NEW YORK – US-Vizepräsident J.D. Vance erklärte kürzlich, dass „Richter nicht die legitime Macht der Exekutive kontrollieren sollten“. Dieser Schuss vor den Bug der Bundesjustiz droht, die lange Zeit vorherrschende Auffassung zu erschüttern, dass die Gerichte das letzte Wort darüber haben sollten, was Gesetze bedeuten und erfordern. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich fragwürdigen Exekutivdekrete von Präsident Donald Trump, wie der Abschaffung des Geburtsrechts und der Auflösung von Verwaltungsbehörden, die vom Kongress genehmigt waren, wirft Vances Provokation ein Schlaglicht auf die sich anbahnende Verfassungskrise in Amerika.
Der Kern des Problems liegt in einer einfachen Feststellung: Nationale Wahlen sind keine Verfassungskonvente. Verfassungskonvente sind einmalige Ereignisse, die die grundlegenden Normen und Verfahren für die die legitime Ausübung der Staatsgewalt festlegen. Im Jahr 1787 erarbeitete der amerikanische Verfassungskonvent einen politischen und rechtlichen Entwurf, der eine besondere Regierungsform (eine demokratische, föderale Republik) etablierte. Diese sollte an grundlegende Normen gebunden sein (individuelle Rechte sowie die Grundsätze eines fairen Verfahrens und der Gleichbehandlung), die die Ausübung staatlicher Macht begrenzen. Darüber hinaus wurde ein Verfahren festgelegt, nach dem die Verfassung in Kraft treten würde (Ratifizierung durch die Bundesstaaten).
Der Grundgedanke der von der amerikanischen Verfassung geschaffenen Republik ist, dass die Funktionen der Regierung von drei gleichberechtigten Zweigen ausgeübt werden müssen, um die Freiheit vor der Bedrohung durch eine Tyrannei zu schützen. Das bedeutet, dass jeder Zweig in seiner eigenen Funktion mehr oder weniger autonom ist. So regelt der Kongress als Gesetzgeber die Politik und die Ausgaben des Bundes; die Exekutive setzt die Politik um und verteidigt die nationale Sicherheit; und die Gerichte legen die Gesetze und die Verfassung aus.
Durch Wahlen bestimmt die Bevölkerung, wer ihre Interessen innerhalb dieser Verfassungsordnung vertritt. Die Gewählten können diesen Rahmen nicht nach Belieben verändern. Sie können zum Beispiel Wahlen nicht einfach abbrechen oder das Ergebnis einer freien und fairen Wahl für ungültig erklären. Ebenso wenig können sie die Grundregeln für die Ausübung der Staatsgewalt ändern. Sie können z. B. individuelle Rechte nicht außer Kraft setzen oder die Grundsätze eines fairen Verfahrens und der Gleichbehandlung nicht ungestraft verletzen.
Schwieriger wird es jedoch, wenn ein gewählter Amtsträger, z. B. der Präsident, entscheidet, dass seine Meinung (und nicht die des Obersten Gerichtshofs) ausschlaggebend dafür ist, ob eine bestimmte Anordnung oder Maßnahme der Exekutive gegen die Verfassung verstößt. Diese Kontroverse entstand schon früh in der Geschichte des neuen Staates und wurde durch die bahnbrechende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Fall Marbury v. Madison (1803) berühmt.
In seinem Schreiben für das Gericht entschied der Oberste Richter John Marshall: „Fragen, die politischer Natur sind oder die laut Verfassung und Gesetz der Exekutive vorgelegt werden, können nicht vor diesem Gericht behandelt werden.“ Rechtsfragen hingegen – insbesondere Angelegenheiten, die die Auslegung der Verfassung selbst betreffen – fallen in den Zuständigkeitsbereich der Judikative.
At a time of escalating global turmoil, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided.
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Der ikonische Status der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Marbury ergibt sich aus den folgenden Worten: „Es ist ausdrücklich die Aufgabe und Pflicht der Rechtsprechung, zu sagen, was das Gesetz ist. Diejenigen, die die Regel auf bestimmte Fälle anwenden, müssen diese Regel notwendigerweise erläutern und auslegen. Wenn zwei Gesetze miteinander in Konflikt stehen, müssen die Gerichte über die Anwendung jedes einzelnen Gesetzes entscheiden“.
