BERLIN – Als Covid-19 vor einem Jahr begann sich auszubreiten, befand sich die liberale Demokratie in der Krise. Zum ersten Mal seit 2001 gab es weltweit mehr Autokratien als Demokratien. Der Rechtsopulismus war auf dem Vormarsch.
Außerdem stand das Prinzip der universellen und unveräußerlichen Menschenrechte unter Druck der Regierungen Chinas, Russlands und sogar der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump. Die Unterdrückung der Zivilgesellschaft sowie die Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der freien Presse und der Menschenrechte hielten in vielen Ländern unvermindert an. Und einige demokratisch gewählte Spitzenpolitikerinnen und -politiker (wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan) hatten sich darangemacht, die liberale Demokratie von innen auszuhöhlen - ein Trend, der als dritte Welle der Autokratisierung bezeichnet wird.
Doch dieser antidemokratischen Welle stand ein Gegentrend gegenüber. Im Jahr 2019 brachten mehr Menschen in mehr Ländern als jemals zuvor ihren Widerspruch in Form von Protesten zum Ausdruck. Die Regierungen in Algerien, Bolivien, Irak, Libanon und Sudan wurden zum Rücktritt gezwungen. In Chile und Frankreich mussten die Regierungen unter starkem Druck umstrittene Gesetze rückgängig machen.
Dann brach die Pandemie aus und stürzte die Welt in eine öffentliche Gesundheitskrise und eine beispiellose wirtschaftliche Kontraktion. Für kurze Zeit kamen die Protestbewegungen, die das Jahr 2019 prägten, zum Stillstand.
Aber so historisch und einzigartig die Auswirkungen der Pandemie auf die Welt auch sind, für viele Menschen ist sie einfach nur eine Krise von vielen und angesichts nicht behobener Missstände regte sich auch bald wieder der Widerstand. Anfänglich kam es zu einer Welle kreativer Proteste, im Rahmen derer sich die Menschen nicht persönlich zusammenfinden mussten. Vom Hashtag-Aktivismus im Internet bis hin zum Aufstellen von Schuhpaaren auf öffentlichen Plätzen – an stelle der zum Daheimbleiben gezwungenen Menschenmengen - fanden die Menschen Mittel und Wege ihren Unmut zu äußern, ohne die Ausbreitung des Virus zu riskieren.
Und dann begannen alte und neue Protestbewegungen wieder auf die Straße zu gehen. Die Tötung von George Floyd in Minneapolis im Mai letzten Jahres löste wochenlang massive Demonstrationen gegen Polizeigewalt und systemischen Rassismus nicht nur in den USA, sondern auch in mehr als 60 Ländern weltweit aus. In Hongkong kämpfen die Menschen weiter für ihre Demokratie. In Chile wurde nach monatelangen öffentlichen Protesten ein Referendum zur Verabschiedung einer neuen Verfassung abgehalten. Von Belarus über Thailand bis Indien flammten 2020 weltweit weiter friedliche Proteste auf.
Doch mit der gleichen Entschlossenheit waren Regierungen vielerorts auch bestrebt, gegen Andersdenkende vorzugehen und die Pandemie als Vorwand zu nutzen, um demokratische Errungenschaften abzubauen, gegen Kritik und Opposition vorzugehen, Menschenrechtsnormen auszuhöhlen und die Zivilgesellschaft zu unterdrücken. Die International Foundation for Electoral Systems hat in 69 Ländern Wahlverschiebungen festgestellt, und der COVID-19 Civic Freedom Tracker hält in 130 Ländern Einschränkungen des Versammlungsrechts fest, während in 50 Ländern Maßnahmen getroffen wurden, die die Meinungsfreiheit einschränken.
Freilich räumen Menschenrechtsorganisationen und offizielle Stellen ein, dass manche Beschränkungen von Rechten und Freiheiten als Reaktion der Regierungen auf eine öffentliche Gesundheitskrise durchaus legitim sein können. Allerdings sollten Technologien zur Kontaktverfolgung oder Notstandsgesetze Verfallsklauseln vorsehen, die Zeit und Umfang der Gültigkeit dieser Maßnahmen automatisch begrenzen. Und Maßnahmen der sozialen Distanzierung, die das Versammlungsrecht – sei es bei Protesten oder Gottesdiensten – einschränken, müssen rechtmäßig, verhältnismäßig sowie zeitlich begrenzt sein, und dürfen nicht diskriminierend wirken. Regierungen müssen anerkennen, wo Rechte einander kreuzen und ihre Wahrung des einen die Einschränkungen des anderen bedeuten kann. Es braucht transparente Bemühungen, die Rechte nicht gegeneinander auszuspielen.
