WELLINGTON: Albert Einstein soll einmal gesagt haben, man solle „alles so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher“. Die aktuelle Debatte über die globale Epidemie nicht übertragbarer Krankheiten (NCDs – chronische Erkrankungen wie Herzerkrankungen, Schlaganfall, Diabetes und Krebs) freilich missachtet diesen Rat. Die Politik vereinfacht die Herausforderung zu sehr, indem sie sich auf die wachsende Prävalenz derartiger Krankheiten – die schiere Zahl der Menschen, die NCDs bekommen – konzentriert, die meiner Ansicht nach gar nicht das Problem ist.
Es stimmt, fast alle Regionen der Welt erleben zurzeit eine zunehmende Prävalenz der NCDs – u.a. weil immer weniger Menschen an akuten Infektionskrankheiten und Verletzungen sterben und somit lange genug leben, um sich diese Erkrankungen zuzuziehen. Aber NCDs nehmen noch aus vielen anderen demografischen und epidemiologischen Gründen zu – und deren Verständnis hat Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik und sogar die wirtschaftliche Entwicklung.
In großen Teilen der Welt wachsen die Bevölkerungen nicht nur, sondern altern gleichzeitig. Die Prävalenz der meisten NCDs nimmt mit dem Alter zu – eine Folge der kumulativen Exposition gegenüber Risikofaktoren (z.B. ungesundem Verhalten wie Tabakkonsum und biologischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck) im Laufe eines Lebens. Unter ansonsten gleichen Bedingungen gibt es in größeren und älteren Bevölkerungen mehr Menschen mit NCDs.
Dieser Effekt der „Bevölkerungsalterung“ ist gut bekannt. Deutlich weniger gut verstehen wir die epidemiologischen Kräfte, die NCD-Dynamiken antreiben. Aus epidemiologischer Sicht wird die Prävalenz von NCDs bestimmt durch die Differenz zwischen der Erkrankungsrate vorher gesunder Menschen (Inzidenz) und der Rate, mit der Kranke entweder genesen oder (aus beliebigem Grund) sterben. Übersteigt die Zunahme die Abnahme, steigt die Prävalenz.
Während der vergangenen Jahrzehnte haben sich Lebensstandard, Lebensstil und biologische Risikofaktoren im Allgemeinen weltweit verbessert (Fettleibigkeit ist eine Ausnahme). Daher hat die Inzidenz der meisten NCDs mit Ausnahme von Diabetes tatsächlich abgenommen. Trotzdem hat die NCD-Prävalenz zugenommen, weil die Steigerungen bei den Überlebensraten die Verringerungen bei der Inzidenz übersteigen. Zunahme und Abnahme sind beide gefallen, aber die Zunahme fiel stärker und schneller.
Dem jüngsten drastischen Anstieg der Überlebensraten im Alter liegen mehrere Faktoren zugrunde. Menschen, die eine chronische Krankheit haben, sterben jetzt häufig nicht mehr an dieser Krankheit, sondern aus anderen Gründen – z.B. anderen NCDs, akuten Infektionen und Verletzungen. Insbesondere die breiteren Kreisen zugängliche und qualitativ verbesserte Krankenversorgung hat die Überlebensraten von Menschen mit NCDs einschließlich Diabetes deutlich erhöht.
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Doch ist die verbesserte Krankenversorgung nicht allein für den zu beobachtenden Anstieg der Überlebensraten verantwortlich. Verbesserungen beim Lebensstil und den damit einhergehenden Risikofaktoren tragen ebenfalls hierzu bei. Eine Verringerung des Anteils an Menschen, die Tabak konsumieren, sich ungesund ernähren, nicht körperlich betätigen und/oder einen erhöhten Blutdruck und Cholesterinspiegel haben, tut mehr, als nur Erkrankungen zu verhindern. Nicht nur gibt es heute weniger NCD-Fälle, sondern die auftretenden Fälle sind in der Tendenz weniger schwerwiegend und schreiten langsamer voran, als dies früher der Fall war.
Infolgedessen spiegelt die in den letzten Jahrzehnten beobachtbare Zunahme der Prävalenz vieler NCDs überwiegend nur die Zunahme der Frühstadien der jeweiligen Erkrankungen wieder. Die zunehmende Gesamtprävalenz der Erkrankungen verbirgt die abnehmende Prävalenz von Erkrankungen im Spätstadium oder von komplizierten Erkrankungen. Ich habe diese Verlagerung hin zum milderen Ende des NCD-Spektrums als „Schwere-Effekt“ bezeichnet.