Im Marbury-Prozess erklärte der Oberste Gerichtshof zum ersten Mal, dass es einzig und allein Sache der Judikative sei, das letzte Wort über die Bedeutung der Verfassung zu haben und darüber zu entscheiden, ob bestimmte Maßnahmen der Legislative oder der Exekutive im Widerspruch zu deren Bestimmungen stehen. Wenn die Legislative anderer Meinung ist ‑ und darum ging es dem Gerichtshof in der Rechtssache Marbury ‑, muss sie sich der übergeordneten Autorität des Obersten Gerichtshofs beugen. Das Gleiche gilt für den Präsidenten.
Es sei denn, dies ist nicht der Fall. Im Fall Worcester v. Georgia (1832) zum Beispiel entschied der Oberste Gerichtshof, dass das indigene Volk der Cherokee eine unabhängige politische Gemeinschaft darstellte, für die die Gesetze des Staates Georgia nicht galten. Dies bedeutete, dass ein Missionar, der unter den Cherokee lebte, nicht strafrechtlich verfolgt werden konnte, weil er sich weigerte, einen Eid auf die Gesetze Georgias abzulegen.
Obwohl die Geschichte (die Vance zitiert) wahrscheinlich nicht wahr ist, soll Präsident Andrew Jackson auf die Entscheidung des Gerichtshofs mit den Worten reagiert haben: „John Marshall hat seine Entscheidung getroffen, jetzt soll er sie durchsetzen“. Und tatsächlich hinderte die Entscheidung des Gerichts Jackson nicht daran, Bundestruppen zu entsenden, um die Cherokee von ihrem Land zu vertreiben. Das Ergebnis war der „Pfad der Tränen“: ein Gewaltmarsch in das Indianergebiet (heute Oklahoma), den schätzungsweise 10.000 amerikanische Ureinwohner nicht überlebten.
Etwas anders gelagert war der Widerstand der Südstaaten gegen die Befugnis des Gerichtshofs, die Rassentrennung in öffentlichen Schulen aufzuheben, wie es in der Entscheidung Brown v. Board of Education (1954) angeordnet worden war. Auf direkten Befehl von Präsident Dwight D. Eisenhower hielten Bundestruppen einen feindseligen Mob zurück und eskortierten junge schwarze Schüler (bekannt als die „Little Rock Nine“) sicher in eine öffentliche High School, die bis dahin ausschließlich von Weißen besucht worden war.
Aber was wäre, wenn Eisenhower sich entschieden hätte, nicht gegen den Widerstand der Rassentrenner gegen das Brown-Urteil vorzugehen? Die USA wären heute sicherlich ein anderes Land.
An einem ähnlichen Scheideweg steht derzeit die amerikanische Republik. Die Frage ist nicht nur, welche nationale Politik die gewählten Volksvertreter umsetzen werden. Vielmehr geht es darum, ob die gewählten Volksvertreter in der Lage sein werden, die Verfassungsordnung selbst zu verändern, sei es durch direktes Handeln oder durch strategische Untätigkeit.
Ungeachtet der Meinung von Vance steht fest, dass es im Rahmen der amerikanischen Verfassung „ausdrücklich Sache und Pflicht der Gerichte [und nicht der Exekutive] ist, zu sagen, was Gesetz ist“. Indem die Exekutive unter Trump auf ihrer eigenen Vormachtstellung besteht, versucht sie in Wirklichkeit, den verfassungsmäßigen Rahmen der Gewaltenteilung zwischen den gleichberechtigten Zweigen der amerikanischen Regierung zu ändern.
Trump hat nicht die verfassungsmäßige Autorität, diese Änderung durchzuführen. Die gegenwärtigen Umstände legen nahe, dass das amerikanische Volk die demokratische Republik, die seine Vorfahren gegründet haben, nur wiederherstellen kann, indem es seine ursprüngliche souveräne Macht durch Wahlen, Massenproteste oder andere Formen kollektiven Handelns ausübt.
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US Vice President J.D. Vance's speech at this year's Munich Security Conference made it clear that the long postwar era of Atlanticism is over, and that Europeans now must take their sovereignty into their own hands. With ample resources to do so, all that is required is the collective political will.
explains what the European Union must do now that America has walked away from the transatlantic relationship.