Vielfach jedoch haben die Bestrebungen zur Eindämmung der Verbreitung von Desinformationen den Menschen auch die Möglichkeit genommen, legitime Kritik an den staatlichen Reaktionen auf die Gesundheitskrise zu üben (weil sie auf Grundlage der pandemiebedingten Notstandsgesetze inhaftiert sind). In 28 Ländern wurden Webseiten blockiert oder Nutzerinnen und Nutzer sowie Plattformen gezwungen, als kritisch oder unvorteilhaft erachtete Inhalte zu löschen. In mindestens 13 Ländern wurden Internet und/oder Telefondienste seit Januar 2020 abgeschaltet, so dass vielen Menschen während der Pandemie drohte, größtenteils keinen Zugang zu potenziell lebensrettenden Diensten und Informationen zu haben.
Wo Regierungen darauf aus sind, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Technologien der Kontaktverfolgung einzusetzen, um Aktivistinnen und Aktivisten sowie Kritikerinnen und Kritiker zu schikanieren, zu verhaften oder zu sanktionieren, brauchen wir den friedlichen Protest mehr denn je. Das ist auch der Grund, warum die Welle der globalen Protestbewegungen weiter ansteigt und warum diese Bewegungen - die überwiegend jung, weiblich und intersektional geprägt sind - voneinander lernen, sich gegenseitig ermutigen und in gegenseitiger Solidarität mobilisieren.
Demokratie bedeutet mehr als Wahlen und Institutionen. Vielmehr ist sie einbeständiger Prozess der Neuverhandlung von Macht und ihrer Verteilung. Demokratie stellt auch den bestmöglichen Weg dar, eine für alle gerechtere Welt nach der Pandemie zu gestalten. Heute steht sie unter starkem Druck, auch weil die tatsächlich bestehenden liberalen Demokratien für viele Menschen das Versprechen garantierter, uns allen zustehender Rechte nicht eingelöst haben. Doch die globalen Proteste zeugen von einem grundlegenden Verständnis, über das sich Teilnehmenden einig sind: Die beste Antwort auf die Unzulänglichkeiten der Demokratie besteht darin, Demokratie aktiver zu leben.
BERLIN – Als Covid-19 vor einem Jahr begann sich auszubreiten, befand sich die liberale Demokratie in der Krise. Zum ersten Mal seit 2001 gab es weltweit mehr Autokratien als Demokratien. Der Rechtsopulismus war auf dem Vormarsch.
Außerdem stand das Prinzip der universellen und unveräußerlichen Menschenrechte unter Druck der Regierungen Chinas, Russlands und sogar der Vereinigten Staaten unter Präsident Donald Trump. Die Unterdrückung der Zivilgesellschaft sowie die Bedrohung der Rechtsstaatlichkeit, der freien Presse und der Menschenrechte hielten in vielen Ländern unvermindert an. Und einige demokratisch gewählte Spitzenpolitikerinnen und -politiker (wie der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán oder der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan) hatten sich darangemacht, die liberale Demokratie von innen auszuhöhlen - ein Trend, der als dritte Welle der Autokratisierung bezeichnet wird.
Doch dieser antidemokratischen Welle stand ein Gegentrend gegenüber. Im Jahr 2019 brachten mehr Menschen in mehr Ländern als jemals zuvor ihren Widerspruch in Form von Protesten zum Ausdruck. Die Regierungen in Algerien, Bolivien, Irak, Libanon und Sudan wurden zum Rücktritt gezwungen. In Chile und Frankreich mussten die Regierungen unter starkem Druck umstrittene Gesetze rückgängig machen.
Dann brach die Pandemie aus und stürzte die Welt in eine öffentliche Gesundheitskrise und eine beispiellose wirtschaftliche Kontraktion. Für kurze Zeit kamen die Protestbewegungen, die das Jahr 2019 prägten, zum Stillstand.
Aber so historisch und einzigartig die Auswirkungen der Pandemie auf die Welt auch sind, für viele Menschen ist sie einfach nur eine Krise von vielen und angesichts nicht behobener Missstände regte sich auch bald wieder der Widerstand. Anfänglich kam es zu einer Welle kreativer Proteste, im Rahmen derer sich die Menschen nicht persönlich zusammenfinden mussten. Vom Hashtag-Aktivismus im Internet bis hin zum Aufstellen von Schuhpaaren auf öffentlichen Plätzen – an stelle der zum Daheimbleiben gezwungenen Menschenmengen - fanden die Menschen Mittel und Wege ihren Unmut zu äußern, ohne die Ausbreitung des Virus zu riskieren.
