bildt125_SERGEI SUPINSKYAFP via Getty Images_ukraine Tom Williams/CQ-Roll Call, Inc via Getty Images

Eine Hillbilly-Elegie für die Ukraine und den Westen

STOCKHOLM – In einem im April dieses Jahres in der New York Times veröffentlichten Kommentar schlug J.D. Vance, mittlerweile Vizepräsidentschaftskandidat der Republikaner, eine „Verteidigungsstrategie“ für die Ukraine vor, die nichts anderes als eine Anleitung zur Kapitulation ist. Zweifellos werden seine Ausführungen in Peking und Moskau aufmerksam gelesen worden sein und großen Anklang gefunden haben. Eine Appeasement-Strategie gegenüber Russland auf Kosten der Ukraine wäre ein großer strategischer Verlust für die Vereinigten Staaten und damit ein Sieg für ihre Gegner.

Vances Plädoyer für ein Appeasement sollte niemanden überraschen. In einem Podcast aus dem Jahr 2022 mit Donald Trumps (derzeit inhaftierten) Polit-Guru Steve Bannon sagte er: „Es ist mir eigentlich egal, was mit der Ukraine passiert, so oder so.“ Sein Argument besteht im Wesentlichen darin, dass Russland aufgrund seiner Größe mehr Bomben und Raketen auf die Ukraine abwerfen kann, als die Ukrainer und ihre westlichen Unterstützer je stemmen können.

Russland ist zweifelsohne größer als die Ukraine. Doch wenn das für die Ukraine ein Grund sein sollte, ihre Niederlage zu akzeptieren, könnte man das gleiche Argument auch auf acht andere Nachbarländer anwenden, die irgendwann einmal Teil des russischen/sowjetischen Imperiums waren. Damit gibt Vance den Bestrebungen Wladimir Putins, das alte Imperium durch Eroberung wieder aufleben zu lassen, grünes Licht. Als einziger Nachbar bliebe China übrig, Russlands „grenzenloser“ Partner.

Ein wiedererstandenes Großrussland im Bündnis mit dem heutigen China würde die Weltordnung verändern. Genau das wünschen sich die Führer beider Länder auch. Ein Amerika, das sich strategisch zurückzieht und erst Kabul und dann Kiew aufgibt, würde den autoritären eurasischen Block ermutigen, in die Offensive zu gehen. Die Tage Taiwans wären gezählt, und andere geben womöglich schon vorher auf.

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Der preußische Militärtheoretiker Carl von Clausewitz lehrte uns bekanntlich, dass Krieg ein Wettstreit politischer Willensbekundungen ist. Arsenale und Bataillone sind durchaus wichtig, aber am Ende oft nicht entscheidend. In Afghanistan wurde der Krieg nicht dadurch entschieden, welche Seite mehr Artilleriemunition besaß. Noch einmal: Wer glaubt, Feuerkraft sei alles, muss auch glauben, dass Taiwan einfach kapitulieren sollte.

Putin hat aus seinen Kriegszielen keinen Hehl gemacht. Im Rahmen eines „Interviews“ mit dem russischen Staatschef im Februar dieses Jahres tat uns der rechte Aktivist Tucker Carlson einen großen Gefallen, als er seinen Gesprächspartner von dessen Traum schwafeln ließ, die Ukraine von der Landkarte zu tilgen. Es ging also nie wirklich um die russischsprachigen Ukrainer oder die Nato-Erweiterung oder irgendetwas anderes. Putin, der die klassische russisch-imperialistische Sichtweise wiederaufleben lässt, ist vielmehr der Ansicht, dass die Ukraine einfach kein Recht hat, als unabhängiger Staat zu existieren.

