bildt126_Taras IbragimovSuspilne UkraineJSC UAPBCGlobal Images Ukraine via Getty Images_ukraine russia Taras Ibragimov/Suspilne Ukraine/JSC "UA:PBC"/Global Images Ukraine via Getty Images

Territoriale Integrität ist das A und O

STOCKHOLM – Seit 2014 verletzt Russland mit Übergriffen, illegalen Annexionen und einer vollständigen Invasion in schamloser Weise die territoriale Integrität der Ukraine. Und nun verstößt die Ukraine mit ihrem Einmarsch in die Region Kursk gegen die territoriale Integrität Russlands.

Natürlich besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen diesen beiden Sachverhalten. Die Russische Föderation hat sich die Krim offiziell, wenn auch unrechtmäßig, einverleibt und Gebiete in der ukrainischen Region Donbas erobert. Wladimir Putin macht keinen Hehl aus seiner Absicht, die gesamte Ukraine zu unterjochen. Im Gegensatz dazu erhebt die Ukraine keine territorialen Ansprüche auf russischen Boden.

Dennoch ist territoriale Integrität für die Europäer von zentraler Bedeutung, und die Gegenoffensive der Ukraine hat dieses Thema wieder in den Mittelpunkt gerückt. Auch wenn Länder unterschiedliche Gründe haben mögen, die Ukraine in diesem Konflikt zu unterstützen, bleibt die Wahrung des Grundsatzes der territorialen Integrität doch ein Gebot, dem sich alle anschließen. Schließlich wurden die meisten Grenzen in Europa mit Blut gezogen, und wenn man jetzt eine Neufestlegung dieser Grenzen zulässt, wäre noch mehr Blutvergießen die Folge. Jahrzehntelang waren die derzeitigen Grenzen sakrosankt, denn jeder weiß, dass territoriale Integrität Grundlage für den Frieden auf einem Kontinent ist, der bis 1945 jahrhundertelang von Kriegen heimgesucht wurde.

Als der polyglotte Vielvölkerstaat der Sowjetunion vor mehr als drei Jahrzehnten zerfiel, war dieses Prinzip von grundlegender Bedeutung, um einen weitgehend friedlichen Übergang zu bewerkstelligen. Bei der Ausarbeitung der Belowescher Vereinbarungen im Dezember 1991 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der wichtigsten Sowjetrepubliken darauf, die bestehenden Grenzen in vollem Umfang zu respektieren, auch wenn viele davon keiner ethnischen oder geografischen Logik folgten. Das augenfälligste Beispiel dafür ist wohl das  Ferghanatal in Usbekistan, wo vor drei Jahrzehnten ein gefährlicher Aufstand ausbrach. Auch die Krim war seinerzeit eine höchst umstrittene territoriale Frage.

Dennoch waren sich die für die postsowjetische Transformation Verantwortlichen sehr wohl bewusst, dass die Alternative zur Anerkennung der bestehenden Grenzen flächendeckendes Chaos wäre. Daher ratifizierte das russische Parlament trotz des Widerstands glühender Nationalisten das Abkommen und akzeptierte alle darin festgelegten Grenzen.

Unterdessen hatte die Führung der damaligen Europäischen Gemeinschaft eine Kommission namhafter Juristen unter der Leitung des Franzosen Robert Badinter eingesetzt, um Leitlinien für die Bewältigung der sich anbahnenden Krise in Jugoslawien auszuarbeiten. Wieder einmal waren Grenzen das zentrale Thema. Der Balkan war schon immer ein sprachliches, ethnisches und konfessionelles Völkermosaik gewesen, wobei diese Unterschiede in den Grenzverläufen, die im Laufe der vorangegangenen Jahrhunderte festgelegt worden waren, keine Berücksichtigung fanden. Die Badinter-Kommission kam zu dem Schluss, dass die Grenzen dennoch respektiert werden müssen, damit die Region nicht in Chaos und blutiger Gewalt versinkt.

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Die europäischen Entscheidungsträger akzeptierten die Empfehlung der Kommission und machten die Wahrung der territorialen Integrität zu einem der Eckpfeiler ihrer Bemühungen, den Zerfall Jugoslawiens zu bewältigen. Freilich kam es trotzdem zu Komplikationen. Der Status des Kosovo war umstritten, da es sich bei ihm noch nicht um eine vollwertige Republik handelte. Hätte man ihm 1991 einen ähnlichen Status wie den anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken zuerkannt, wäre die Anerkennung seiner Unabhängigkeit ganz einfach gewesen.

Doch dazu kam es nicht. Erst 2008, nach umfassenden diplomatischen Bemühungen innerhalb und außerhalb der Vereinten Nationen, akzeptierten manche Länder, dass die Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo der einzige realistische Weg war. Doch auch in diesem Fall galten Grenzen als unantastbar.

Freilich wurden in dieser Zeit einige Grenzverläufe ohne Gewaltanwendung neu festgelegt, wie etwa im Falle der friedlichen Teilung der Tschechoslowakei in die Tschechische Republik und die Slowakei. Dieser Prozess erfolgte jedoch in gegenseitigem Einvernehmen aller Beteiligten, und der Grundsatz der territorialen Integrität blieb weiterhin oberstes Gebot.

Auch als in Tschetschenien Mitte der 1990er Jahre und dann erneut im Jahr 1999 massive Aufstände ausbrachen, die zu zwei äußerst blutigen Kriegen führten, haben die europäischen Entscheidungsträger nie auch nur angedeutet, dass sie etwaige Unabhängigkeitserklärungen seitens derer anerkennen würden, die sich von der Russischen Föderation lösen wollten.

Doch im Jahr 2008 verstieß Russland selbst gegen den Grundsatz der territorialen Integrität, als es die Unabhängigkeitserklärungen Abchasiens und Südossetiens von Georgien anerkannte und militärisch unterstützte. Von dieser Neuziehung der Grenzen ließ sich niemand täuschen, denn nicht einmal Belarus erkannte die Unabhängigkeit der abtrünnigen Regionen an. Aber diese Ereignisse waren ein Vorzeichen für das, was der Ukraine 2014 und 2022 noch bevorstehen sollte.

Es ist nicht schwer, eine alte Landkarte zu entstauben und Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, das früher womöglich einmal unter anderer Flagge stand. In Europa hat dieser Impuls schon viele Kriege ausgelöst. Die Region Kursk gehörte einst zu dem Staatenbund Polen-Litauen, der dieses Gebiet jahrhundertelang beherrschte. Doch diese Tatsache ist heute ebenso irrelevant wie die Annexion der Krim durch Katharina die Große im Jahr 1783 vom Osmanischen Reich.

Die Achtung der territorialen Integrität ist Grundlage für Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa. Wenn dieser Grundsatz nicht mehr gilt, wird auch die Welt, die wir für selbstverständlich halten, nicht mehr existieren.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/70WkYAMde