palacio104_PATRICK HERTZOGAFP via Getty Images_euflagmilitaryarmysoldiers Patrick Hertzog/AFP via Getty Images

Vermisst wird eine europäische Strategie

MADRID – Jedes Jahr im Februar bietet sich auf der Münchner Sicherheitskonferenz die Gelegenheit, die Temperatur der internationalen -  insbesondere der transatlantischen – Beziehungen zu messen. Die Ergebnisse dieses Jahres sind alles andere als ermutigend.  In den Reden und Gesprächen wurde - wieder einmal - die sich weitende Kluft zwischen den Vereinigten Staaten und Europa hervorgehoben, auch wenn man eine gemeinsame Sorge im Hinblick auf China anklingen ließ. Noch folgenreicher war vielleicht die Betonung des wiederkehrenden Wettstreits der Großmächte – und das völlige Fehlen einer in dieser Hinsicht umsetzbaren Strategie in Europa.

Für die Führungsebene der Europäischen Union ist das nichts Neues. Noch bevor die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ihre Kommission zur „geopolitischen” Kommission erklärte, war das Gebot der „strategischen Autonomie“ in den Vordergrund der politischen Debatte gerückt. Dies deutet darauf hin, dass die Europäer nun endlich so manche unbequeme Wahrheit akzeptieren: die transatlantischen Beziehungen haben sich unwiderruflich verändert; der Wettstreit tritt an die Stelle der Zusammenarbeit; und Europa läuft Gefahr, zu einem Schauplatz dieses Wettstreits zu werden, anstatt zu einem eigenständigen Akteur.

Die eskalierende Rivalität zwischen China und Amerika unterstreicht diese Gefahr. Die europäischen Pläne, den chinesischen Telekommunikationsgiganten Huawei in den Aufbau seiner 5G-Infrastruktur einzubeziehen, stießen auf starken Widerstand der Regierung unter US-Präsident Donald Trump, die das Unternehmen aus Sicherheitsgründen vom amerikanischen Telekommunikationsmarkt verbannte. (Die USA haben Huawei und zwei seiner Tochterunternehmen mittlerweile wegen organisierter Kriminalität und Verschwörung beim Diebstahl von Handelsgeheimnissen amerikanischer Unternehmen angeklagt.)

Im Bereich des Handels haben die USA und China kürzlich ein „Phase-1-Handelsabkommen” abgeschlossen, das eine chinesische Verpflichtung zum Kauf US-amerikanischer Produkte im Wert von etwa 200 Milliarden Dollar in den nächsten zwei Jahren vorsieht. Dies ist offenbar Teil einer umfassenderen Neuausrichtung der chinesischen Handelsbeziehungen mit den USA. Einen Großteil der Kosten dieser Verlagerung werden europäischer Hersteller tragen, die in erheblichem Maße von der chinesischen Nachfrage abhängig sind.

Nun bedenke man noch Europas Anfälligkeit für andere strategische Entscheidungen der USA – von deren Feindseligkeit gegenüber dem Iran bis hin zum militärischen Rückzug aus Westafrika zu einer Zeit eskalierender Gewalt – und die Gefahren einer zaudernden EU könnten offensichtlicher nicht sein. Ja, die europäische Spitzenpolitik ist mittlerweile überzeugt, dass sie stärker strategisch agieren muss, aber diese Erkenntnis hat wenig tatsächliche Fortschritte zur Folge.

Zwar wurden einige Anstrengungen unternommen, um die Verteidigungskapazitäten Europas zu verbessern - beispielsweise erstellte die EU neue Programme zur Förderung der Zusammenarbeit in der Verteidigungsindustrie – doch dabei handelt es sich nur um vorläufige erste Schritte. Und auch wenn die Europäische Kommission im März letzten Jahres beschloss, China als „strategischen Konkurrenten” zu betrachten – ein Schritt, der als strategischer Durchbruch bezeichnet wurde – fehlt es immer noch an einer konkreten China-Strategie. Auch Bekenntnisse zum Aufbau neuer und stärker gleichberechtigter Partnerschaften mit Afrika bleiben größtenteils unerfüllt.