Wo diese Logik endet, kann man nur vermuten. Immerhin waren Polen, Finnland, Lettland, Estland, Litauen, Georgien, Aserbaidschan und Kasachstan alle einmal Teil des Imperiums, das Putin wiederherstellen will. Wenn die Ukraine besiegt werden kann, weil sich die USA zum Rückzug entschlossen haben, ist alles offen. Angesichts so vieler Länder, die kleiner sind als Russland, müsste Vance seine gehaltlose Argumentation bis zum Gehtnichtmehr wiederholen.

Die Verteidigung der Ukraine obliegt natürlich in erster Linie den Ukrainern. Es ist ihr Blut, das auf dem Schlachtfeld fließt, und trotz schlechter Chancen haben sie die gewaltige Verantwortung für die Verteidigung des Westens übernommen. Als der Krieg begann, rechnete niemand damit, dass er länger als ein paar Wochen, wenn nicht gar nur Tage dauern würde. Doch die Ukrainer haben es geschafft und dem russischen Militär schweren Schaden zugefügt. Das allein ist schon eine Art Sieg.

Der Preis, den wir anderen zahlen, ist verschwindend gering. Für die EU-Mitgliedstaaten beläuft er sich im Durchschnitt auf etwa 0,3 Prozent des BIP - etwas mehr als ein Zehntel unserer Verteidigungsausgaben; für die USA fällt er deutlich geringer aus. Es stimmt: Europa hat seine eigene Verteidigungsindustrie - Kapazitäten zur Herstellung von Artilleriemunition bis hin zu Luftabwehrraketen – verfallen lassen. Doch auch wenn wir es Russland durchgehen lassen, die Ukraine zu schlucken, würde uns das nicht von der Verantwortung entbinden, diesen Fehler zu korrigieren. Im Gegenteil, wir hätten es mit einem noch bedrohlicheren strategischen Umfeld zu tun. Der Aggressor im Kreml wäre auf dem Vormarsch.

Vance hat nicht unrecht, wenn er argumentiert, die Strategie der Ukraine hätte jetzt in erster Linie defensiv zu sein. Die Gegenoffensive des letzten Jahres hat kaum Fortschritte gebracht und ist weit hinter ihren Zielen zurückgeblieben. Doch anstatt der Ukraine die Unterstützung zu entziehen, sollten wir erkennen, dass dies die einzig glaubwürdige Strategie ist, um am Ende so etwas wie Frieden zu erreichen. Wenn wir tatenlos zusehen, wie russische Bomber Charkiw und Odessa in Schutt und Asche legen, würden wir damit die Hunde des Krieges auf Jahre hinaus loslassen.

Irgendwann werden die Waffen schweigen. Aber wirklicher Frieden wird erst dann möglich sein, wenn Putins imperialer Traum zerplatzt ist. Russland muss seine Rolle als normaler Nationalstaat unter anderen akzeptieren, und die Demokratie und Sicherheit der Ukraine müssen durch Integration in die euro-atlantischen Institutionen gesichert werden. Erst dann sollten man die Einzelheiten der Beziehungen zwischen Kiew und Moskau klären.

Ich pflichte Vance bei, dass die Europäer hier eine große Verantwortung tragen. Dennoch sei ihm gesagt, dass Europa bereits jetzt mehr finanzielle Unterstützung leistet als die USA und dass die Europäische Union den Aufnahmeprozess für die Ukraine als offizielles Mitglied eingeleitet hat. Das ist ein gewaltiger, strategisch wichtiger Schritt.

Doch nicht nur die europäische Sicherheit steht auf dem Spiel. In seiner Rede vor dem US-Kongress im vergangenen April nahm der japanische Premierminister Fumio Kishida kein Blatt vor den Mund: „Was heute in der Ukraine passiert könnte morgen in Ostasien geschehen.“ Wird Vance dann auch für Appeasement eintreten? Falls ja, und falls die Republikaner im November die US-Präsidentschaft gewinnen, werden wir uns in einer Welt wiederfinden, in der sich westliche Werte und Interessen völlig auf dem Rückzug befinden.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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