BASEL –Die Regierung der Vereinigten Staaten kann heute Kredite mit zehnjähriger Laufzeit zu einem fixen Zinssatz von etwa 2,5 Prozent aufnehmen. Bereinigt um die erwartete Inflation ergeben sich reale Kreditkosten von unter 0,5 Prozent. Vor einem Jahr waren die realen Zinssätze sogar negativ. Und angesichts der vorherrschenden niedrigen Zinssätze in den Industrieländern befürchtet man vielerorts, dass ein Zeitalter der säkularen Stagnation begonnen hat.
Wie problematisch niedrige Realzinssätze sind, hängt von der Ursache ihres Rückgangs ab. Die vorherrschende Meinung lautet, dass der Abwärtstrend weitgehend die Verringerung des Gleichgewichtszinssatzes oder der „natürlichen“ Zinsen widerspiegelt, die von Veränderungen der Fundamentaldaten in den Bereichen Ersparnisse und Investitionen angetrieben wird. Anders ausgedrückt: eine stärkere Spartendenz in den Schwellenökonomien in Kombination mit der wachsenden Präferenz der Investoren für sichere Anlagen hat zu einem weltweiten Anstieg der Ersparnisse geführt, auch wenn schwache Wachstumsaussichten und höhere Unsicherheit in den Industrieländern die Investitionsnachfrage dämpfen.
Dieser wahrgenommene Rückgang der „natürlichen“ Zinssätze wird als Haupthindernis für die wirtschaftliche Erholung betrachtet, weil er aufgrund der Nominalzins-Untergrenze von null die Möglichkeit der Geldpolitik behindert, durch eine Senkung der Realzinsen unter das Gleichgewichtsniveau ausreichend Impulse zu erzeugen. Daher ist die Frage, wie man dem Rückgang der Gleichgewichtszinssätze begegnen soll, Gegenstand lebhafter Debatten geworden.
Auffallend unerwähnt bleibt in den Diskussionen allerdings die Rolle finanzieller Faktoren als Erklärung des Abwärtstrends bei realen Zinsen. Schließlich werden Zinssätze nicht von einer unsichtbaren Naturgewalt bestimmt, sondern von Menschen festgelegt. Die Zentralbanken bestimmen das kurze Ende der Zinsstrukturkurve, während die Finanzmarktteilnehmer längerfristige Erträge auf Grundlage dessen einpreisen, wie die Geldpolitik ihrer Erwartung nach auf Inflation und Wachstum in der Zukunft reagieren wird. Dies auch unter Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken. Die beobachteten Realzinssätze werden durch Abzug der erwarteten Inflation von diesen Nominalsätzen berechnet.
Somit sind Zinssätze zu einem bestimmten Zeitpunkt Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Reaktionsfunktion der Zentralbank und den Annahmen des Privatsektors. Stellt man die Entwicklung der Realzinssätze auf Grundlage der Fundamentaldaten zu Ersparnissen und Investitionen fest, besteht die implizite Annahme darin, dass Zentralbanken und Finanzmärkte die Entwicklung des realen Gleichgewichtszinssatzes im Lauf der Zeit grob verfolgen können.
Das ist jedoch keineswegs einfach. Für Zentralbanken stellt die Berechnung des Gleichgewichtszinssatzes – ein abstraktes Konzept, das nicht beobachtet werden kann – eine gewaltige Herausforderung dar. Um die Zinssätze in die richtige Richtung zu lenken, verlassen sich Zentralbanken typischerweise auf Schätzungen nicht beobachteter Variablen, wie etwa des Gleichgewichtszinssatzes selbst, der potenziellen Produktion und des Arbeitslosigkeitstrends. Diese Schätzungen sind höchst unsicher, stark vom jeweiligen Modell abhängig und unterliegen groß angelegten Überarbeitungen.
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Überdies sind die politischen Rahmenvorgaben der Zentralbanken möglicherweise unvollständig. Durch die weitgehende Konzentration auf eine kurzfristige Stabilisierung von Inflation und Produktion widmet sich die Geldpolitik möglicherweise nicht in ausreichendem Maße den finanziellen Entwicklungen. Angesichts der Tatsache dass sich der Finanzzyklus zeitlich weit ausgedehnter gestaltet als der Geschäftszyklus, erlaubt es der strategische Horizont den Behörden vielleicht nicht, die Auswirkungen ihrer Entscheidungen auf künftige wirtschaftliche Ergebnisse angemessen zu berücksichtigen. Die Tatsache, dass Höhenflüge und Abstürze im Finanzwesen auch bei relativ stabiler Inflation auftreten können, ist nicht hilfreich.