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Teilweise ist das auch der Ablenkung geschuldet: die Brexit-Saga hat in den letzten dreieinhalb Jahren einen großen Teil der Aufmerksamkeit Europas in Anspruch genommen und die EU-Reformagenda zum Erliegen gebracht. Aber trotz vollbrachter Scheidung zwischen Vereinigtem Königreich und EU (wobei die Bedingungen noch festzulegen sind) wird sich die EU schwertun, die Gelegenheit zu nutzen und wirksame Reformen umzusetzen. 

Für eine Union, die aus 27 Einzelstaaten und mannigfachen Institutionen besteht – wovon jede ihre eigenen Ziele, Verfahren und Interessen verfolgt -  ist es immer schwierig, entschlossene Maßnahmen umzusetzen. In der Regel hat sich die EU durchgewurstelt, aber das wird nicht reichen, um aus Europa einen leistungsstarken globalen Akteur zu machen.

Auf grundsätzlicherer Ebene fehlt es Europa an einem strategischen Impuls. Darauf spielte der Hohe Vertreter der Europäischen Union für Außen- und Sicherheitspolitik Josep Borrell auf der Münchner Sicherheitskonferenz an, als er Europa aufrief, „Appetit auf Macht“ zu entwickeln.  

Allerdings kann sich Europa einen derartigen Appetit nicht einfach herbeiwünschen; dazu bedarf es der richtigen Anreize, Überzeugungen und Prioritäten. Und genau darin liegt auch das Problem: nach derzeitiger Lage der Dinge ist Europa im Grunde ein Marktakteur, aber kein strategischer Akteur. 

Der Binnenmarkt war schon immer schon das Gravitationszentrum der EU. Dabei handelt es sich um eine bemerkenswerte Leistung, die es zu erhalten und zu schützen gilt. Aber sie darf nicht die Linse sein, durch die alle politischen – insbesondere geopolitischen – Strategien betrachtet werden.

Genau das passiert aber. Anstatt einen eigenen Kommissar oder hohen Vertreter mit dem Management der neuen Initiativen im Verteidigungsbereich zu beauftragen, ordnete die EU diese Agenden dem Portfolio des Binnenmarktkommissars Thierry Breton zu. Der französische Präsident Emmanuel Macron – einer der prominentesten Verfechter eines „strategischen Europas“ – fungierte als maßgeblicher Befürworter dieser Lösung.  

Als die Verhandlungen über den 7-jährigen EU-Finanzrahmen in die Sackgasse gerieten, schlug die Kommission überdies Budgetkürzungen für eine Einrichtung für militärische und friedenserhaltende Aktivitäten sowie Maßnahmen zur erleichterten Verlegung von Streitkräften in Europa im Zuge von Sicherheitskrisen vor. Werden diese Bestimmungen verabschiedet, würden die Budgetkürzungen Europas Ambitionen im Verteidigungsbereich massiv untergraben.

Um ein leistungsfähiger strategischer Akteur zu werden, muss Europa aus jedem ihm zur Verfügung stehenden Instrument das meiste herausholen. Das erfordert die Entwicklung einer überzeugenden strategischen Vision und wirksame längerfristige Planung. Gleichzeitig muss die EU deutliche Signale  - an sich und an den Rest der Welt – aussenden, wonach der Aufbau einer Strategiekultur Priorität genießt.

Kurzum: Wie Borrell kürzlich feststellte, muss die EU „die Sprache der Macht wieder erlernen und [sich selbst] als geostrategischen Akteur auf höchstem Niveau verstehen.“ Andernfalls ist sie dazu verurteilt, eher zum Objekt als zum handelnden Akteur in internationalen Angelegenheiten zu werden.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/mmUBKzrde