Faszination Placeboeffekt

BOSTON – In der medizinischen Forschung und unter wissenschaftlich Interessierten stiftet kaum etwas mehr Verwirrung als der Placeboeffekt. Wie kann eine pharmakologisch inaktive Zuckerpille therapeutischen Wert haben? Die Antwort erfordert ein Verständnis des Kontextes, in dem medizinische Behandlung stattfindet – ein Rahmen, in dem sich die Symbole und Rituale der medizinischen Versorgung mit den emotionsgeladenen Reaktionen verbinden, die ausgelöst werden, wenn Patienten auf Heiler treffen. Die Bedeutung von Vertrauen, Empathie, Hoffnung, Angst, Beklommenheit und Ungewissheit im therapeutischen Kontakt sollte nicht unberücksichtigt bleiben.

Durch den Einsatz von Zuckerpillen, Kochsalzinjektionen oder sogar Scheinoperationen trennt die Placeboforschung die Krankenbetreuung von den direkten Auswirkungen echter Medikamente oder medizinischer Verfahren. Aktuelle Forschungen über den Placeboeffekt haben gezeigt, dass allein die Interaktion zwischen Arzt und Patient – ohne die Verabreichung „richtiger“ Medikamente – Schmerzen lindern, den Schlaf verbessern, Depressionen lindern und die Symptome verschiedenster Erkrankungen lindern kann, einschließlich Reizdarmsyndrom, Asthma, Parkinson, Herzerkrankungen und Migräne.

Placebos beeinflussen hauptsächlich die Selbsteinschätzung der Patienten. Sie können keine Tumore schrumpfen lassen, aber sie können Patienten dabei helfen, weniger Abgeschlagenheit, Übelkeit, Schmerzen und Angst zu empfinden, die mit Krebs und seiner Behandlung einhergehen. Sie können weder den Cholesterinspiegel, noch hohen Blutdruck senken, aber sie können die Stimmung oder Schmerzen in einem Maße verändern, das gesünderen Verhaltensweisen förderlich ist.

Placebos können wie Medikamente funktionieren und der Placeboeffekt kann auch die Wirksamkeit von Medikamenten erhöhen. Forschungen zeigen, dass sich verschiedene Komponenten, die zum Placeboeffekt beitragen – so etwa die Utensilien, die bei der Krankenversorgung zum Einsatz kommen (Tabletten und Spritzen) und die Beziehung zwischen Patient und Therapeut – ähnlich wie eine schrittweise Erhöhung der Dosis separat hinzufügen lassen (je höher die Dosis, desto größer die Wirkung).

Tatsächlich haben diese Komponenten erwiesenermaßen die Effektivität vieler wirksamer Medikamente erhöht. Wenn etwa Morphium vor den Augen des Patienten durch eine Injektion verabreicht wird, ist es signifikant stärker, als wenn es intravenös ohne Wissen des Patienten verabreicht wird.

Viele psychosoziale Mechanismen werden in die individuelle Reaktion auf eine Placebo-Behandlung (engl. placebo response) einbezogen. Mehr Hoffnung, positive Erwartungen und weniger Angst können allesamt die innere Einstellung verändern, mit der Patienten auf Beeinträchtigungen ihrer Gesundheit reagieren. Aus Untersuchungen geht eindeutig hervor, dass die Unterstützung und das Einfühlungsvermögen eines fürsorglichen und aufmerksamen Arztes klinische Ergebnisse verbessern können. Tatsächlich ist nachgewiesen worden, dass unbewusst wahrgenommene Reize und Symbole in der Umgebung – der weiße Kittel oder das Diplom an der Wand – einen Patienten „veranlassen“ können, Besserung zu spüren.

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Bis vor kurzem wurde angenommen, dass die Wirkung von Placebo-Tabletten davon abhängt, dass das Fehlen von Arzneistoffen verheimlicht wird oder eine Täuschung stattfindet. Der Patient musste glauben, dass die Behandlung „echt“ ist, damit Placebos funktionieren können. Neuere Forschungen deuten jedoch darauf hin, dass das Potenzial für eine signifikante klinische Besserung auch dann vorhanden ist, wenn den Patienten mitgeteilt wird, dass sie eine inaktive Substanz einnehmen. Das lässt darauf schließen, dass die bloße Durchführung eines Behandlungsrituals, ähnlich wie bewusste Erwartungen, eine starke Wirkung entfalten kann.