Da Finanzmarktteilnehmer ebenso wie Zentralbanken im Dunklen tappen, kann einiges enorm schiefgehen. Das ist auch passiert. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben mehrere kreditinduzierte Boom-Bust-Episoden der Weltwirtschaft größeren nachhaltigen Schaden zugefügt. Diese Realität ist schwer in Einklang zu bringen mit der Ansicht, wonach sich Zinssätze, die den Preis von Fremdkapital bestimmen, ständig auf Gleichgewichtskurs befunden haben.
Der Schwerpunkt auf grundlegende Spar- und Investitionsdeterminanten von Zinssätzen ist aus der Perspektive herkömmlicher makroökonomischer Modelle vollkommen logisch, denn diese gehen davon aus, dass Geld und Finanzen für den Produktionspfad langfristig irrelevant („neutral“) sind. Doch aufeinanderfolgende Krisen haben gezeigt, dass Finanzen sehr wohl lang anhaltende Wirkungen haben können. Finanzielle Faktoren, insbesondere Fremdkapital, verstärken nicht nur zyklische Fluktuationen, sondern können die Wirtschaft auch von einem nachhaltigen Wachstumspfad abbringen. Tatsächlich geht aus einer wachsenden Zahl von Beweisen hervor, dass die Produktion im Gefolge einer Finanzkrise dauerhaft niedriger ausfällt.
All das deutet darauf hin, dass der Trend rückläufiger Zinssätze nicht nur passiv die Veränderungen der zugrundeliegenden makroökonomischen Fundamentaldaten widerspiegelt. Im Gegenteil, sie tragen auch aktiv zu den Veränderungen bei. Niedrige Zinssätze können den Grundstein für Höhenflüge und Abstürze im Finanzwesen legen.
Eine Politik, die sich nicht gegen diese Höhenflüge stemmt, sondern nach dem Absturz aggressiv und beharrlich lockert, löst im Lauf der Zeit einen Abwärtstrend bei Zinssätzen und einen Aufwärtstrend bei Schuldenniveaus aus. Dadurch wird so etwas wie eine Schuldenfalle geschaffen, in der es schwierig ist, die Zinssätze anzuheben, ohne damit der Wirtschaft zu schaden. Die Anhäufung von Schulden und die Verzerrungen im Produktions- und Investitionsmuster aufgrund anhaltend niedriger Zinssätze verhindern die Rückkehr dieser Zinssätze auf ein normaleres Niveau. Niedrige Zinssätze wirken also selbstverstärkend.
Diese alternative Perspektive hebt den der ultra-expansiven Geldpolitik innewohnenden Zielkonflikt hervor. Geldpolitik kann strukturelle Wachstumshemmnisse nicht überwinden. Doch die von Zentralbanken heute ergriffenen Maßnahmen können langfristig reale makroökonomische Entwicklungen beeinflussen, in erster Linie durch ihre Auswirkungen auf den Finanzzyklus. Die mittel- bis langfristigen Nebenwirkungen müssen sorgfältig gegen die Vorteile kurzfristiger Belebung abgewogen werden. Obwohl niedrige Zinssätze eine natürliche Reaktion auf die Wahrnehmung eines chronischen Nachfrageausfalls sein können, sind derartige Wahrnehmungen allerdings nicht immer richtig – und können mit der Zeit sehr kostspielig werden.
Um die Grundlagen für eine nachhaltige Erholung zu schaffen, sind Maßnahmen zur Stärkung der Bilanzen des öffentlichen und privaten Sektors ebenso notwendig wie Strukturreformen, die auf eine Erhöhung der Produktivität und Verbesserung des Wachstumspotenzials abzielen. Weitere Anreize steigern vielleicht kurzfristig die Produktion, können aber das Problem noch verschärfen und im Lauf der Zeit immer höhere Dosen notwendig machen. Eine ungesunde Abhängigkeit von Schmerzmitteln kann vermieden werden, aber nur, wenn wir das Risiko rechtzeitig erkennen.
