens zu suchen. Ich war der Meinung, dass Forscher einen Ansatz der konstruktiven Gestaltung wählen sollten: Ausgehend von der Frage „Was wollen wir vom technischen, chemischen und biologischen Standpunkt aus wirklich in einem Biomaterial?“ sollten die Materialien von Grund auf neu synthetisiert werden.

Als Beweis der Machbarkeit beschlossen wir, eine neue Klasse biologisch abbaubarer Polymere namens Polyanhydride für die Anwendung in der Medizin herzustellen. Der erste Schritt bestand in der Auswahl von Monomeren – den Bausteinen eines Polymers – die im menschlichen Körper sicher angewendet werden könnten. Wir stellten diese Polymere anschließend her und entdeckten, dass sie, je nach ihrer Zusammensetzung, über Tage bis Jahre im Körper verbleiben konnten.

Mit Henry Brem, dem heutigen Vorstand der Neurochirurgie am Johns Hopkins Hospital, kamen wir auf die Idee, diese Polymere einzusetzen, um Medikamente lokal zur Behandlung von Gehirntumoren einzusetzen. Aber für dieses Projekt musste ich Geld auftreiben und daher schrieb ich Anträge für Zuschüsse an Regierungsbehörden. Diese Anträge wurden von anderen Professoren evaluiert und die Ergebnisse dieser Bewertungen fielen sehr negativ aus.

Hinsichtlich unseres ersten Antrages aus dem Jahr 1981 meinten die Prüfer, dass es uns niemals gelingen würde, diese Polymere zu synthetisieren. Doch einer meiner Doktoranden stellte diese Polymere bereits im Rahmen seiner Doktorarbeit her. Wir sandten den Antrag zu einer weiteren Begutachtung ein, nur um erneut mitgeteilt zu bekommen, dass ihm nicht entsprochen werden kann, weil diese Polymere mit jedem damit zu verabreichendem Medikament reagieren würden.

Mehrere Wissenschaftler in unserem Labor zeigten, dass es keine solche Reaktion gab. Wir reichten unseren Antrag erneut ein. Diesmal kam er mit dem Kommentar zurück, dass Polymere fragil seien und zerbrechen würden. Diesem Problem nahmen sich zwei andere Forscher an. Der überarbeitete Antrag wurde erneut zur Begutachtung vorgelegt. Der Grund für die Ablehnung diesmal war, dass die neuen Polymere nicht sicher an Tieren und Menschen getestet werden können. Wieder zeigte ein Studierender, dass diese Polymere durchaus sicher in der Anwendung waren.

Diese Begutachtungen zogen sich noch über längere Zeit hin, aber im Jahr 1996 genehmigte die amerikanische Lebens- und Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration diese Behandlung – die erste neue Behandlung für Gehirntumore in einem Zeitraum von über 20 Jahren. Überdies schuf man mit dieser FDA-Genehmigung für lokale Chemotherapie auf Grundlage von Polymeren ein neues Paradigma im Bereich der Verabreichung von Medikamenten und trug dazu bei, den Weg für Medikamente freisetzende Stents und andere lokale Verabreichungssysteme zu ebnen.

Etwas Ähnliches passierte, als Jay Vacanti, Chirurg am Massachusetts General Hospital, und ich im Jahr 1980 die Idee hatten, dreidimensionale synthetische Polymergitter mit Zellen auszustatten, um so neue Gewebe und Organe zu züchten. Wieder wurde die Idee mit großer Skepsis aufgenommen und es war überaus schwierig, über Anträge, die von Kollegen beurteilt wurden, an staatliche Zuschüsse zu kommen. Heute ist diese Vorgehensweise zu einem Meilenstein des Tissue Engineering und der regenerativen Medizin geworden, der zur Herstellung künstlicher Haut für Patienten mit Verbrennungen oder Hautgeschwüren führte - und eines Tages hoffentlich die Herstellung vieler anderer Gewebe und Organe ermöglichen wird.

Ich bin wohl kaum der einzige mit derartigen Erfahrungen. Im Lauf der Geschichte mussten Wissenschaftler immer gegen den Strom der gängigen Meinung schwimmen, um ihre Erkenntnisse unter Beweis zu stellen. Stanley Prusiners Entdeckung der Prionen, Barry Marshall und Robin Warrens Forschungsergebnisse, wonach Bakterien Magengeschwüre verursachen können und Dan Shechtmans Bestimmung der Struktur von Quasikristallen sind nur einige derartige Beispiele aus jüngerer Zeit (alle erhielten den Nobelpreis für ihre Forschungsarbeit).

Die daraus zu ziehenden Lehren sind einfach zu verstehen, wenn auch schwer in die Tat umzusetzen: Glaube nicht alles, was du liest; sei bereit, Dogmen zu hinterfragen und sei dir bewusst, dass du, auch wenn du richtig liegst, auf kurze Sicht karrieretechnisch einen Preis dafür bezahlst. Doch der Lohn der wissenschaftlichen Entdeckung ist es wert: die Technologie entwickelt sich weiter und die Welt kann dadurch viel besser werden.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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