Heimatlos in der Heimat

Laut Schätzungen der Vereinten Nationen befinden sich aktuell 77 Millionen Menschen – mehr als 1 Prozent der Weltbevölkerung – innerhalb ihrer eigenen Länder auf der Flucht vor bewaffneten Konflikten, Gewalt, Urbanisierung, Bauprojekten und Naturkatastrophen. Diese Zahl ist höher als die Einwohnerzahl Frankreichs, Großbritanniens oder der Türkei.

Weil sie keine internationale Grenze überqueren, handelt es sich bei diesen Menschen zwar nicht um „Flüchtlinge“, aber ihr Schicksal ist oft ähnlich verheerend. Die Zahl der im eigenen Land durch Konflikte vertriebenen Menschen ist heute doppelt so hoch wie die Anzahl der Flüchtlinge. Angesichts der immer häufiger auftretenden internen bewaffneten Konflikte und der mit immer größerer Regelmäßigkeit eintretenden Extremwetterereignisse, von denen Millionen Menschen betroffen sind, stellt das Problem der internen Vertreibung eine noch größere Herausforderung für zukünftige Generationen dar. 

Nach der Entwurzelung aus ihrem Umfeld und ihrer Existenz und traumatisiert durch Gewalt oder plötzlich hereinbrechenden Katastrophen, erwartet die Vertriebenen eine extrem prekäre Zukunft ohne ausreichende Ressourcen.  Man denke an die 15 Millionen vertriebenen Chinesen nach dem Erdbeben in Sichuan, an die über zwei Millionen Iraker, die vor religiöser und anderer Gewalt in andere Landesteile flüchten mussten, an die 2,4 Millionen Vertriebenen in Darfur oder die Hunderttausenden, die im letzten Jahr aus Mogadischu geflohen sind.  

In den letzten zehn Jahren stieg allein die Zahl der durch Konflikte vertriebenen Menschen von 19 auf 26 Millionen an. Millionen andere mussten aufgrund von Katastrophen ihr Zuhause verlassen. Das Elend dieser Opfer blieb lange unbeachtet, da es sowohl Regierungen als auch die internationale Gemeinschaft verabsäumt hatten, das Recht dieser Menschen auf Schutz und Hilfe anzuerkennen. Im Jahr 1998 veröffentlichte die UNO die Leitprinzipien über die interne Vertreibung, wo diese Rechte niedergeschrieben sind.  

Wie haben sich nun nach zehn Jahren diese Leitprinzipien auf das Leben der Vertriebenen ausgewirkt? Die Ergebnisse sind beachtlich, wenn auch unzureichend. Wir haben das Bewusstsein für das Elend der Vertriebenen geschärft, politische Veränderungen herbeigeführt und Milliarden Dollar aufgewendet, um die Vertriebenen mit dem Nötigsten zu versorgen. Das hat zur Rettung unzähliger Leben beigetragen. Die humanitären Bemühungen werden weiter vorangetrieben. So wurde auch ein neuer Finanzierungsmechanismus, der zentrale Nothilfefonds der Vereinten Nationen, geschaffen.

Aber trotz aller Verbesserungen bleiben enorme Schwierigkeiten bestehen. Die Zahl der aufgrund von Naturkatastrophen vertriebenen Menschen steigt und die negativen Auswirkungen des Klimawandels sind immer stärker spürbar. Neun von zehn Katastrophen haben heute etwas mit dem Klimawandel zu tun. Nicht weniger als 50 Millionen Menschen auf der ganzen Welt werden schätzungsweise jedes Jahr durch Flutkatastrophen, Hurrikans, Tsunamis, Erdbeben und Erdrutsche obdachlos.

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So plötzlich man auch sein Heim verlieren kann, die Auswirkungen eines solchen Ereignisses können über Generationen spürbar bleiben. Ebenso lang besteht die Notwendigkeit zur Versorgung der Opfer mit sauberem Wasser, Unterkünften, Gesundheitsversorgung und anderer Dienste wie die Opfer des Hurrikans Mitch, der 1998 in Mittelamerika wütete, aus leidvoller Erfahrung wissen. Auch die reichen Länder sind nicht immun. Zwei Jahre nach dem Hurrikan Katrina leben immer noch Tausende Menschen in Notunterkünften. 

Überdies verlegen sich gewalttätige, bewaffnete Gruppen – entweder von der Regierung unterstützte Milizen oder Rebellenbewegungen  – zunehmend auf terroristische Aktionen, um die Menschen zu vertreiben, wie dies in der Demokratischen Republik Kongo, in Somalia, dem Irak und auch anderswo geschah. Noch lange nachdem die Waffen zum Schweigen gebracht wurden, bleiben Millionen Menschen arm, sind mit Diskriminierung konfrontiert und leiden unter langfristigen Traumata. Das Leben in Lagern ist demoralisierend und letztlich menschenunwürdig. Zurecht legt die Welt ihr Augenmerk auf die Tragödie in Darfur, übersieht dabei aber weitere vier Millionen Sudanesen, die aufgrund des Nord-Süd-Konflikts vertrieben wurden. Viele von ihnen leben in schrecklicher Armut in den Slums von Khartum oder in provisorischen Lagern ohne die Chance, ihr Leben neu zu aufzubauen.  

Wir müssen derartige Vertreibungen verhindern und sie so rasch wie möglich beenden. Präventiv können zahllose Menschenleben durch einfache Maßnahmen wie flutsichere Küstenabschnitte oder strengere Erdbebenvorschriften für Krankenhäuser und Schulen gerettet werden. Länder wie Bangladesh und Mozambique haben bewiesen, dass Risikominimierung und vorbeugende Maßnahmen lebensrettende Investitionen sein können.

Um Vertreibungen in Konfliktsituationen zu vermeiden, ist in erster Linie politischer Wille notwendig. Diejenigen, die Zivilisten unter Verletzung des Völkerrechts zwangsweise vertreiben, müssen zur Rechenschaft gezogen werden, um andere in Zukunft abzuschrecken. Nicht in den Konflikt verwickelte Staaten sind ebenfalls aufgerufen, die Rechte der Vertriebenen zu wahren, einschließlich des Rechts auf baldige Rückkehr, wo dies möglich ist. Das muss in Friedensabkommen festgeschrieben und durch friedenserhaltende Operationen durchgesetzt werden.

Das Fazit lautet also: Es wird weiterhin Konflikte geben und Naturkatastrophen werden sich sowohl in Häufigkeit als auch in ihrer Intensität verstärken. Um die zugrunde liegenden Ursachen zu bekämpfen und die Folgen der Vertreibung zu mildern, sollte man damit beginnen, die Opfer zu hören – ihre Bedürfnisse und Wünsche müssen verstanden und ihre Rechte respektiert werden. 

Die internationale Gemeinschaft kann helfen, aber nationale Behörden müssen die Führungsrolle übernehmen. Zehn Jahre nach Unterzeichnung der Leitprinzipien ist die Zeit der Ausreden und der Untätigkeit vorbei. 

https://prosyn.org/k1U8F22de