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By banning TikTok, US authorities have sent American users of the app flocking to Chinese platforms with even fewer safeguards on data security or algorithmic manipulation. Though these, too, might be banned, others will replace them, leading America to construct, one prohibition at a time, its own "Great Firewall."
thinks the US government's ban on the app has left it in an untenable position.
While some observers doubt that US President-elect Donald Trump poses a grave threat to US democracy, others are bracing themselves for the destruction of the country’s constitutional order. With Trump’s inauguration just around the corner, we asked PS commentators how vulnerable US institutions really are.
BASEL –Die Regierung der Vereinigten Staaten kann heute Kredite mit zehnjähriger Laufzeit zu einem fixen Zinssatz von etwa 2,5 Prozent aufnehmen. Bereinigt um die erwartete Inflation ergeben sich reale Kreditkosten von unter 0,5 Prozent. Vor einem Jahr waren die realen Zinssätze sogar negativ. Und angesichts der vorherrschenden niedrigen Zinssätze in den Industrieländern befürchtet man vielerorts, dass ein Zeitalter der säkularen Stagnation begonnen hat.
Wie problematisch niedrige Realzinssätze sind, hängt von der Ursache ihres Rückgangs ab. Die vorherrschende Meinung lautet, dass der Abwärtstrend weitgehend die Verringerung des Gleichgewichtszinssatzes oder der „natürlichen“ Zinsen widerspiegelt, die von Veränderungen der Fundamentaldaten in den Bereichen Ersparnisse und Investitionen angetrieben wird. Anders ausgedrückt: eine stärkere Spartendenz in den Schwellenökonomien in Kombination mit der wachsenden Präferenz der Investoren für sichere Anlagen hat zu einem weltweiten Anstieg der Ersparnisse geführt, auch wenn schwache Wachstumsaussichten und höhere Unsicherheit in den Industrieländern die Investitionsnachfrage dämpfen.
Dieser wahrgenommene Rückgang der „natürlichen“ Zinssätze wird als Haupthindernis für die wirtschaftliche Erholung betrachtet, weil er aufgrund der Nominalzins-Untergrenze von null die Möglichkeit der Geldpolitik behindert, durch eine Senkung der Realzinsen unter das Gleichgewichtsniveau ausreichend Impulse zu erzeugen. Daher ist die Frage, wie man dem Rückgang der Gleichgewichtszinssätze begegnen soll, Gegenstand lebhafter Debatten geworden.
Auffallend unerwähnt bleibt in den Diskussionen allerdings die Rolle finanzieller Faktoren als Erklärung des Abwärtstrends bei realen Zinsen. Schließlich werden Zinssätze nicht von einer unsichtbaren Naturgewalt bestimmt, sondern von Menschen festgelegt. Die Zentralbanken bestimmen das kurze Ende der Zinsstrukturkurve, während die Finanzmarktteilnehmer längerfristige Erträge auf Grundlage dessen einpreisen, wie die Geldpolitik ihrer Erwartung nach auf Inflation und Wachstum in der Zukunft reagieren wird. Dies auch unter Berücksichtigung der damit verbundenen Risiken. Die beobachteten Realzinssätze werden durch Abzug der erwarteten Inflation von diesen Nominalsätzen berechnet.
Somit sind Zinssätze zu einem bestimmten Zeitpunkt Ausdruck des Wechselspiels zwischen der Reaktionsfunktion der Zentralbank und den Annahmen des Privatsektors. Stellt man die Entwicklung der Realzinssätze auf Grundlage der Fundamentaldaten zu Ersparnissen und Investitionen fest, besteht die implizite Annahme darin, dass Zentralbanken und Finanzmärkte die Entwicklung des realen Gleichgewichtszinssatzes im Lauf der Zeit grob verfolgen können.
Das ist jedoch keineswegs einfach. Für Zentralbanken stellt die Berechnung des Gleichgewichtszinssatzes – ein abstraktes Konzept, das nicht beobachtet werden kann – eine gewaltige Herausforderung dar. Um die Zinssätze in die richtige Richtung zu lenken, verlassen sich Zentralbanken typischerweise auf Schätzungen nicht beobachteter Variablen, wie etwa des Gleichgewichtszinssatzes selbst, der potenziellen Produktion und des Arbeitslosigkeitstrends. Diese Schätzungen sind höchst unsicher, stark vom jeweiligen Modell abhängig und unterliegen groß angelegten Überarbeitungen.
