Klima und Exportstärke

BERLIN – Da hat die Euro-Krise gerade an Schrecken verloren, schon scheint Europa auf das nächste Desaster zuzusteuern: die vermeintlich explodierenden Energiepreise - als Folge allzu ambitionierter Klimapolitik, wie Kritiker sagen. Seit Anfang der 2000er-Jahre haben sich die Strompreise für die Industrie in etwa verdoppelt, sind damit deutlich stärker gestiegen als in den USA. Die Unternehmen zahlen im Schnitt heute doppelt so viel für Gas als ihre US-Wettbewerber. Werden Europas Versuche, das Klima über steigende Kosten für schmutzige Energie zu retten, also bald dazu führen, die industrielle Basis zu zerstören? Das wäre in der Tat ein schlechtes Geschäft.

Auf den ersten Blick scheinen die Zahlen jene zu bestätigen, die den Absturz nahen sehen. Wie könnten so große Preisunterschiede ohne Einfluss auf die Wirtschaftsstärke bleiben? Die Wirklichkeit scheint dennoch komplizierter. Wenn hohe Strom- und Gaspreise die Exportkraft stark beeinträchtigen würden – wie kann es dann sein, dass gerade Deutschland, wo die Klimapolitik so besonders ehrgeizig ist, in den vergangenen fünfzehn Jahren seine Exporte sogar atemberaubend verdoppelt hat – trotz fast ebenso eindrucksvoll hochgeschnellter Energiekosten?

Womöglich ist die Gleichung ja eine ganz andere. Die praktische Erfahrung deutet darauf hin, dass der Abbau von CO2-Emissionen in vielen Fällen sogar hilft, Unternehmen besser statt schlechter aufzustellen, sie mithin sogar wettbewerbsfähiger zu machen. Darin läge ein enormes Potenzial, den Klimawandel zu bekämpfen und Europas Wirtschaft langfristig zugleich robuster zu machen, so kurios das auch erst einmal klingen mag.

Von großen Exportverlusten wegen ambitionierter Klimapolitik ist bislang wenig zu spüren. Seit 2005, als die Europäische Union den Emissionshandel und damit symbolhaft Kosten für CO2-Ausstoß eingeführt hat, hat die deutsche Industrie weltweit an Marktanteilen gewonnen. Die Gesamtexporte stiegen seitdem um zehn Prozentpunkte schneller als die globale Importnachfrage, wie sich aus Berechnungen der OECD ableiten lässt. Die Ausfuhren der USA, wo die Energiepreise seitdem viel langsamer stiegen, legten nur um 1,2 Punkte schneller zu. Im vergangenen Jahr verloren die Exporte in beiden Ländern – kein Anzeichen bisher für ein energiepreisbedingtes Auseinanderdriften der Wettbewerbsfähigkeit.

Ähnliches gilt selbst für Industriebranchen, die besonders viel Energie brauchen, wie etwa die Chemie. Trotz relativ hoher und steigender Stromkosten ist Europas Chemieindustrie seit 1995 genauso stark gewachsen wie der Rest der Wirtschaft. Die Branche ist heute stark auf hochwertige Produkte spezialisiert, von denen sie deutlich mehr exportiert als importiert.

Wie kann das sein? Der Grund scheint relativ einfach: Die Kosten für Energie spielen offenbar nur eine sehr begrenzte Rolle, wenn es darum geht, wettbewerbsfähig zu sein. Schätzungen für Deutschland ergaben, dass die Energiekosten für den allergrößten Teil der Wirtschaft im Schnitt gerade einmal 1,6 Prozent der Bruttowertschöpfung ausmachen. Selbst wenn die Strompreise stark steigen, kommt das dann nur einer sehr begrenzten zusätzlichen Belastung gleich.

