MÜNCHEN – Die Welt erlebt derzeit keine „Ukraine-Krise“, sondern vielmehr eine Russlandkrise. So hat es Deutschlands neue Außenministerin Annalena Baerbock auf der jüngsten Münchener Sicherheitskonferenz formuliert, die von der Situation in Osteuropa beherrscht wurde.
Tatsächlich reicht die Krise Russlands sogar noch tiefer, als Baerbock vermutlich ausdrücken wollte. Wir werden derzeit Zeugen des jüngsten Abschnitts eines langen Prozesses. Russland versucht, zu entscheiden, ob es ein Nationalstaat oder ein aufstrebendes Großreich ist, und bis diese grundlegende Frage geklärt ist, werden sich Konflikte wie der über die Ukraine in unterschiedlicher Form fortsetzen.
Auf dem Papier war die Sowjetunion eine multinationale Föderation von Republiken. In Wahrheit jedoch hatten dort in einem eng kontrollierten Regime unter Führung der Kommunistischen Partei eindeutig die Russen das Sagen. Ein Grund für den Zusammenbruch der Sowjetunion war, dass die vielen Republiken, aus denen sie bestand, sich zu aufstrebenden Nationalstaaten entwickelt hatten oder, wie im Falle der baltischen Republiken, ihre Unabhängigkeit zurückzuerringen suchten. Der wichtigste Faktor war das Referendum in der Ukraine im Dezember 1991, bei dem sich die überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit aussprach. Doch die hinter den Kulissen ablaufenden Bemühungen des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, Russlands eigene Souveränität geltend zu machen, waren ebenfalls wichtig.
Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow mühte sich damals noch immer, bestimmte staatliche Strukturen aufrechtzuerhalten, und er reagierte feindselig auf die geäußerten Ziele der drei baltischen Republiken. Doch wurden seine Bemühungen von Jelzin untergraben, der die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens noch vor dem ukrainischen Referendum anerkannte.
Das war der Beginn der heutigen Russlandkrise, die angeheizt wurde durch den Konflikt zwischen dem Aufbau eines modernen Staates mit moderner Wirtschaft einerseits und dem Schwelgen in imperialer Nostalgie andererseits. Hierdurch wurde Russlands wirtschaftliche und politische Modernisierung gestört und die Sicherheit seiner Nachbarn in Zweifel gestellt.
Der beste Weg, wie Russland seine eigene Sicherheit garantieren könnte, bestünde darin, freundschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarn zu begünstigen, sodass sich diese Länder sicher und stabil fühlen können. Das jedoch hat Russland nicht getan, und nun möchte eine wachsende Zahl von Ukrainern der NATO beitreten. So unrealistisch das scheint: Ihnen ist bewusst, dass ihre eigenen nationalen Aspirationen durch den imperialen russischen Revanchismus unmittelbar bedroht sind.
In einem im vergangenen Juli veröffentlichten schändlichen Essay formulierte der russische Präsident Wladimir Putin seine Vision eines großslawischen Reiches, die auf der zaristischen Herrschaft des 19. Jahrhunderts aufbaut statt auf der Sowjetunion. Nun hat er eine Chance gewittert, diese Vision voranzutreiben, und hat die aktuelle Krise herbeigeführt.
Doch sind Putins Machenschaften nichts Neues. Im Jahr 2014 annektierte er die Krim und leitete einen Einmarsch in die Donbass-Region in der Ostukraine ein, weil er die Ukraine hindern wollte, sich um engere Beziehungen zur Europäischen Union zu bemühen. Obwohl das weder die ukrainische Zusammenarbeit mit Russland behindert noch dessen Sicherheit bedroht hätte, liefen diese Entwicklungen Putins quasi-imperialistischem Traum zuwider.
In seiner jüngsten Rede, in der er verkündete, dass Russland die Unabhängigkeit der beiden abtrünnigen Donbass-Regionen anerkennen würde, die es seit 2014 unterstützt hat, hat Putin diese Fantasterei in ein neues Extrem geführt. Er stellte die Existenz einer ukrainischen Nation offen in Frage und beharrte darauf, dass die Ukraine „ein historisch russisches Land“ sei. Obwohl es um Kiew herum lange vor der Entstehung Russlands einen Staat der Rus gab, schreibt Putin die Ausbildung eines ukrainischen Staates Lenin und den Bolschewiken zu.
