Petro Poroshenko Str/ZumaPress

Die Rettung der Ukraine

MÜNCHEN – Die Ukraine steht nicht nur vor einer, sondern vor zwei großen Bedrohungen. Einerseits ist das Risiko eines langwierigen Konflikts und der Teilung des ukrainischen Staatsgebietes nach wie vor akut. Auf der anderen Seite lauert die Gefahr der Insolvenz und andauernder wirtschaftlicher Misere. Hinter beidem steht die Beziehung des Landes zu Russland. Zur Bewältigung dieser Herausforderungen müssen Politiker innerhalb und außerhalb der Ukraine zusammenarbeiten, um die ukrainische Wirtschaft zu stabilisieren, das Staatsgebiet zu schützen und Raum für Reformen zu schaffen, und sich zugleich um eine bessere Zusammenarbeit mit dem mächtigen östlichen Nachbarn bemühen.

Eine klare militärische Botschaft bleibt unverzichtbar. Die NATO hat auf die russische Annexion der Krim, die fortdauernde Unterstützung Russlands für die Separatisten in der Ostukraine und russische Übungen, die Angriffe auf westliche Länder simulieren, zu Recht mit einem Programm der politischen und militärischen Rückversicherung reagiert. Genau wie das Bündnis im Kalten Krieg Solidarität mit der Bundesrepublik demonstrierte, muss es dasselbe jetzt in Bezug auf seine östlichen Verbündeten leisten. Diese Bemühungen sollten durch eine Umkehr des Trends zur Reduzierung der Verteidigungsausgaben in zahlreichen NATO-Staaten untermauert werden.

Die Europäische Union muss zudem anfangen, ihre Verteidigungspolitik glaubwürdiger, effizienter und leistungsstärker zu gestalten. Es ist Zeit, den Grundsatz der europäischen Verteidigungsintegration umfassend umzusetzen. Dies würde nicht nur die Handlungsfähigkeit der EU stärken, sondern dem Kreml auch ein deutliches Signal der Entschlossenheit senden. Zugleich muss die EU die Energieunion vorantreiben, europäische Öl- und Gasimporte diversifizieren und damit ihre Abhängigkeit von Russland verringern.  Gleichzeitig wäre es ebenso ein Fehler, angesichts der Gefährdungen für die Stabilität Europas, die von einer wehrlosen Ukraine ausgehen würden, die Bereitstellung von Militärhilfe für das Land grundsätzlich auszuschließen.

Zusätzlich zur militärischen Antwort wird auch ein wirtschaftliches Eingreifen nötig sein. Die Ukraine bedarf dringend finanzieller Unterstützung – ein Punkt, den als einer der Ersten George Soros deutlich gemacht hat. Tatsächlich ist eine solche  Unterstützung der Ukraine wichtiger als die Bestrafung Russlands mittels Sanktionen. Die Erklärung des Präsidenten der Europäischen Zentralbank Mario Draghi, „die EZB [sei] bereit, alles zu tun, was zum Schutz des Euro erforderlich ist“, hat damals die Finanzmärkte beruhigt; eine Erklärung der EU, wonach sie zu umfassenden Schritten zur Unterstützung der wirtschaftlichen Erholung der Ukraine bereit sei, könnte eine ähnliche Wirkung haben.

Angesichts der Griechenlandkrise wäre die Ankündigung der Ausgaben, die erforderlich sind, um das Land aus der Krise zu führen, politisch sicher kontrovers und wenig populär. Doch die politischen, militärischen und finanziellen Kosten eines Zusammenbruchs der Ukraine wären zu hoch, als dass man deren Scheitern zulassen könnte. Ein strenger Aufsichtsmechanismus könnte helfen, Regierungen und Wähler zu beruhigen, und das Assoziierungsabkommen des Landes mit der EU erleichtern.