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Zwar ist der Anteil  der Energielasten etwa in der Chemieindustrie höher. Nur gilt für energieintensive Branchen gleichzeitig ja, dass sie von staatlichen Lasten wie der deutschen Umlage zur Förderung erneuerbarer Energien seit jeher befreit sind – gerade um den Standort zu schützen. Dabei zeigt sich selbst in diesen energieintensiven Branchen, dass Wettbewerbsfähigkeit ein sehr viel komplexeres Phänomen und nicht nur durch Kostenvergleiche zu fassen ist. Da spielen qualifizierte Arbeitskräfte und die Vorteile bestehender hiesiger Netzwerke eine offenbar weit größere Rolle. Sonst ließe sich der Erfolg der vergangenen Jahre gar nicht erklären.

Natürlich sind diese Erfolge kein Garant dafür, dass steigende Energiepreise nicht irgendwann doch zum ernsten Problem für Europas Wettbewerbsfähigkeit werden. Immerhin ist seit Jahren nur noch sehr vorsichtig in neue Kapazitäten investiert worden (was zum Teil, aber nicht nur mit der Euro-Krise zu tun haben dürfte). Der Bestand altert. Gerade die deutsche Erfahrung lehrt allerdings auch, dass es andere Antworten auf solche Herausforderungen geben muss, als Klimaziele einfach zurückzudrehen, wie es Kritiker und Industrieskeptiker fordern.

Deutschlands Chemieindustrie ist es ja nicht nur gelungen, trotz steigender Energiekosten wettbewerbsfähig zu bleiben, sondern gleichzeitig auch die CO2-Emissionen eindrucksvoll zu reduzieren. Europaweit liegt der Treibhausgasausstoß der Branche heute um rund die Hälfte niedriger als 1990 – bei einer zeitgleich um 20 Prozent gestiegenen Produktion. Da wird heute deutlich mehr sehr viel klimaschonender hergestellt. Oder anders ausgedrückt: Emissionen abzubauen kann mit steigender Wettbewerbsfähigkeit durchaus gut einhergehen.

In einer Pilotstudie für die European Climate Foundation haben die Branchenexperten von McKinsey eine Reihe von Chemieprodukten im Detail analysiert und dabei ein Potenzial von noch einmal 50 bis 75 Prozent CO2-Abbau ausgemacht. Mehr noch: In geschätzten 60 bis 70 Prozent dieser Fälle würde der Emissionsabbau die Wettbewerbsfähigkeit der betreffenden Unternehmen entweder gar nicht berühren – oder sogar verbessern, weil etwa durch stärkeres Recycling die Kostenlast sogar sinkt. In vielen Fällen brächte die Suche nach saubereren Produkten Innovationsschübe mit sich.

Es wäre natürlich absurd, Europas Energierechnung im Namen des Klimaschutzes einfach immer weiter steigen zu lassen. Es gibt bessere Wege, die Emissionen abzubauen und das Klima zu retten, als nur die Kosten für Industrie und Verbraucher zu erhöhen. Es wäre allerdings genauso absurd, aus Angst die Klimaambitionen zurückzuschrauben. Damit wäre weder dem Klima gedient, noch wäre garantiert, dass die Unternehmen dann wirklich wettbewerbsfähiger wären, wenn die Wettbewerbsfähigkeit nur sehr bedingt an diesen Kosten hängt.

Es ist an der Zeit, die simple Gleichung zu verwerfen, wonach ambitionierte Klimapolitik immer schlecht für die Wirtschaft ist – und umgekehrt. Das neue Paradigma sollte sein, viel gezielter auf jene Instrumente zu setzen, die gleichzeitig den CO2-Ausstoß reduzieren, und helfen, bessere und sauberere Produkte zu geringeren Kosten herzustellen. Das böte etwa Europas Chemieunternehmen zugleich die Chance, neue Märkte gerade in jenen Schwellenländern zu sichern, die mit zunehmender Entwicklung immer mehr anspruchsvolle und saubere Chemie-Produkte nachfragen – jene Produkte, in denen Europa schon heute eine starke Position hat.

Das Letzte, was Europas krisengeschüttelte Wirtschaft bräuchte, wäre ein neues Wettbewerbsfähigkeitsproblem. Nur sind ambitionierte Klimaziele, wie sie Deutschland und andere erfolgreiche Länder aufgestellt haben, nicht das Problem. Sie könnten sogar Teil der Lösung sein.

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