Russlands Besitzergreifung Europas

Als Gazprom, Russlands Erdgasmonopol, die Lieferungen an die Ukraine und an Georgien im Januar 2006 unterbrach, wurde dieser Schritt weithin als ein deutliches Warnsignal dafür angesehen, dass der Kreml bereit sei, seine Energieressourcen zur politischen Einflussnahme in Europa einzusetzen. Zwölf Monate später unterstrich Russland die Bedeutung dieser Maßnahme, indem es die Öllieferungen an Belarus drei Tage lang einstellte, was einen Dominoeffekt auf die Lieferungen nach Westeuropa auslöste.

Trotz dieser Drohungen von Lieferantenseite gab es wenig Anzeichen für eine effektive EU-weite Politik, die die Abhängigkeit von der russischen Energie verringern würde. Die Energievorschläge der Europäischen Kommission, die im Januar veröffentlicht wurden, sind ein Schritt in die richtige Richtung. Doch werden sie wenig direkte Auswirkungen auf Russlands Energiebeziehungen zu Europa haben, weil sie Russland nicht dazu verpflichten, wettbewerbsfähigere und transparentere Richtlinien bei Energietransport und -investitionen einzuführen.

Ganz im Gegenteil, die europäischen Länder schließen weiterhin bilaterale Abkommen mit Russland ab, und scheren sich dabei wenig um die allgemeinen Interessen der EU. Die westeuropäischen EU-Mitglieder zeigten sich über Russlands Drucktaktik gegenüber den neuen Mitgliedern in Mittel- und Osteuropa wenig beunruhigt, was fraglich erscheinen lässt, wie weit die EU-Solidarität bei der Energieversorgung geht. Seit der Kreml 1990 die Energielieferungen an die baltischen Staaten aussetzte, in dem vergeblichen Versuch, ihre Unabhängigkeitsbewegungen zu ersticken, hat er seine Pipeline-Politik weiterhin gegen Länder wie Polen, Lettland und Litauen eingesetzt – allesamt neue EU-Mitglieder. Für sie und für neue Demokratien wie die Ukraine, Georgien und Moldau bleiben die russische Energievorherrschaft und ihre politischen Konsequenzen eine ernsthafte Bedrohung.

Russland hat von Europas Unordnung profitiert, indem es dazu übergegangen ist, Europas hochgradige Abhängigkeit von der russischen Energie langfristig zu zementieren, insbesondere vom Erdgas, indem es seine „Teile-und-herrsche-Taktik“ gegenüber den europäischen Regierungen weiterbetrieben hat. Seit Januar 2006 hat Moskau getrennte Abkommen mit Energieversorgungsunternehmen aus Deutschland, Frankreich, Italien, Ungarn, Serbien, der Slowakei und Dänemark abgeschlossen, was Europas Bemühungen untergraben könnte, zusätzliche Pipelines zu bauen, um Russlands nahezu perfektes Monopol auf Lieferungen aus Zentralasien zu umgehen.

Es schien anfangs so, als wäre Deutschland unter Kanzlerin Angela Merkel sensibler für die Energiesicherheit Zentral- und Osteuropas. Merkel genehmigte jedoch die teure Nordeuropäische Gaspipeline (NEGP) unterhalb der Ostsee, die von ihrem Vorgänger Gerhard Schröder und Präsident Wladimir Putin ausgehandelt worden war und bei ihrem EU-Mitstreiter Polen, an dem die Pipeline vorbeigeleitet wird, auf heftigen Widerstand stößt. Die Ostseepipeline wird mindestens achtmal so viel kosten wie die alternative Jamal-II-Pipeline, die in Polen über Land verlaufen wäre.

Trotz der guten Absichten der Europäischen Kommission wehren sich die größeren EU-Mitglieder weiterhin dagegen, sich einer gemeinsamen EU-Energiepolitik zu unterwerfen. Mitte November konnten sich die EU-Außenminister nicht auf eine gemeinsame Handlungsweise hinsichtlich der russischen Energie einigen – gerade als wieder Berichte veröffentlicht wurden, dass Russland u. U. versuchen wird, ein der OPEC ähnliches Erdgaskartell aufzubauen.

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Der politische Wille der EU, ihrer zunehmenden Abhängigkeit von Russland in naher Zukunft entgegenzuwirken, ist somit ernsthaften Zweifeln ausgesetzt. Tatsächlich kann Russland seine Gasverträge mit Europa in den nächsten fünf bis zehn Jahren nur erfüllen, wenn es Gasexporte nach Europa aus Kasachstan, Turkmenistan und Usbekistan monopolisiert. Doch hat sich die EU bisher dafür entschieden, die Tatsache zu ignorieren, dass Gazproms Monopol eine eindeutige Verletzung der Monopol- und Wettbewerbsrichtlinien in der Neufassung der Römischen Verträge darstellt.

Russland glaubt eindeutig, dass der derzeit angespannte Weltenergiemarkt und die hohen Preise ihm genug Druckmittel gegenüber dem Westen geben, um sein aktuelles Verfahren beizubehalten. Das Land weigert sich konsequent, westlichen Unternehmen denselben Zugang zu russischen Einrichtungen zu gewähren, den Russlands staatliche Energieversorgungsunternehmen in Europa und den Vereinigten Staaten bereits genießen. Das wird wahrscheinlich so bleiben, solange es dem Westen nicht gelingt, eine Energiestrategie einzuführen, die den Kreml zu einem Kurswechsel veranlasst.

Putin bestreitet, dass Russland seine Energieressourcen dazu einsetzt, die europäischen Regierungen zu irgendetwas zu zwingen. Dagegen argumentiert er, dass die verringerten Gaslieferungen an Westeuropa während der Unterbrechung der Gaslieferungen an die Ukraine im Januar 2006 das Ergebnis ukrainischen „Diebstahls“ gewesen seien. Bei seinem Streit mit Belarus im Januar 2007 beschuldigte Russland Belarus ebenso, Öl aus der Pipeline, die durch das Land führt, gestohlen zu haben. Es behauptet zudem, die Energiepreise für die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten subventioniert zu haben, während in Wirklichkeit die Einwohner der Staaten in Zentralasien Russland in einem noch viel größeren Ausmaß subventioniert haben.

Obwohl die EU-Kommission entschlossen scheint, in Europa einen offeneren Energiemarkt mit mehr Wettbewerb aufzubauen, sind Russlands wettbewerbsfeindliche Praktiken innerhalb der EU aufgrund der internen Meinungsunterschiede zu Übernahmeschlachten um nationale „Unternehmensikonen“ aus dem Energiesektor, in die Firmen aus anderen Mitgliedsstaaten verwickelt waren, in den Hintergrund getreten. Russland muss überzeugt werden, dass seine Ressourcen wesentlich wertvoller sind, wenn sie offen für internationale Investitionen sind, transparent verwaltet werden und gemäß den rechtlichen und gewerblichen Vorschriften des internationalen Handelssystems betrieben werden. Doch ist dies ohne energische Maßnahmen eines gemeinsam agierenden Europas unwahrscheinlich.

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