Donald Trump has upended seven decades of US foreign policy in a matter of weeks, leaving global leaders aghast and bewildered. But while his actions may seem unparalleled, there is a precedent for his political blitzkrieg: Mao Zedong, who had an even more impressive penchant for chaos and disruption.
sees obvious and troubling parallels between the US president and Mao Zedong.
NEW YORK – US-Vizepräsident J.D. Vance erklärte kürzlich, dass „Richter nicht die legitime Macht der Exekutive kontrollieren sollten“. Dieser Schuss vor den Bug der Bundesjustiz droht, die lange Zeit vorherrschende Auffassung zu erschüttern, dass die Gerichte das letzte Wort darüber haben sollten, was Gesetze bedeuten und erfordern. Vor dem Hintergrund der verfassungsrechtlich fragwürdigen Exekutivdekrete von Präsident Donald Trump, wie der Abschaffung des Geburtsrechts und der Auflösung von Verwaltungsbehörden, die vom Kongress genehmigt waren, wirft Vances Provokation ein Schlaglicht auf die sich anbahnende Verfassungskrise in Amerika.
Der Kern des Problems liegt in einer einfachen Feststellung: Nationale Wahlen sind keine Verfassungskonvente. Verfassungskonvente sind einmalige Ereignisse, die die grundlegenden Normen und Verfahren für die die legitime Ausübung der Staatsgewalt festlegen. Im Jahr 1787 erarbeitete der amerikanische Verfassungskonvent einen politischen und rechtlichen Entwurf, der eine besondere Regierungsform (eine demokratische, föderale Republik) etablierte. Diese sollte an grundlegende Normen gebunden sein (individuelle Rechte sowie die Grundsätze eines fairen Verfahrens und der Gleichbehandlung), die die Ausübung staatlicher Macht begrenzen. Darüber hinaus wurde ein Verfahren festgelegt, nach dem die Verfassung in Kraft treten würde (Ratifizierung durch die Bundesstaaten).
Der Grundgedanke der von der amerikanischen Verfassung geschaffenen Republik ist, dass die Funktionen der Regierung von drei gleichberechtigten Zweigen ausgeübt werden müssen, um die Freiheit vor der Bedrohung durch eine Tyrannei zu schützen. Das bedeutet, dass jeder Zweig in seiner eigenen Funktion mehr oder weniger autonom ist. So regelt der Kongress als Gesetzgeber die Politik und die Ausgaben des Bundes; die Exekutive setzt die Politik um und verteidigt die nationale Sicherheit; und die Gerichte legen die Gesetze und die Verfassung aus.
Durch Wahlen bestimmt die Bevölkerung, wer ihre Interessen innerhalb dieser Verfassungsordnung vertritt. Die Gewählten können diesen Rahmen nicht nach Belieben verändern. Sie können zum Beispiel Wahlen nicht einfach abbrechen oder das Ergebnis einer freien und fairen Wahl für ungültig erklären. Ebenso wenig können sie die Grundregeln für die Ausübung der Staatsgewalt ändern. Sie können z. B. individuelle Rechte nicht außer Kraft setzen oder die Grundsätze eines fairen Verfahrens und der Gleichbehandlung nicht ungestraft verletzen.
Schwieriger wird es jedoch, wenn ein gewählter Amtsträger, z. B. der Präsident, entscheidet, dass seine Meinung (und nicht die des Obersten Gerichtshofs) ausschlaggebend dafür ist, ob eine bestimmte Anordnung oder Maßnahme der Exekutive gegen die Verfassung verstößt. Diese Kontroverse entstand schon früh in der Geschichte des neuen Staates und wurde durch die bahnbrechende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten im Fall Marbury v. Madison (1803) berühmt.
In seinem Schreiben für das Gericht entschied der Oberste Richter John Marshall: „Fragen, die politischer Natur sind oder die laut Verfassung und Gesetz der Exekutive vorgelegt werden, können nicht vor diesem Gericht behandelt werden.“ Rechtsfragen hingegen – insbesondere Angelegenheiten, die die Auslegung der Verfassung selbst betreffen – fallen in den Zuständigkeitsbereich der Judikative.
