stock market Bryan R. Smith/AFP/Getty Images

Verdrängte geopolitische Gefahren

NEW YORK – Mit dem Sieg von Emmanuel Macron über die rechtsextreme Populistin Marine Le Pen bei den französischen Präsidentschaftswahlen sind die Europäische Union und der Euro noch einmal davongekommen. Doch die geopolitischen Risiken werden weiter zunehmen. Die populistische Gegenreaktion gegen die Globalisierung im Westen wird durch Macrons Sieg nicht zum Abklingen gebracht werden und könnte noch immer zu Protektionismus, Handelskriegen und scharfen Einwanderungsbeschränkungen führen. Falls sich die Kräfte der Desintegration fest etablieren, könnte der Rückzug des Vereinigten Königreichs aus der EU letztlich zu deren Auseinanderbrechen führen – ob mit oder ohne Macron.

Zugleich hat Russland sein aggressives Verhalten im Baltikum, auf dem Balkan, in der Ukraine und in Syrien aufrechterhalten. Der Nahe Osten umfasst immer noch mehrere fast gescheiterte Staaten, wie den Irak, den Jemen, Libyen und den Libanon. Und die sunnitisch- schiitischen Stellvertreterkriege zwischen Saudi-Arabien und dem Iran lassen keinerlei Anzeichen für ein Abklingen erkennen.

In Asien könnte eine risikoreiche Politik der USA oder Nordkoreas einen militärischen Konflikt auf der koreanischen Halbinsel auslösen. Und China setzt seine territorialen Streitigkeiten mit regionalen Nachbarn fort und eskaliert sie teilweise sogar.

Trotz dieser geopolitischen Risiken haben die globalen Finanzmärkte neue Höhen erreicht. Daher lohnt die Frage, ob die Anleger die Möglichkeit, dass einer oder mehrere dieser Konflikte eine ernsthaftere Krise auslösen, unterschätzen, und wenn ja, was es bräuchte, um sie aus ihrer Selbstzufriedenheit aufzurütteln.

Es gibt viele Erklärungen dafür, warum die Märkte geopolitische Risiken ignorieren. Zunächst einmal gab es bisher, obwohl große Teile des Nahen Ostens in Flammen stehen, keinerlei Ölschocks oder Embargos, und die Schiefergasrevolution in den USA hat das Angebot an preiswerter Energie noch erhöht. Während früherer Konflikte im Nahen Osten – wie dem Jom-Kippur-Krieg von 1973, der Islamischen Revolution im Iran 1979 und der irakischen Invasion in Kuwait 1990 – verursachten Ölschocks eine globale Stagflation und scharfe Korrekturen am Aktienmarkt.

Eine zweite Erklärung ist, dass die Anleger von früheren Erschütterungen wie etwa den Anschlägen vom 11. September 2001 extrapolieren, als die Politik die Lage rettete, indem sie Wirtschaft und Finanzmärkte durch eine starke Lockerung der Geld- und Fiskalpolitik stützte. Diese Politik verwandelte Marktkorrekturen im Gefolge dieser Erschütterungen in Kaufgelegenheiten, weil der Rückgang der Vermögenspreise in Tagen bzw. Wochen aufgeholt wurde.

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Drittens sind die Länder, die tatsächlich lokalisierte Erschütterungen der Vermögensmärkte erlebt haben – wie etwa Russland und die Ukraine nach der russischen Annexion der Krim und dem Einmarsch in der OstUkraine 2014 – wirtschaftlich nicht groß genug, um die US- oder die globalen Finanzmärkte in Mitleidenschaft zu ziehen. In ähnlicher Weise gilt, dass, selbst wenn Großbritannien einen „harten“ Brexit verfolgt, dieser trotz allem nur rund 2% vom globalen BIP ausmacht.

Eine vierte Erklärung ist, dass der Welt bisher die mit den heutigen geopolitischen Flächenbränden verbundenen Extremrisiken erspart geblieben sind. Es gab bislang keinen unmittelbaren militärischen Konflikt zwischen Großmächten, und weder die EU noch die Eurozone sind zusammengebrochen. US-Präsident Donald Trumps radikalere, populistische Politik wurde teilweise eingedämmt. Und die chinesische Volkswirtschaft hat bisher noch keine harte Landung erlitten, die soziopolitische Instabilität hervorrufen könnte.