Zudem darf die Macht europäischer Werte nicht unterschätzt werden. Die jungen Ukrainer, die auf dem Maidan protestierten – nicht gegen Russland, sondern gegen eine korrupte Elite, die das Land seiner europäischen Zukunft beraubte –, müssen Unterstützung erhalten. Die EU hat die Möglichkeit, einen großen gesellschaftlichen Beitrag zu leisten, indem sie das Projekt der visafreien Einreise vorantreibt, mehr Stipendienprogramme für ukrainische Studenten einrichtet und die Unterstützung für Nichtregierungsorganisationen ausweitet.

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Diese Schritte allein werden aber nicht ausreichen. Neben der Unterstützung für die Ukraine müssen EU und NATO auch auf die Sorgen Russlands eingehen. Die zentrale Strategie sollte es sein, zu zeigen, dass der Westen zur Unterstützung der Ukraine entschlossen ist, gleichzeitig jedoch bereit ist, konstruktiv mit Russland zusammenzuarbeiten, falls sich der Kreml willens zeigt, seinen Kurs zu ändern.

Die Sanktionen müssen aufrechterhalten werden, solange der Kreml und die von ihm unterstützten ukrainischen Separatisten weiter gegen das Protokoll von Minsk verstoßen. Aber es ist wichtig, Russland aus der Isolation zu helfen. Zunächst einmal muss der Streit über die Perspektive eines ukrainischen NATO-Beitritts beerdigt werden. Schließlich wurde diese Frage in vielen europäischen Hauptstädten bereits klar negativ beantwortet. Die EU könnte, während sie der Ukraine verstärkte Unterstützung anbietet, das Land zugleich ermutigen, sich als Brücke zwischen Ost und West zu definieren – so wie Finnland und Österreich und auch die Schweiz das in der Vergangenheit getan haben.

In der Zwischenzeit gilt es, Schritte zu ergreifen, um mit dem Ausschluss Russlands aus der G8 umzugehen. Ein möglicher Ansatz wäre es, das „5+1“-Format – das die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates (China, Frankreich, Großbritannien, Russland und die USA) plus Deutschland in die Lage versetzte, Verhandlungen mit dem Iran zu führen – zu einem breiter angelegten Format umzugestalten. Ein derartiges Forum könnte sich mit globalen und regionalen Fragen jeder Art – von der Ukraine bis Syrien – befassen und hätte zudem den Vorteil, die USA stärker in die Bemühungen zur Bewältigung der Ukraine-Krise einzubinden.

Insbesondere angesichts der dramatischen Zunahme von militärischen Provokationen muss ein Fokus auf die Vermeidung militärischer Fehlkalkulationen und unbeabsichtigter Eskalation gelegt werden. Ein direkter Dialog zwischen den Streitkräften der NATO und Russlands könnte diese Risiken deutlich verringern. Eine derartige Zusammenarbeit wäre ein erster Schritt der Vertrauensbildung und gemeinsamer Anstrengungen, die europäische Sicherheitsarchitektur wieder zu stärken. Die konventionelle und nukleare Rüstungskontrolle muss wieder einen Platz hoch oben auf der Agenda einnehmen. Und auch Visionen einer strategischen Zusammenarbeit in Wirtschaftsfragen verdienen Beachtung: „von Lissabon bis Wladiwostok“.

Der multilaterale Rahmen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) könnte als Grundlage für Fortschritte dienen. Selbst im Kalten Krieg haben sich diplomatische und politische Fortschritte als möglich erwiesen. Man sollte Russland die Chance geben, an derartigen Bemühungen teilzuhaben.

Das Ziel der Diskussion über die europäische Sicherheitsarchitektur muss jedoch klar sein. Weder der Konflikt in der Ukraine noch der Dialog mit Russland dürfen die Grundsätze von Helsinki oder die Charta von Paris, die am Ende des Kalten Krieges vereinbart wurde, untergraben. Russland und der Westen sollten zusammenarbeiten, um die europäischen Sicherheitsprinzipien zu bekräftigen, zu verstärken und falls nötig zu erweitern. Russland kann sich an diesen Bemühungen gern beteiligen – oder weitere Isolation riskieren.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/wu2pLcade