Die meisten mit NCDs verbunden gesundheitlichen Probleme – wie chronische Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen, Behinderungen und vorzeitiger Tod – sind mit Erkrankungen im Spätstadium oder mit komplizierten Erkrankungen verknüpft. Wann immer der „Schwere-Effekt“ den „Prävalenzeffekt“ übersteigt, geht die zunehmende Prävalenz von NCDs mit abnehmenden gesundheitlichen Auswirkungen und nicht wie allgemein angenommen mit zunehmenden krankheitsbedingten Konsequenzen einher.
Dies ist das Paradoxon der nicht übertragbaren Krankheiten: Objektive Messgrößen für einen schlechten Gesundheitszustand (schwere Symptome, Behinderungen, vorzeitiger Tod) fallen, obwohl die Prävalenz dieser Krankheiten zunimmt. Und während dieses Paradoxon keine Entschuldigung ist für Nachlässigkeit im Umgang mit einem Problem, dass die Vereinten Nationen zu Recht als globale NCD-Krise bezeichnet haben, hat es praktische Auswirkungen für diesen Umgang.
Erstens sollte unsere Hauptsorge nicht der Verringerung der Krankheitsprävalenz gelten, sondern den von diesen Krankheiten ausgehenden Belastungen – den gesundheitlichen Auswirkungen, wie sie sich anhand von Behinderungen und vorzeitigem Tod messen lassen. Anders ausgedrückt: Die Ressourcen sollten entsprechend den Belastungen und nicht gemäß der Prävalenz eingesetzt werden, insbesondere angesichts zunehmender Komorbidität (zwei oder mehr Erkrankungen desselben Patienten).
Zweitens sollten wir uns weniger auf die Verbesserung der Krankenversorgung und mehr auf die Krankheitsvermeidung konzentrieren, z.B. indem wir den Tabakkonsum bekämpfen, die Chancen zur sportlichen Betätigung verbessern und eine gesunde Ernährung einfacher und bezahlbarer machen. Ein verstärkter Fokus auf die Prävention kann nicht nur die Inzidenz von NCDs verringern, sondern auch dafür sorgen, dass jene Fälle, die weiterhin auftreten, tendenziell weniger schwerwiegend sind und langsamer fortschreiten, was den Spielraum für eine preiswerte, aber wirksame Behandlung im Rahmen der Primärversorgung erhöht. Beide Mechanismen – geringere Inzidenz und geringerer Schweregrad – werden zu geringeren krankheitlichen Auswirkungen beitragen, selbst wenn die Prävalenz der NCDs weiter zunimmt.
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At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
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WELLINGTON: Albert Einstein soll einmal gesagt haben, man solle „alles so einfach machen wie möglich, aber nicht einfacher“. Die aktuelle Debatte über die globale Epidemie nicht übertragbarer Krankheiten (NCDs – chronische Erkrankungen wie Herzerkrankungen, Schlaganfall, Diabetes und Krebs) freilich missachtet diesen Rat. Die Politik vereinfacht die Herausforderung zu sehr, indem sie sich auf die wachsende Prävalenz derartiger Krankheiten – die schiere Zahl der Menschen, die NCDs bekommen – konzentriert, die meiner Ansicht nach gar nicht das Problem ist.
Es stimmt, fast alle Regionen der Welt erleben zurzeit eine zunehmende Prävalenz der NCDs – u.a. weil immer weniger Menschen an akuten Infektionskrankheiten und Verletzungen sterben und somit lange genug leben, um sich diese Erkrankungen zuzuziehen. Aber NCDs nehmen noch aus vielen anderen demografischen und epidemiologischen Gründen zu – und deren Verständnis hat Auswirkungen auf die Gesundheitspolitik und sogar die wirtschaftliche Entwicklung.
In großen Teilen der Welt wachsen die Bevölkerungen nicht nur, sondern altern gleichzeitig. Die Prävalenz der meisten NCDs nimmt mit dem Alter zu – eine Folge der kumulativen Exposition gegenüber Risikofaktoren (z.B. ungesundem Verhalten wie Tabakkonsum und biologischen Risikofaktoren wie Bluthochdruck) im Laufe eines Lebens. Unter ansonsten gleichen Bedingungen gibt es in größeren und älteren Bevölkerungen mehr Menschen mit NCDs.
Dieser Effekt der „Bevölkerungsalterung“ ist gut bekannt. Deutlich weniger gut verstehen wir die epidemiologischen Kräfte, die NCD-Dynamiken antreiben. Aus epidemiologischer Sicht wird die Prävalenz von NCDs bestimmt durch die Differenz zwischen der Erkrankungsrate vorher gesunder Menschen (Inzidenz) und der Rate, mit der Kranke entweder genesen oder (aus beliebigem Grund) sterben. Übersteigt die Zunahme die Abnahme, steigt die Prävalenz.
