jo3311c.jpg John Overmyer

Das neue Auge unseres Verstandes

CAMBRIDGE, MASS.: Die moderne Physik und Kosmologie legen nahe, dass grundlegende Wahrheiten darüber, wie die Natur funktioniert und unser Universum entstanden ist, nur für jene erkennbar sind, die Ereignisse sehen können, die kürzer dauern, als das Licht braucht, um an einem Proton vorbeizuziehen, und deren Sehvermögen Distanzen auflösen kann, die kleiner als ein Atomkern sind. Zum Glück schließt das uns Menschen nicht aus, denn wir können die Augen, mit denen wir geboren sind, verstärken.

Zum Beispiel durch den Large Hadron Collider (LHC). Indem sie in diesem mit beispielloser Energie Protonen gegeneinander schlagen und dabei die vielen Teilchen überwachen, die aus diesen Zusammenstößen hervorgehen – und die Primärereignisse rekonstruieren, die diese hervorgebracht haben –, werden die Physiker tatsächlich das schnellste, hochauflösendste Mikroskop aller Zeiten konstruiert haben, bei dem jedes Proton eine Momentaufnahme des Inneren eines anderen Protons macht.

Der LHC ist ein fantastisches technisches Projekt, über dessen zahlreiche Staunen erregende Merkmale weithin berichtet worden ist. Ich werde mir all dies ersparen und direkt zum Kern der Sache kommen: Welche Erkenntnisse können wir uns von ihm erhoffen?

Definitiv werden wir sehen, wie das Universum beschaffen war, als es eine Tausendstelsekunde alt war, unmittelbar nach dem Urknall. Die Primärereignisse des LHC sind tatsächlich Miniaturknalle, winzige Feuerbälle, die die Urknallbedingungen reproduzieren, wenn auch nur in sehr kleinem Umfang.

Diese Nachschöpfung des Frühuniversums eröffnet uns eine aufregende Möglichkeit. Wir wissen, dass das heutige Universum eine Form von Materie enthält, die so genannte Dunkle Materie, die sich von allem anderen unterscheidet, das wir je beobachtet haben.

Die Dunkle Materie ist tatsächlich nicht dunkel im herkömmlichen Sinne, sondern völlig transparent. Sie gibt weder Licht ab noch nimmt sie es auf (in wesentlichem Umfang), was auch der Grund dafür ist, dass die Astronomen sie tausende von Jahren lang nicht bemerkten, und dies, obwohl dunkle Materie einen fünf Mal so großen Teil der Gesamtmasse des Universums ausmacht wie normale Materie. Erst Ende des 20. Jahrhunderts offenbarte die sorgfältige Beobachtung der Bewegung normaler, sichtbarer Materie den gravitationellen Einfluss einer Menge anderweitig unsichtbaren Stoffes.

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Da der ursprüngliche Urknall Dunkle Materie hervorbrachte, könnten die Miniaturknalle des LHC ggf. noch mehr davon erschaffen. Die Experimentatoren suchen also nach neuen Partikeln mit den richtigen Eigenschaften, um die astronomische Dunkle Materie hervorzubringen: sehr langlebig und nur äußerst schwach mit normaler Materie oder Licht interagierend. Es besteht so eine gute Chance, dass wir herausfinden werden, was diese allgegenwärtige, im Überfluss vorhandene, aber schwer fassbare Substanz ist.

Man stelle sich eine Rasse intelligenter Fische vor, die anfängt, tief über die Welt nachzudenken. Für Jahrtausende betrachteten ihre Vorfahren ihr nasses Umfeld als Selbstverständlichkeit; für sie war es eine „Leere“ – so leer, wie sie es eben fassen konnten. Doch nach der Beschäftigung mit etwas Mechanik und unter Einsatz ihrer Fantasie erkennen diese Physikerfische, dass sie sehr viel einfachere Bewegungsgesetze ableiten können, wenn sie davon ausgehen, dass sie von einem Medium (Wasser) umgeben sind, das das Erscheinungsbild der Dinge kompliziert.