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Der ikonische Status der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs in der Rechtssache Marbury ergibt sich aus den folgenden Worten: „Es ist ausdrücklich die Aufgabe und Pflicht der Rechtsprechung, zu sagen, was das Gesetz ist. Diejenigen, die die Regel auf bestimmte Fälle anwenden, müssen diese Regel notwendigerweise erläutern und auslegen. Wenn zwei Gesetze miteinander in Konflikt stehen, müssen die Gerichte über die Anwendung jedes einzelnen Gesetzes entscheiden“.
Im Marbury-Prozess erklärte der Oberste Gerichtshof zum ersten Mal, dass es einzig und allein Sache der Judikative sei, das letzte Wort über die Bedeutung der Verfassung zu haben und darüber zu entscheiden, ob bestimmte Maßnahmen der Legislative oder der Exekutive im Widerspruch zu deren Bestimmungen stehen. Wenn die Legislative anderer Meinung ist ‑ und darum ging es dem Gerichtshof in der Rechtssache Marbury ‑, muss sie sich der übergeordneten Autorität des Obersten Gerichtshofs beugen. Das Gleiche gilt für den Präsidenten.
Es sei denn, dies ist nicht der Fall. Im Fall Worcester v. Georgia (1832) zum Beispiel entschied der Oberste Gerichtshof, dass das indigene Volk der Cherokee eine unabhängige politische Gemeinschaft darstellte, für die die Gesetze des Staates Georgia nicht galten. Dies bedeutete, dass ein Missionar, der unter den Cherokee lebte, nicht strafrechtlich verfolgt werden konnte, weil er sich weigerte, einen Eid auf die Gesetze Georgias abzulegen.
Obwohl die Geschichte (die Vance zitiert) wahrscheinlich nicht wahr ist, soll Präsident Andrew Jackson auf die Entscheidung des Gerichtshofs mit den Worten reagiert haben: „John Marshall hat seine Entscheidung getroffen, jetzt soll er sie durchsetzen“. Und tatsächlich hinderte die Entscheidung des Gerichts Jackson nicht daran, Bundestruppen zu entsenden, um die Cherokee von ihrem Land zu vertreiben. Das Ergebnis war der „Pfad der Tränen“: ein Gewaltmarsch in das Indianergebiet (heute Oklahoma), den schätzungsweise 10.000 amerikanische Ureinwohner nicht überlebten.
Etwas anders gelagert war der Widerstand der Südstaaten gegen die Befugnis des Gerichtshofs, die Rassentrennung in öffentlichen Schulen aufzuheben, wie es in der Entscheidung Brown v. Board of Education (1954) angeordnet worden war. Auf direkten Befehl von Präsident Dwight D. Eisenhower hielten Bundestruppen einen feindseligen Mob zurück und eskortierten junge schwarze Schüler (bekannt als die „Little Rock Nine“) sicher in eine öffentliche High School, die bis dahin ausschließlich von Weißen besucht worden war.
Aber was wäre, wenn Eisenhower sich entschieden hätte, nicht gegen den Widerstand der Rassentrenner gegen das Brown-Urteil vorzugehen? Die USA wären heute sicherlich ein anderes Land.
An einem ähnlichen Scheideweg steht derzeit die amerikanische Republik. Die Frage ist nicht nur, welche nationale Politik die gewählten Volksvertreter umsetzen werden. Vielmehr geht es darum, ob die gewählten Volksvertreter in der Lage sein werden, die Verfassungsordnung selbst zu verändern, sei es durch direktes Handeln oder durch strategische Untätigkeit.
Ungeachtet der Meinung von Vance steht fest, dass es im Rahmen der amerikanischen Verfassung „ausdrücklich Sache und Pflicht der Gerichte [und nicht der Exekutive] ist, zu sagen, was Gesetz ist“. Indem die Exekutive unter Trump auf ihrer eigenen Vormachtstellung besteht, versucht sie in Wirklichkeit, den verfassungsmäßigen Rahmen der Gewaltenteilung zwischen den gleichberechtigten Zweigen der amerikanischen Regierung zu ändern.
Trump hat nicht die verfassungsmäßige Autorität, diese Änderung durchzuführen. Die gegenwärtigen Umstände legen nahe, dass das amerikanische Volk die demokratische Republik, die seine Vorfahren gegründet haben, nur wiederherstellen kann, indem es seine ursprüngliche souveräne Macht durch Wahlen, Massenproteste oder andere Formen kollektiven Handelns ausübt.
Deutsch von Andreas Hubig