Während der vergangenen Jahrzehnte haben sich Lebensstandard, Lebensstil und biologische Risikofaktoren im Allgemeinen weltweit verbessert (Fettleibigkeit ist eine Ausnahme). Daher hat die Inzidenz der meisten NCDs mit Ausnahme von Diabetes tatsächlich abgenommen. Trotzdem hat die NCD-Prävalenz zugenommen, weil die Steigerungen bei den Überlebensraten die Verringerungen bei der Inzidenz übersteigen. Zunahme und Abnahme sind beide gefallen, aber die Zunahme fiel stärker und schneller.
Dem jüngsten drastischen Anstieg der Überlebensraten im Alter liegen mehrere Faktoren zugrunde. Menschen, die eine chronische Krankheit haben, sterben jetzt häufig nicht mehr an dieser Krankheit, sondern aus anderen Gründen – z.B. anderen NCDs, akuten Infektionen und Verletzungen. Insbesondere die breiteren Kreisen zugängliche und qualitativ verbesserte Krankenversorgung hat die Überlebensraten von Menschen mit NCDs einschließlich Diabetes deutlich erhöht.
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Doch ist die verbesserte Krankenversorgung nicht allein für den zu beobachtenden Anstieg der Überlebensraten verantwortlich. Verbesserungen beim Lebensstil und den damit einhergehenden Risikofaktoren tragen ebenfalls hierzu bei. Eine Verringerung des Anteils an Menschen, die Tabak konsumieren, sich ungesund ernähren, nicht körperlich betätigen und/oder einen erhöhten Blutdruck und Cholesterinspiegel haben, tut mehr, als nur Erkrankungen zu verhindern. Nicht nur gibt es heute weniger NCD-Fälle, sondern die auftretenden Fälle sind in der Tendenz weniger schwerwiegend und schreiten langsamer voran, als dies früher der Fall war.
Infolgedessen spiegelt die in den letzten Jahrzehnten beobachtbare Zunahme der Prävalenz vieler NCDs überwiegend nur die Zunahme der Frühstadien der jeweiligen Erkrankungen wieder. Die zunehmende Gesamtprävalenz der Erkrankungen verbirgt die abnehmende Prävalenz von Erkrankungen im Spätstadium oder von komplizierten Erkrankungen. Ich habe diese Verlagerung hin zum milderen Ende des NCD-Spektrums als „Schwere-Effekt“ bezeichnet.
Die meisten mit NCDs verbunden gesundheitlichen Probleme – wie chronische Schmerzen, Schlafstörungen, Depressionen, Behinderungen und vorzeitiger Tod – sind mit Erkrankungen im Spätstadium oder mit komplizierten Erkrankungen verknüpft. Wann immer der „Schwere-Effekt“ den „Prävalenzeffekt“ übersteigt, geht die zunehmende Prävalenz von NCDs mit abnehmenden gesundheitlichen Auswirkungen und nicht wie allgemein angenommen mit zunehmenden krankheitsbedingten Konsequenzen einher.
Dies ist das Paradoxon der nicht übertragbaren Krankheiten: Objektive Messgrößen für einen schlechten Gesundheitszustand (schwere Symptome, Behinderungen, vorzeitiger Tod) fallen, obwohl die Prävalenz dieser Krankheiten zunimmt. Und während dieses Paradoxon keine Entschuldigung ist für Nachlässigkeit im Umgang mit einem Problem, dass die Vereinten Nationen zu Recht als globale NCD-Krise bezeichnet haben, hat es praktische Auswirkungen für diesen Umgang.
Erstens sollte unsere Hauptsorge nicht der Verringerung der Krankheitsprävalenz gelten, sondern den von diesen Krankheiten ausgehenden Belastungen – den gesundheitlichen Auswirkungen, wie sie sich anhand von Behinderungen und vorzeitigem Tod messen lassen. Anders ausgedrückt: Die Ressourcen sollten entsprechend den Belastungen und nicht gemäß der Prävalenz eingesetzt werden, insbesondere angesichts zunehmender Komorbidität (zwei oder mehr Erkrankungen desselben Patienten).
Zweitens sollten wir uns weniger auf die Verbesserung der Krankenversorgung und mehr auf die Krankheitsvermeidung konzentrieren, z.B. indem wir den Tabakkonsum bekämpfen, die Chancen zur sportlichen Betätigung verbessern und eine gesunde Ernährung einfacher und bezahlbarer machen. Ein verstärkter Fokus auf die Prävention kann nicht nur die Inzidenz von NCDs verringern, sondern auch dafür sorgen, dass jene Fälle, die weiterhin auftreten, tendenziell weniger schwerwiegend sind und langsamer fortschreiten, was den Spielraum für eine preiswerte, aber wirksame Behandlung im Rahmen der Primärversorgung erhöht. Beide Mechanismen – geringere Inzidenz und geringerer Schweregrad – werden zu geringeren krankheitlichen Auswirkungen beitragen, selbst wenn die Prävalenz der NCDs weiter zunimmt.