Wir sind derartige Fische. Wir haben entdeckt, dass wir eine Reihe sehr viel einfacherer Gleichungen für die physikalischen Grundlagen erhalten können, wenn wir davon ausgehen, dass das, was wir gewöhnlich als leeren Raum betrachten, tatsächlich ein Medium ist. Wir haben die Auswirkungen des „Wassers“ bemerkt, das wir nutzen, um unsere Gleichungen zu vereinfachen – es verlangsamt Teilchen und macht sie schwer –, aber wir wissen nicht, woraus es besteht.

Der LHC wird uns in die Lage versetzen, die mikroskopische Struktur des universalen Mediums zu erkennen. Die einfachste Vorstellung ist, dass es aus einer neuen Art von Teilchen besteht, dem so genannten „Higgs-Teilchen“, doch vermute ich, dass es so einfach wohl nicht sein dürfte. (Man erhält schönere Gleichungen mit fünf neuen Teilchen, und es könnten sogar noch mehr sein.)

In den 1860er Jahren stellte James Clerk Maxwell die damals bekannten Gleichungen für Elektrizität und Magnetismus, so die damalige Bezeichnung, zusammen und entdeckte dabei eine Widersprüchlichkeit. Er behob diese Widersprüchlichkeit, indem er diesen Gleichungen ein paar neue Bedingungen hinzufügte.

Diese verbesserten Gleichungen, heute als die Maxwell-Gleichungen bekannt, ergaben eine vereinheitlichte Theorie der Elektrizität und des Magnetismus. Die neuen Gleichungen zeigten, dass Licht eine sich bewegende, selbst erneuernde Störung in elektrischen und magnetischen Feldern darstellt, und sie sagten vorher, dass neue Arten von Störungen möglich seien.

Heute bezeichnen wir derartige Störungen als Radiowellen, Mikrowellen, infrarote und ultraviolette Strahlung, Röntgenstrahlung und Gammastrahlung. Wir verwenden sie, um miteinander zu kommunizieren, zu kochen und Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen. Die vereinheitlichte Theorie des Elektromagnetismus hat zu profunden Fortschritten in allen Bereichen der physikalischen Naturwissenschaften geführt, von der Atomphysik (in der Laser und Maser unverzichtbare Hilfsmittel sind) bis hin zur Kosmologie (wo die Mikrowellen-Hintergrundstrahlung unser Fenster zum Urknall ist).

Unser aktuelles Verständnis der Physik, soweit es denn reicht, ist aussagestark und präzise, aber weniger ästhetisch und kohärent, als es sein sollte. Wir haben eigenständige Gleichungen für vier Kräfte: starke, schwache, elektromagnetische und Gravitationskräfte. Dieses Durcheinander erinnert an die fragmentarischen Gleichungen zur Elektrizität und zum Magnetismus vor Maxwell.

Einige von uns haben erweiterte Gleichungen vorgeschlagen, die diese verschiedenen Kräfte zusammenführen. Diese erweiterten Gleichungen, die eine als Supersymmetrie bezeichnete Vorstellung einbinden, sagen zahlreiche neue Effekte vorher. Eine Anzahl dieser prognostizierten Effekte wurden bereits beobachtet (für Experten: winzige Neutrinomassen und Vereinheitlichung von Koppelungen). Doch wie schon Carl Sagan bemerkte: „Außergewöhnliche Behauptungen erfordern außergewöhnliche Belege.“ Doch bisher haben wir nur Indizienbeweise.

Glücklicherweise lassen diese Vorstellungen einer neuen Vereinheitlichung erwarten, dass wir mit dem LHC außergewöhnliche Dinge erkennen werden. Falls dem so ist, werden wir eine völlig neue Teilchenwelt entdecken: Jedes gegenwärtig bekannte Teilchen wird einen schwereren Verwandten – seinen Superpartner – mit anderen, aber vorhersagbaren Eigenschaften haben.

Dies sind meine Hoffnungen und Erwartungen an den LHC. Es gibt noch jede Menge andere Spekulationen über das, was uns erwarten könnte; hierzu gehören zusätzliche räumliche Dimensionen, Strings anstelle von Teilchen und Schwarze Löcher im Miniaturformat. Sehr wahrscheinlich wird die Realität die Vorahnungen überholen.

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