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Müssen wir zur Rettung des Planeten die Zerstörung des Ozeans riskieren?

POTSDAM – Die wachsende Weltbevölkerung und der rasch steigende Lebensstandard einer privilegierten Minderheit treiben den Ressourcenverbrauch und die Abfallproduktion in einem Tempo voran, das derzeit die Kapazitäten von 1,7 Erden erfordert und die globale Erwärmung in alarmierendem Maße schürt. Der Ozean leidet zunehmend unter den Folgen -  nicht nur unter dem bekannten großflächigem Ausbleichen tropischer Korallen aufgrund des Temperaturanstiegs. Auch weniger sichtbare Risiken nehmen zu, wie die Versauerung des Ozeanwassers oder die Veränderung der Produktivität von Meereslebewesen aufgrund unterschiedlicher zeitlicher und räumlicher Anpassungsfähigkeiten.

Die Erde und insbesondere der Ozean nähern sich also den Kipp-Punkten einer irreversiblen Degradation. Das wäre eine Tragödie, da der Ozean in der Folge mehr und mehr seine Fähigkeit verliert, uns mit lebensnotwendigen Dingen zu versorgen: Gesunde Nahrung,  ein funktionierender Kohlenstoffkreislauf, Nährstoffregeneration und Abmilderung der globalen Erwärmung.

Wie zahlreiche Studien und Bewertungen zeigen, ist die Welt  immer noch in der Lage, eine Kursänderung herbeizuführen, wenn Probleme– wie etwa der Klimawandel – effektiv bekämpft und Meeresökosysteme wiederhergestellt werden. Doch am Horizont erscheint schon ein neues Risiko: der kommerzielle Abbau gefragter mineralischer Substrate in der Tiefsee.  

Die Industrie argumentiert, dass die Mineralien aus der Tiefsee – darunter Seltene Erden-Elemente, Kobalt und Mangan– benötigt werden, um den Übergang zu erneuerbaren Energien und die Dekarbonisierung der Weltwirtschaft zu ermöglichen. Jüngste wirtschaftliche Analysen legen allerdings nahe, dass der bereits bestehende Bergbau an Land und der Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft mögliche Lücken in der Mineralienversorgung füllen können. Sie deuten sogar darauf hin, dass eine Überschussproduktion beispielsweise aus der Tiefsee zu einem Preiseinbruch führen könnte. Wer wird also vom Abbau des Meeresbodens profitieren?

Der potenzielle Abbau mineralhaltiger Substrate betrifft die weitgehend unberührte Tiefsee in 2.000 bis 4.000 Metern Tiefe in einigen nationalen Gewässern sowie den internationalen Meeresboden, der rechtlich als „das Gebiet“ bezeichnet wird. Das Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen (SRÜ) von 1982 erklärte „das Gebiet“ und seine Bodenschätze zum „gemeinsamen Erbe der Menschheit“. Die in Jamaika ansässige Internationale Meeresbodenbehörde (IMB) soll das Gebiet verwalten, - ihr gehören derzeit 168 Mitgliedsstaaten an.

Seit ihrer Gründung im Jahr 1994 hat die IMB 30 Explorationsverträge mit 21 Gesellschaften aus 16 Staaten sowie einem Konsortium abgeschlossen. Und die Industrie hat in den letzten Jahren immer mehr Druck aufgebaut, rasch mit der kommerziellen Ausbeutung zu beginnen.  

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Obwohl diese Ungeduld vielleicht verständlich erscheinen mag, darf keinesfalls außeracht gelassen werden, dass die  Mineralienvorkommen auf dem Meeresboden Lebensraum und -grundlage hochspezifischer und sehr empfindlicher Ökosysteme sind. An älteren und ökologisch stabileren Orten befinden sich besonders wertvolle Vorkommen von Mineralien – an diesen Orten sind die Ökosysteme aber auch besonders spezialisiert und vielfältig. 

Jüngste Forschungen haben den Blick auf die Tiefsee revolutioniert und eine außerordentliche Vielfalt an kleinteiligen Lebensräumen, Lebensformen und Strategien entdeckt. Dennoch sind die meisten Geheimnisse dieser komplexen Ökosysteme und seiner funktionalen Beziehungen noch immer nicht enthüllt.

Wissenschaftliche Experimente deuten außerdem darauf hin, dass sich die von kommerziellem Tiefseebergbau betroffenen Lebensräume auch nach 30 Jahren nicht erholt haben. Sie bleiben funktional gestört und ein Verlust an biologischer Vielfalt in unbekannter Größenordnung wird unvermeidlich sein. Beim Abbau von Manganknollen werden beispielsweise über 30 Jahre lang jährlich die oberen 10-20 cm eines abbaubaren Bereichs im Ausmaß von 200-800 Quadratkilometer Meeresboden durchgepflügt. In einem mindestens dreimal so großen Bereich werden dadurch erhebliche Störungen verursacht. Das Ausbaggern entzieht nicht nur der dortigen Fauna die Lebensgrundlage, sondern führt auch zur Verschmutzung und Eintrübung einer unbekannten Menge des klarsten Wassers auf dem Planeten.

Das im Seerechtsübereinkommen verankerte Prinzip des gemeinsamen Erbes sollte dazu beitragen, durch Fairness, Umverteilung und Wissenstransfer soziale Gerechtigkeit für heutige und künftige Generationen zu gewährleisten. Damit ein gewinnbringender Abbau möglich ist, benötigen die Unternehmen von der Meeresbodenbehörde jedoch privilegierte, langfristige Vertragsbedingungen einschließlich eines für die Weltgemeinschaft sehr begrenzten Vorteilsausgleichs und eingeschränkter Umweltvorschriften. Die Gefahr besteht, dass eine neu entstehende Industrie, sobald der Rechtsrahmen steht, mit Vertragslaufzeiten von (mindestens) 30 Jahren operiert. Und das obwohl es bisher  nur Annahmen über die Umweltauswirkungen der noch nicht getesteten Technologien gibt.

Andere Vorteile, die der Menschheit aus ihrem gemeinsamen Erbe der Tiefsee erwachsen, bleiben ungewiss. Die Land-basierten Probleme lösen zu wollen, indem der menschliche Fußabdruck in den Ozean erweitert und die planetarischen Grenzen ignoriert werden, scheint jedoch keine tragfähige Option zur Bewältigung der Zukunft zu sein.

Glücklicherweise gibt es alternative Entwicklungspfade. Vor fünf Jahren einigten sich die Vereinten Nationen (unter dem Motto „Unsere Welt verändern”) auf die Agenda 2030 mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung. Sie soll der Menschheit eine Zukunft ermöglichen, die auf einer intakten natürlichen Umwelt, florierenden und friedlichen Gesellschaften sowie erfolgreichen Maßnahmen zur Begrenzung des Klimawandels beruht. Die Covid-19-Pandemie ist eine dramatische Mahnung, dass unser Umgang mit der Biosphäre unsere Gesellschaften weniger widerstandsfähig macht. Dennoch ringt die Welt immer noch darum, den sich beschleunigenden Biodiversitätsverlust auch im Ozean umzukehren.

Die Bewahrung unseres gemeinsamen Erbes in der Tiefsee bedeutet, Verantwortung für die Zukunft zu übernehmen. Wir müssen achtsam auf die  Veränderungen  der Ozeane – die beispielsweise durch den Klimawandel ausgelöst werden – reagieren und frühere Fehler vermeiden. Eine solche zukunftsweisende Vision, die auf der Philosophie der Gemeingüter beruht, sollte Herzstück der aktuellen Verhandlungen über den Rechtsrahmen für den Tiefsee-Bergbau  sein. Statt in aller Eile mit der Ausbeutung zu beginnen, ist ein Innehalten erforderlich. Zumindest bis der Schutz der Biodiversität auf der hohen See gesichert ist und zugleich gezeigt werden kann, dass die Ausbeutung des Meeresgrunds langfristige Nettovorteile für eine nachhaltige Entwicklung bringen kann.

https://prosyn.org/ShJC1UEde