Tatsächlich scheint die Vorstellungskraft eine neurobiologische Basis zu haben. Neuere Erkenntnisse zeigen, dass Placebos, wenn sie eine gesundheitsförderliche Wirkung besitzen, die gleichen Bahnen im Nervensystem benutzen wie aktive Medikamente. Wenn etwa Patienten eine Schmerzlinderung durch Placebos verspüren, setzt das Gehirn endogene Opioide und/oder CB1-Cannabinoide frei – genau die gleichen Mechanismen, über die eine Schmerzlinderung durch eine Arzneimittelbehandlung erfolgt.

Untersuchungen im Bereich Neuroimaging zeigen, dass eine Placebobehandlung bestimmte Gehirnstrukturen wie etwa den präfontalen Cortex und den rostralen anterioren cingulären Cortex aktiviert. Studien mit Parkinson-Patienten haben gezeigt, dass Placebotherapien endogenes Dopamin in der Striatum-Region im Gehirn freisetzen. Weiterhin deuten faszinierende Pilotforschungsprojekte darauf hin, dass es genetische Faktoren geben könnte, die bestimmte Individuen für eine für stärkere Reaktion auf Placebos prädisponieren.

Die Wirkungen von Scheinarzneimitteln sind nicht immer vorteilhaft. Der Placeboeffekt hat einen bösen Bruder, den so genannten Nocebo-Effekt. Obwohl Placebos biologisch inaktiv sind, brechen bis zu 26% der mit Placebos behandelten Patienten klinische Studien ab, nachdem sie nicht tolerierbare Nebenwirkungen erlitten haben, die normalerweise die gleichen sind wie die möglichen Nebenwirkungen des Medikamentes, das erprobt wird. Wenn etwa die aktive Substanz in einer Studie mit einem Medikament gegen Migräne ein krampflösendes Mittel ist, wird der Nocebo-Effekt (der Nebeneffekt des Placebos) überproportional Appetitlosigkeit oder das Erinnerungsvermögen betreffen. Handelt es sich bei der aktiven Substanz hingegen um einen nichtsteroidalen Entzündungshemmer, wird sich der Nocebo-Effekt eher in Form von Magen-Darm-Symptomen und Durst äußern.

Dies unterstreicht die Bedeutung von Placebo-Effekten bei der Entwicklung neuer Medikamente. Für die Zulassung neuer Arzneimittel werden von der US-Zulassungsbehörde FDA zwei gründlich ausgearbeitete, randomisierte kontrollierte Studien verlangt, in denen das Medikament die Überlegenheit gegenüber dem Placebo demonstriert. Forschungsergebnisse lassen jedoch darauf schließen, dass die Placebo-Wirkungen bei einigen Krankheiten im Lauf der letzten Jahrzehnte zunehmend größer geworden sind. Diese im Lauf der Jahre höher gewordene Placebo-Ansprechrate (engl. „placebo drift“) stellt eine erhebliche Herausforderung beim Nachweisen von Unterschieden zwischen Medikament und Placebo dar.

Und das lenkt die Aufmerksamkeit auf einen grundlegenderen Gesichtspunkt: Während wir eilends bemüht sind, uns die High-Tech-Medizin zu eigen zu machen, vergessen wir oft das enorme Potenzial für Heilung, das aus einer guten therapeutischen Beziehung erwachsen kann. Die Placeboforschung hat gezeigt, dass der Kontext, in dem eine Behandlung stattfindet und die Arzt-Patient-Beziehung enorme Möglichkeiten bieten, die Gesundheit zu verbessern.

Wir müssen mehr über die Kraft und die Grenzen des Placeboeffekts lernen. Ebenso müssen wir lernen, wie sich diese wissenschaftlichen Erkenntnisse in ethische und effektive Methoden übersetzen lassen, die Ärzte anwenden können, um medizinische Resultate zu verbessern. Und wir müssen mehr über den Placebo-Effekt in klinischen Studien in Erfahrung bringen. Kurzum müssen wir aufhören, im Rahmen von der „Kunst der Medizin“ zu denken und beginnen, uns eine neue Wissenschaft des Heilens zu erschließen.

Aus dem Englischen von Sandra Pontow.

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