Und dann begannen alte und neue Protestbewegungen wieder auf die Straße zu gehen. Die Tötung von George Floyd in Minneapolis im Mai letzten Jahres löste wochenlang massive Demonstrationen gegen Polizeigewalt und systemischen Rassismus nicht nur in den USA, sondern auch in mehr als 60 Ländern weltweit aus. In Hongkong kämpfen die Menschen weiter für ihre Demokratie. In Chile wurde nach monatelangen öffentlichen Protesten ein Referendum zur Verabschiedung einer neuen Verfassung abgehalten. Von Belarus über Thailand bis Indien flammten 2020 weltweit weiter friedliche Proteste auf.
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Doch mit der gleichen Entschlossenheit waren Regierungen vielerorts auch bestrebt, gegen Andersdenkende vorzugehen und die Pandemie als Vorwand zu nutzen, um demokratische Errungenschaften abzubauen, gegen Kritik und Opposition vorzugehen, Menschenrechtsnormen auszuhöhlen und die Zivilgesellschaft zu unterdrücken. Die International Foundation for Electoral Systems hat in 69 Ländern Wahlverschiebungen festgestellt, und der COVID-19 Civic Freedom Tracker hält in 130 Ländern Einschränkungen des Versammlungsrechts fest, während in 50 Ländern Maßnahmen getroffen wurden, die die Meinungsfreiheit einschränken.
Freilich räumen Menschenrechtsorganisationen und offizielle Stellen ein, dass manche Beschränkungen von Rechten und Freiheiten als Reaktion der Regierungen auf eine öffentliche Gesundheitskrise durchaus legitim sein können. Allerdings sollten Technologien zur Kontaktverfolgung oder Notstandsgesetze Verfallsklauseln vorsehen, die Zeit und Umfang der Gültigkeit dieser Maßnahmen automatisch begrenzen. Und Maßnahmen der sozialen Distanzierung, die das Versammlungsrecht – sei es bei Protesten oder Gottesdiensten – einschränken, müssen rechtmäßig, verhältnismäßig sowie zeitlich begrenzt sein, und dürfen nicht diskriminierend wirken. Regierungen müssen anerkennen, wo Rechte einander kreuzen und ihre Wahrung des einen die Einschränkungen des anderen bedeuten kann. Es braucht transparente Bemühungen, die Rechte nicht gegeneinander auszuspielen.
Vielfach jedoch haben die Bestrebungen zur Eindämmung der Verbreitung von Desinformationen den Menschen auch die Möglichkeit genommen, legitime Kritik an den staatlichen Reaktionen auf die Gesundheitskrise zu üben (weil sie auf Grundlage der pandemiebedingten Notstandsgesetze inhaftiert sind). In 28 Ländern wurden Webseiten blockiert oder Nutzerinnen und Nutzer sowie Plattformen gezwungen, als kritisch oder unvorteilhaft erachtete Inhalte zu löschen. In mindestens 13 Ländern wurden Internet und/oder Telefondienste seit Januar 2020 abgeschaltet, so dass vielen Menschen während der Pandemie drohte, größtenteils keinen Zugang zu potenziell lebensrettenden Diensten und Informationen zu haben.
Wo Regierungen darauf aus sind, Kontaktbeschränkungen, Ausgangssperren und Technologien der Kontaktverfolgung einzusetzen, um Aktivistinnen und Aktivisten sowie Kritikerinnen und Kritiker zu schikanieren, zu verhaften oder zu sanktionieren, brauchen wir den friedlichen Protest mehr denn je. Das ist auch der Grund, warum die Welle der globalen Protestbewegungen weiter ansteigt und warum diese Bewegungen - die überwiegend jung, weiblich und intersektional geprägt sind - voneinander lernen, sich gegenseitig ermutigen und in gegenseitiger Solidarität mobilisieren.
Demokratie bedeutet mehr als Wahlen und Institutionen. Vielmehr ist sie einbeständiger Prozess der Neuverhandlung von Macht und ihrer Verteilung. Demokratie stellt auch den bestmöglichen Weg dar, eine für alle gerechtere Welt nach der Pandemie zu gestalten. Heute steht sie unter starkem Druck, auch weil die tatsächlich bestehenden liberalen Demokratien für viele Menschen das Versprechen garantierter, uns allen zustehender Rechte nicht eingelöst haben. Doch die globalen Proteste zeugen von einem grundlegenden Verständnis, über das sich Teilnehmenden einig sind: Die beste Antwort auf die Unzulänglichkeiten der Demokratie besteht darin, Demokratie aktiver zu leben.