Die Erben der Ungleichheit

ROM – Es ist seit langem bekannt, dass die Ungleichheit in Phasen raschen Wirtschaftswachstums zunehmen kann. China und Indien sind die jüngsten Beispiele dafür. Könnten aber auch langsames Wachstum und steigende Ungleichheit – die hervorstechendsten Merkmale der entwickelten Ökonomien von heute – miteinander zusammenhängen?

So jedenfalls lautet die faszinierende Hypothese in einer jüngst veröffentlichten Studie des französischen Ökonomen Thomas Piketty von der Paris School of Economics. Piketty hat damit eine der wichtigsten Arbeiten über Ungleichheit der letzten Jahre vorgelegt.

Dank der Genauigkeit der Aufzeichnungen der französischen Bürokratie konnte Piketty die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung Frankreichs über beinahe zwei Jahrhunderte rekonstruieren. Die Wirtschaft in den Jahren von 1820 bis zum Ersten Weltkrieg – eine Art zweites Ancien Regime – wies zwei auffällige Merkmale auf: langsames Wachstum – von etwa 1 Prozent jährlich – und einen überdimensionalen Anteil an ererbtem Vermögen, der sich auf etwa 20 bis 25 Prozent des BIP belief.

Dieser Zusammenhang zwischen langsamem Wachstum und der Bedeutung von Ererbtem war laut Piketty nicht zufällig: die Tatsache, dass ererbtes Vermögen eine Rendite von 2 bis 3 Prozent einbrachte, neue Investitionen aber lediglich 1 Prozent, schränkte die soziale Mobilität extrem ein und leistete der Bildung von sozialen Schichten Vorschub.

Diese Entwicklung begann sich mit dem Ersten Weltkrieg zu ändern, als das Wachstum an Fahrt aufnahm – ein Trend der sich nach dem Zweiten Weltkrieg rasant beschleunigte. Angesichts eines jährlichen Wirtschaftswachstums von 5 Prozent während des Booms nach 1945, schrumpfte der Anteil des ererbten Vermögens auf lediglich 5 Prozent des französischen BIP, wodurch eine Phase relativer sozialer Mobilität und Gleichheit eingeläutet wurde. Unheilvollerweise allerdings ist der Anteil an ererbtem Vermögen in den letzten zwei Jahrzehnten des langsamen Wachstums wieder auf etwa 12 Prozent der französischen Wirtschaft gestiegen.

Dieses Muster sollte Anlass zur Sorge sein, denn das jährliche BIP-Wachstum in der Eurozone hat sich in den letzten zehn Jahren auf durchschnittlich etwa 1 Prozent eingependelt. Auch in den Vereinigten Staaten verlangsamte sich das durchschnittlich jährliche Wachstum von 4 Prozent zwischen 1870 und 1973 auf etwa 2 Prozent in den Jahren danach.

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Auch Ökonomie-Nobelpreisträger Joseph Stiglitz ist der Ansicht, dass langsames Wachstum und Ungleichheit zusammenhängen, wobei er allerdings meint, dass Ursache und Wirkung umgekehrt liegen. In einem Interview vor kurzem formulierte er: „Ich glaube, dass Ungleichheit die Ursache langsamem Wachstums ist.“ In seinem neuen Buch Der Preis der Ungleichheit schreibt er: „Die Politik hat die Märkte gestaltet und zwar so, dass die oberste Bevölkerungsschicht auf Kosten des Rests profitiert.“ Renditestreben, also die Möglichkeit etablierter Eliten, sich Ressourcen selbst zuzuordnen und die Chancen für andere zunichte zu machen, führt unweigerlich zu einem weniger wettbewerbsfähigem Markt und niedrigerem Wachstum.

Dieses Argument wird durch Pikettys Arbeit teilweise unterstützt: die französische Wirtschaft erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen Höhenflug und dann nochmals nach dem Zweiten Weltkrieg. In beiden Phasen öffnete sich das politische System Frankreichs und es wurden fortschrittliche Reformen umgesetzt.