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Da Finanzmarktteilnehmer ebenso wie Zentralbanken im Dunklen tappen, kann einiges enorm schiefgehen. Das ist auch passiert. Im Lauf der letzten drei Jahrzehnte haben mehrere kreditinduzierte Boom-Bust-Episoden der Weltwirtschaft größeren nachhaltigen Schaden zugefügt. Diese Realität ist schwer in Einklang zu bringen mit der Ansicht, wonach sich Zinssätze, die den Preis von Fremdkapital bestimmen, ständig auf Gleichgewichtskurs befunden haben.
Der Schwerpunkt auf grundlegende Spar- und Investitionsdeterminanten von Zinssätzen ist aus der Perspektive herkömmlicher makroökonomischer Modelle vollkommen logisch, denn diese gehen davon aus, dass Geld und Finanzen für den Produktionspfad langfristig irrelevant („neutral“) sind. Doch aufeinanderfolgende Krisen haben gezeigt, dass Finanzen sehr wohl lang anhaltende Wirkungen haben können. Finanzielle Faktoren, insbesondere Fremdkapital, verstärken nicht nur zyklische Fluktuationen, sondern können die Wirtschaft auch von einem nachhaltigen Wachstumspfad abbringen. Tatsächlich geht aus einer wachsenden Zahl von Beweisen hervor, dass die Produktion im Gefolge einer Finanzkrise dauerhaft niedriger ausfällt.
All das deutet darauf hin, dass der Trend rückläufiger Zinssätze nicht nur passiv die Veränderungen der zugrundeliegenden makroökonomischen Fundamentaldaten widerspiegelt. Im Gegenteil, sie tragen auch aktiv zu den Veränderungen bei. Niedrige Zinssätze können den Grundstein für Höhenflüge und Abstürze im Finanzwesen legen.
Eine Politik, die sich nicht gegen diese Höhenflüge stemmt, sondern nach dem Absturz aggressiv und beharrlich lockert, löst im Lauf der Zeit einen Abwärtstrend bei Zinssätzen und einen Aufwärtstrend bei Schuldenniveaus aus. Dadurch wird so etwas wie eine Schuldenfalle geschaffen, in der es schwierig ist, die Zinssätze anzuheben, ohne damit der Wirtschaft zu schaden. Die Anhäufung von Schulden und die Verzerrungen im Produktions- und Investitionsmuster aufgrund anhaltend niedriger Zinssätze verhindern die Rückkehr dieser Zinssätze auf ein normaleres Niveau. Niedrige Zinssätze wirken also selbstverstärkend.
Diese alternative Perspektive hebt den der ultra-expansiven Geldpolitik innewohnenden Zielkonflikt hervor. Geldpolitik kann strukturelle Wachstumshemmnisse nicht überwinden. Doch die von Zentralbanken heute ergriffenen Maßnahmen können langfristig reale makroökonomische Entwicklungen beeinflussen, in erster Linie durch ihre Auswirkungen auf den Finanzzyklus. Die mittel- bis langfristigen Nebenwirkungen müssen sorgfältig gegen die Vorteile kurzfristiger Belebung abgewogen werden. Obwohl niedrige Zinssätze eine natürliche Reaktion auf die Wahrnehmung eines chronischen Nachfrageausfalls sein können, sind derartige Wahrnehmungen allerdings nicht immer richtig – und können mit der Zeit sehr kostspielig werden.
Um die Grundlagen für eine nachhaltige Erholung zu schaffen, sind Maßnahmen zur Stärkung der Bilanzen des öffentlichen und privaten Sektors ebenso notwendig wie Strukturreformen, die auf eine Erhöhung der Produktivität und Verbesserung des Wachstumspotenzials abzielen. Weitere Anreize steigern vielleicht kurzfristig die Produktion, können aber das Problem noch verschärfen und im Lauf der Zeit immer höhere Dosen notwendig machen. Eine ungesunde Abhängigkeit von Schmerzmitteln kann vermieden werden, aber nur, wenn wir das Risiko rechtzeitig erkennen.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier