771b150446f86f380e597221_m4317c.jpg Barrie Maguire

Indiens Sitz am Tisch der Mächtigen

NEU-DELHI – Für die indische Diplomatie begann das Jahr 2011 mit der Wahl in den Vorsitz des Ausschusses zur Bekämpfung des Terrorismus der Vereinten Nationen, ein Gremium, das für das Land von gewisser Bedeutung ist (und eines, von dem viele glaubten, dass man Indien wegen seiner dezidierten Ansichten zu diesem Thema nicht um den Vorsitz ersuchen würde). Zusammen mit der Nachricht, dass Indien das Rennen um einen Sitz als nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat mit den meisten Stimmen für sich entscheiden konnte, ist dies eine Bestätigung der internationalen Geltung des Landes und des Beitrags, den Indien im Sicherheitsrat leisten kann. Angesichts von so viel Unterstützung sind die Erwartungen allerdings hoch und die indische Regierung wird sich überlegen müssen, wie sie am besten erfüllt werden können.

Dies ist ein ungewöhnliches Jahr im UN-Sicherheitsrat. Mehrere mächtige Staaten, die durch ihre zunehmend wichtige globale Rolle zu Anwärtern für ständige Sitze in einem reformierten Sicherheitsrat geworden sind, werden neben Indien am Tisch sitzen. Deutschland und Südafrika sind gleichzeitig als nichtständige Mitglieder gewählt worden, während Brasilien und Nigeria die Hälfte ihrer zweijährigen Amtszeit bereits hinter sich haben.

Das bedeutet auch, dass vier internationale Gruppierungen im Jahr 2011 im Sicherheitsrat vertreten sein werden: Das Dreiergespann Russland-Indien-China, dessen Außenminister zweimal im Jahr zusammentreffen; die BRIC-Staaten, zu denen die eben genannten und zusätzlich Brasilien gehören; das Bündnis der drei größten Mächte der südlichen Hemisphäre Indien-Brasilien-Südafrika und die so genannten BASIC-Länder Brasilien, Südafrika, Indien und China, die sich beim Klimagipfel im vergangenen Jahr in Kopenhagen untereinander abgestimmt haben. Indien gehört als einziges Land allen vier Gruppierungen an.

Dies hebt nicht nur das Ausmaß der Bedeutung hervor, die Indien als zentraler Akteur in der globalen Politik erlangt hat, sondern wirft auch ein Licht auf die außergewöhnliche Zusammensetzung des neuen Sicherheitsrates. Die Hälfte der Mitglieder der G-20, der Gruppe, die heute das führende Forum für internationale Wirtschaftsfragen ist, wird im Sicherheitsrat vertreten sein und sich mit Fragen des internationalen Friedens und der globalen Sicherheit befassen.

Die fünf ständigen Mitglieder des Sicherheitsrates – die USA, Großbritannien, Frankreich, China und Russland – sollten diese Mitglieder nicht für allzu selbstverständlich halten. Die ständigen Mitglieder haben sich in den vergangen Jahren daran gewöhnt, untereinander Vereinbarungen zu treffen und diese den zehn nichtständigen Mitgliedern mehr oder weniger überzustülpen. Doch die fünf großen Länder, die nun ebenfalls mit am Tisch sitzen, werden erwarten, dass man sie zu Rate zieht; man kann ihre stillschweigende Zustimmung zu entscheiden Fragen nicht einfach voraussetzen.

Gleichzeitig werden die Leistungen der Länder im Sicherheitsrat, die eine ständige Mitgliedschaft anstreben, als Vorboten dessen betrachtet werden, was zu erwarten ist, wenn ihre Bemühungen Erfolg haben. Indien steht also umso mehr im Rampenlicht.

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Unmittelbar mit dem Sitz im Sicherheitsrat verbunden ist die Notwendigkeit Stellung zu Angelegenheiten zu beziehen, denen einige indische Bürokraten in den letzten Jahren lieber ausgewichen sind – so etwa Süd-Sudan, dessen Referendum über die Unabhängigkeit schwere Auseinandersetzungen in einem Gebiet auszulösen droht, in dem indische UN-Friedenstruppen bereits ihren Dienst verrichten.

Auch die Zukunft des UN-Friedenssicherungseinsatzes im benachbarten Nepal wird während des ersten Monats Indiens als Mitglied im Sicherheitsrat erörtert werden. In Kürze wird sich der Sicherheitsrat zudem mit den Auswirkungen des wahrscheinlichen Beginns eines Abzugs der US-Truppen in Afghanistan befassen müssen, ein weiterer Bereich, der für die nationale Sicherheit Indiens unmittelbar von Bedeutung ist.

Themen wie Sanktionen gegenüber Iran, der immer wieder ins Stocken geratende Friedensprozess im Nahen Osten und die Reaktion der Welt auf einen absehbaren Führungswechsel in Nordkorea werden ebenfalls aller Voraussicht nach auf der Tagesordnung des Sicherheitsrates stehen. Alle diese Angelegenheiten erfordern kreatives und mutiges Denken, das verhärtete Fronten oder reflexhafte Solidarität mit „bündnisfreien“ Ländern überwindet.

Ebenso wird Indien seinen traditionellen Widerstand gegen die Tendenz des Sicherheitsrates überdenken müssen, sein Mandat auszuweiten, indem er sich Themen widmet, von denen Indien meint sie fielen in die Zuständigkeit der UNO-Generalversammlung. Der Sicherheitsrat hat seine Reichweite auf Themen wie HIV/AIDS, den Klimawandel und Frauenförderung ausgedehnt, die den Begriff von „Frieden und Sicherheit“ bis zur Unkenntlichkeit aufblähen. Und doch könnte Indien, als Mitglied der G-20 und des Sicherheitsrates, durchaus Interesse daran finden Themen wie Ernährungs- und Energiesicherheit zur Sprache zu bringen, die die zentralen Anliegen beider Gruppen berühren.

Auch in Bezug auf das Personal hat die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat erhebliche Folgen. Die Notwendigkeit Kompetenz in vielfältigen Themenbereichen zu erlangen und sich an etwa 60 Resolutionen pro Jahr zu beteiligen (ganz abgesehen von Erklärungen des Präsidenten des Sicherheitsrates zu den gleichen Themen, die weniger Rechtskraft besitzen, aber einstimmig angenommen werden müssen) wird Indiens Leistungsfähigkeit und sein Verhandlungsgeschick auf die Probe stellen.

Verschiedene Unterausschüsse und Arbeitsgruppen des Sicherheitsrates (einschließlich des Ausschusses zur Bekämpfung des Terrorismus) werden ebenfalls volle Aufmerksamkeit erfordern. Im August 2011 wird Indien gemäß dem Prinzip der alphabetischen Rotation den Vorsitz im Sicherheitsrat führen und sich in einer Schlüsselrolle bei der Wahl (höchstwahrscheinlich der Wiederwahl) des UNO-Generalsekretärs wiederfinden, die vor Jahresende erfolgen muss.

Nach zwei Jahrzehnten der Abwesenheit vom globalen Tisch der Mächtigen stellt Indiens Sitz im Sicherheitsrat alles in allem eine einmalige Gelegenheit dar, der Welt zu zeigen, was in ihm steckt. Es sollte mit vermehrtem Ansehen und höherer Glaubwürdigkeit als wichtiger internationaler Akteur aus dieser Erfahrung hervorgehen. Die Welt wird jedenfalls zusehen.

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