Aber laut Ilyana Kuziemko, Ökonomin an der Universität Princeton, gibt es auch Beweise, dass langsames Wachstum tatsächlich zu größerer Ungleichheit führt. Aus Meinungsumfragen und experimenteller Forschung geht hervor, dass die Menschen (oder zumindest die Amerikaner) der Einkommensumverteilung in wirtschaftlich harten Zeiten weniger positiv gegenüberstehen. Gallup-Umfragen zeigen beispielsweise, dass die Unterstützung für eine Verringerung der Ungleichheit während der aktuellen Rezession von 68 auf 57 Prozent gesunken ist, und das trotz aller öffentlichen Debatten – und Beweise – dass die obersten 1 Prozent der Bestverdiener beinahe alle Gewinne aus dem Wirtschaftswachstum der letzten Jahre eingestreift haben.

Kurioserweise lösen wirtschaftlich harte Zeiten unter den Verlierern dieser Situation einen psychologischen Mechanismus aus, der als „Aversion gegen den letzten Platz“ bezeichnet wird. Experimentelle Ökonomen haben herausgefunden, dass Versuchspersonen bei Verteilungsspielen gegenüber der unter ihnen liegenden Gruppe viel weniger großzügig sind, wenn die Spieler selbst auf dem vorletzten Platz liegen. Sie geben das Geld lieber denen, die in der Hierarchie über ihnen liegen, als den Schlusslichtern dabei zu helfen, sie zu überholen.

Diese Erkenntnisse decken sich mit der Arbeit von Benjamin Friedman von der Universität Harvard, der in seinem Buch The Moral Consequences of Growth argumentiert, dass „Wirtschaftswachstum meistens größere Chancen, Toleranz gegenüber Vielfalt, soziale Mobilität sowie Engagement für Fairness und Demokratie fördert”. Ebenso neigen die Menschen in Zeiten nicht vorhandenen Wirtschaftswachstums zu Fremdenfeindlichkeit, Intoleranz und einer negativen Einstellung gegenüber den Armen – wobei die USA und Europa der letzten Jahrzehnte Friedman als Beispiel dienen. „Menschen in der 30. Perzentile wollen unter keinen Umständen in die 20. oder 10. Perzentile fallen“, so seine Schlussfolgerung.

Dementsprechend könnte eine Wirtschaft mit langsamen Wachstum und hoher Ungleichheit zu einem Teufelskreis werden. Aber sowohl Stiglitz als auch Piketty glauben nicht, dass dies so sein muss. „Zunächst ist festzuhalten, dass die skandinavischen Länder, wo die größte Gleichheit vorherrscht, auch zu den am raschesten wachsenden Industrieländern gehören. Andererseits ist da das Beispiel Japans, das nun seit 20 Jahren eine Deflation erlebt, aber dennoch ein annehmbares Maß an Gleichheit und Lebensstandard erfolgreich aufrecht erhalten hat”, so Stiglitz.

Piketty glaubt, dass die Lösung in einer psychologischen Anpassung an eine Phase langsameren Wachstums liegen könnte: „Wir müssen die Tatsache akzeptieren, dass ein Wachstum von jährlich 4 und 5 Prozent wie in den Nachkriegsjahren die Ausnahme bildet und dass 1 Prozent jährliches Wachstum – nach Berücksichtigung des Bevölkerungswachstums – sehr viel mehr der Norm entspricht.“

Tatsächlich argumentiert Piketty, dass unsere „Wachstumsbesessenheit“ lediglich als „Ausrede dient, nichts in den Bereichen Gesundheit, Bildung oder Umverteilung tun zu müssen.“ Und diese Besessenheit hat ihre Wurzeln auch sehr stark in der Gegenwart. „Wir vergessen, dass das Wachstum über manche Jahrhunderte im Wesentlichen bei null lag“, so Piketty. „Ein Prozent reales Wachstum bedeutet, dass sich die Größe der Wirtschaft alle 30 oder 35 Jahre verdoppelt.“

Piketty sieht das als Anlass „ein wenig optimistisch“ zu sein. Aber der Anteil an ererbtem Vermögen könnte sich, so Piketty, als starker Indikator für die Beantwortung der Frage erweisen, ob die Wachstumsrate ausreicht, um größere soziale Mobilität sicherzustellen und die wirtschaftliche Ungleichheit zu reduzieren.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier

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