88efae0246f86fc00bbdde0c_px2149c.jpg Pedro Molina

Die Wiedergeburt des Nationalstaats

CAMBRIDGE; MASS.: Einer der Grundmythen unserer Zeit ist, dass die Globalisierung den Nationalstaat zur Bedeutungslosigkeit verdammt habe. Die Revolution im Transport- und Kommunikationswesen, so hören wir, habe Grenzen eingedampft und die Welt schrumpfen lassen. Neue Regierungsmodi – von transnationalen Regulierungsnetzen über internationale zivilgesellschaftliche Organisationen bis hin zu multilateralen Institutionen – würden die nationalen Gesetzgeber überwinden und ersetzen. Die nationale Politik sei angesichts der globalen Märkte weitgehend machtlos.

Die globale Finanzkrise hat diesen Mythos zerschmettert. Wer hat denn die Banken gerettet, für Liquidität gesorgt, Steuerimpulse gesetzt und die Sicherheitsnetze für die Arbeitslosen zur Verfügung gestellt, um eine eskalierende Katastrophe aufzuhalten? Wer ist dabei, die Regeln für die Aufsicht und Regulierung der Finanzmärkte umzuschreiben, um zu verhindern, dass sich die Situation wiederholt? Wen betrachten die Menschen als hauptverantwortlich für alles, das schief geht? Die Antwort ist immer die gleiche: die nationalen Regierungen. Die G20, der Internationale Währungsfonds und der Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht waren überwiegend Nebenschauplätze.

Selbst in Europa, wo die regionalen Institutionen vergleichsweise stark sind, werden die politischen Entscheidungen überwiegend von nationalen Interessen und nationalen Politikern bestimmt – primär von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Wäre Merkel in Bezug auf die stark verschuldeten Länder Europas weniger sparverliebt gewesen und hätte sie es geschafft, ihre Wähler von der Notwendigkeit eines anderen Ansatzes zu überzeugen, hätte sich die Krise in der Eurozone ganz anders entwickelt.

Doch obwohl der Nationalstaat überlebt, liegt sein Ruf in Scherben. Er steht intellektuell von zwei Seiten aus unter Beschuss. Erstens ist da die Kritik der Ökonomen, die die Regierungen als Hemmnis für den freien Waren- und Kapitalfluss und die Freizügigkeit auf der Welt betrachten. Man müsse die nationale Politik hindern, sich mit ihren Regeln und Barrieren einzumischen, so behaupten sie, und dann würden die globalen Märkte das schon machen und dabei eine stärker integrierte, effizientere Weltwirtschaft schaffen.

Aber wer soll den Märkten Regeln geben wenn nicht die Nationalstaaten? Laissez-faire ist ein Rezept für weitere Finanzkrisen und größere politische Gegenbewegungen. Mehr noch: Es würde erfordern, die Wirtschaftspolitik internationalen Technokraten zu überantworten, die vom Gezerre und Geschiebe der Politik weit weg sind – eine Haltung, die Demokratie und politische Rechenschaftspflicht schwer beschränkt.

Um es auf den Punkt zu bringen: Laissez-faire und internationalen Technokratie bieten keine plausible Alternative zum Nationalstaat. Die Erosion des Nationalstaates nützt den globalen Märkten wenig, solange praktikable globale Lenkungsmechanismen fehlen.

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Zweitens gibt es kosmopolitische Ethiker, die die Künstlichkeit nationaler Grenzen anprangern. Der Philosoph Peter Singer hat es so formuliert: Die Kommunikationsrevolution habe ein „globales Publikum“ hervorgebracht, dass die Basis für eine „globale Ethik“ schaffe. Wenn wir uns mit der Nation identifizieren, bleibe unsere Moral national bestimmt. Je mehr wir uns aber mit der Welt als Ganzer assoziierten, desto stärker würden sich auch unsere Loyalitäten ausweiten. In ähnlicher Weise spricht der Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen von unseren „multiplen Identitäten“ – ethnischen, religiösen, nationalen, lokalen, beruflichen und politischen –, von denen viele nationale Grenzen überschreiten.

Es ist unklar, wie viel hiervon Wunschdenken ist und wie viel auf realen Verlagerungen von Identitäten und Bindungen beruht. Umfragen zeigen: Die Bindung an den Nationalstaat ist nach wie vor stark.

Vor einigen Jahren wurden im World Values Survey Teilnehmer in Dutzenden von Ländern über ihre Bindung zu ihren örtlichen Gemeinwesen, Nationen und zur Welt insgesamt befragt. Es überrascht nicht, dass die Zahl derer, die sich selbst als Bürger von Nationalstaaten ansahen, die Zahl jener, die sich als Weltbürger betrachteten, deutlich übertraf. Das Überraschende ist jedoch, dass in den USA, Europa, Indien, China und den meisten anderen Regionen die nationale Identität selbst die lokale Identität überschattete.

Dieselben Umfragen zeigen, dass jüngere Menschen, Hochgebildete und diejenigen, die sich selbst zur Oberschicht rechnen, sich eher mit der Welt assoziieren. Trotzdem ist es schwierig, irgendein Bevölkerungssegment zu finden, in dem die Bindung an die Weltgemeinschaft die Bindung an das Land überwiegt.

So groß der Rückgang der Transport- und Kommunikationskosten auch ist, die geografischen Gegebenheiten bleiben. Wirtschaftliche, soziale und politische Aktivitäten sind nach wie vor auf der Basis von Vorlieben, Bedürfnissen und historischen Entwicklungslinien gebündelt, die weltweit variieren.

Die geografische Entfernung ist heute eine ebenso starke Determinante wie vor einem halben Jahrhundert. Selbst das Internet, so hat sich gezeigt, ist weniger grenzenlos, als es scheint: Eine Studie hat festgestellt, dass Amerikaner viel eher Websites aus entfernungsmäßig näher liegenden als aus weit entfernten Ländern besuchen – und zwar selbst, wenn man Faktoren wie Sprache, Einkommen usw. ausfiltert.

Das Problem ist, dass wir noch immer dem Mythos vom Niedergang des Nationalstaats verfallen sind. Unsere politischen Führer verweisen auf ihre Machtlosigkeit, die Intellektuellen denken sich realitätsferne Global-Governance-Systeme aus, und die Verlierer machen zunehmend Einwanderung oder Importe verantwortlich. Und wenn man von der neuerlichen Stärkung des Nationalstaates spricht, suchen die anständigen Leute Deckung, als hätte man vorgeschlagen, die Pest wiederzubeleben.

Sicher, die Geografie der Bindungen und Identitäten ist nichts Feststehendes; tatsächlich hat sie sich im Verlaufe der Geschichte geändert. Daher sollten wir die Möglichkeit, dass sich in der Zukunft ein echtes globales Bewusstsein und transnationale politische Gemeinwesen entwickeln, nicht völlig von der Hand weisen.

Doch kann man den heutigen Herausforderungen nicht mit Institutionen begegnen, die (noch) nicht existieren. Für den Augenblick müssen die Menschen sich, was Lösungen angeht, noch immer ihren nationalen Regierungen zuwenden, die nach wie vor die besten Aussichten für ein kollektives Handeln bieten. Der Nationalstaat mag ein Überbleibsel aus der Zeit der Französischen Revolution sein, aber er ist alles, was wir haben.

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