Zudem tun sich die Märkte schwer, derartigen „schwarzen Schwänen“ – „unbekannten Unbekannten“, die unwahrscheinlich, aber extrem kostspielig sind – einen Preis zuzuordnen. So hätte der Markt beispielsweise den 11. September nicht vorhersagen können. Und selbst wenn die Anleger glauben, dass ein weiterer terroristischer Anschlag kommen wird, wissen sie nicht, wann.

Eine Konfrontation zwischen den USA und Nordkorea könnte sich ebenfalls in einen schwarzen Schwan verwandeln, doch ist dies eine Möglichkeit, die die Märkte bisher fröhlich ignorieren. Ein Grund hierfür ist, dass die USA ungeachtet von Trumps Drohungen nur über sehr wenige realistische Militäroptionen verfügen: Sollten die USA das Land angreifen, könnte Nordkorea mit konventionellen Waffen Seoul und seine Umgebung auslöschen, wo fast die Hälfte der südkoreanischen Bevölkerung lebt. Möglicherweise gehen die Anleger davon aus, dass selbst im Falle eines begrenzten militärischen Austauschs dieser nicht zu einem regelrechten Krieg eskalieren würde, und eine Lockerung der Politik könnte den Schlag für die Konjunktur und die Finanzmärkte abschwächen. In diesem Szenario würde sich die anfängliche Marktkorrektur wie im Falle des 11. Septembers letztlich als Kaufgelegenheit erweisen.

Doch es gibt andere mögliche Szenarien, von denen sich einige als schwarze Schwäne erweisen könnten. Angesichts der mit direkten Militärmaßnahmen verbundenen Risiken setzen die USA nun angeblich Cyberwaffen ein, um die nordkoreanische Nukleardrohung gegen das US-Festland zu beseitigen. Dies könnte erklären, warum so viele nordkoreanische Raketentests in den letzten Monaten gescheitert sind. Doch wie wird Nordkorea auf eine derartige militärische Enthauptung reagieren?

Eine Antwort ist, dass es selbst einen Cyberangriff starten könnte. Nordkoreas Fähigkeiten in der Cyberkriegsführung werden als nur geringfügig schlechter als die Russlands oder Chinas eingeschätzt; die Welt erhielt diesbezüglich einen kurzen Einblick, als das Land 2014 Sony Pictures hackte. Ein großer nordkoreanischer Cyberangriff könnte die kritische Infrastruktur der USA teilweise unbrauchbar machen oder zerstören und massive wirtschaftliche und finanzielle Schäden verursachen. Dies bleibt ein Risiko, selbst wenn es den USA gelingt, Nordkoreas gesamtes Industriesystem und seine Infrastruktur zu sabotieren.

Alternativ könnte Nordkorea angesichts der Störung seines Raketenprogramms und seines Regimes eine Low-Tech-Strategie fahren und ein Schiff mit einer schmutzigen Bombe in die Häfen von Los Angeles oder New York schicken. Ein derartiger Angriff wäre höchstwahrscheinlich sehr schwierig zu überwachen oder zu stoppen.

Während die Anleger also möglicherweise Recht damit haben, das Risiko eines konventionellen militärischen Konflikts zwischen den USA und Nordkorea als gering einzustufen, könnten sie zugleich das Risiko eines echten schwarzen Schwans wie etwa eines destabilisierenden Cyberkrieges zwischen beiden Ländern oder eines Angriffs auf die USA mit einer schmutzigen Bombe unterschätzen.

Wäre eine Eskalation auf der koreanischen Halbinsel eine Kaufgelegenheit aufgrund kurzzeitig fallender Preise, oder würde sie den Beginn eines massiven Marktverfalls markieren? Es ist bekannt, dass die Märkte den mit einer normalen Verteilung statistisch erfassbarer und messbarer Ereignisse verbundenen „Risiken“ einen Preis zuweisen können. Doch sie tun sich schwerer mit einer „Knight’schen Unsicherheit”: einem Risiko, das sich nicht probabilistisch erfassen lässt.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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