Das Ironische an dieser geschichtsgestützten Strategie ist, dass, wenn man das Europa von vor tausend Jahren betrachten würde, es Russland im Wesentlichen nicht gäbe. Es gab rudimentäre slawische Staatsstrukturen in der Region zwischen Nowgorod und Kiew entlang der alten Handelsrouten von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Doch die imperiale Metropole war Konstantinopel. Was wir heute als Russland bezeichnen, bildete sich nach einer allmählichen militärischen Expansion in verschiedene Richtungen erst Jahrhunderte später heraus.
Imperiale Ambitionen auf alte nationale Mythen zu gründen ist im Falle Russlands genauso gefährlich wie überall sonst. Europa kann nur Frieden haben, wenn alle von der Geschichte (gewöhnlich durch Blutvergießen) hervorgebrachten Grenzen uneingeschränkt respektiert werden. Russland sollte inzwischen gelernt haben, in Harmonie mit seinen Nachbarn zu leben. Im Gefolge des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses stationierte die Sowjetunion enorme Streitkräfte entlang ihrer Grenze zu China, und 1969 brach dort ein siebenmonatiger gewaltsamer Konflikt aus. Doch kam es zu einer Deeskalation zwischen beiden Ländern, und deshalb geht es beiden heute besser.
Natürlich ist der Weg hin zu einer derartigen Beziehung zwischen Russland und der Ukraine viel länger. Putins Verhalten hat verständlicherweise dazu geführt, dass die Ukrainer Russland mit Skepsis, wenn nicht gar feindselig gegenüberstehen. Sofern sich Russland nicht neuerlich darauf konzentriert, seine Zukunft allein innerhalb der eigenen Grenzen zu errichten, wird weiterhin eine Wolke der Unsicherheit über der Region schweben, was letztlich zum Schaden Russlands sein wird.
Ich kann mich noch immer an ein Gespräch erinnern, dass ich vor Jahrzehnten mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl führte, einem in der europäischen Geschichte sehr beschlagenen Staatsmann. Es ging dabei um Luxemburg, und Kohl merkte an, dass Deutschland in Sicherheit lebe, weil selbst sein kleinster Nachbar es als engen Freund betrachte. Deutschland hat seine Vergangenheit aufgearbeitet. Russland nicht. Und bis es das tut, wird ganz Europa, insbesondere jedoch Russland selbst, weiterhin leiden.
Aus dem Englischen von Jan Doolan
MÜNCHEN – Die Welt erlebt derzeit keine „Ukraine-Krise“, sondern vielmehr eine Russlandkrise. So hat es Deutschlands neue Außenministerin Annalena Baerbock auf der jüngsten Münchener Sicherheitskonferenz formuliert, die von der Situation in Osteuropa beherrscht wurde.
Tatsächlich reicht die Krise Russlands sogar noch tiefer, als Baerbock vermutlich ausdrücken wollte. Wir werden derzeit Zeugen des jüngsten Abschnitts eines langen Prozesses. Russland versucht, zu entscheiden, ob es ein Nationalstaat oder ein aufstrebendes Großreich ist, und bis diese grundlegende Frage geklärt ist, werden sich Konflikte wie der über die Ukraine in unterschiedlicher Form fortsetzen.
Auf dem Papier war die Sowjetunion eine multinationale Föderation von Republiken. In Wahrheit jedoch hatten dort in einem eng kontrollierten Regime unter Führung der Kommunistischen Partei eindeutig die Russen das Sagen. Ein Grund für den Zusammenbruch der Sowjetunion war, dass die vielen Republiken, aus denen sie bestand, sich zu aufstrebenden Nationalstaaten entwickelt hatten oder, wie im Falle der baltischen Republiken, ihre Unabhängigkeit zurückzuerringen suchten. Der wichtigste Faktor war das Referendum in der Ukraine im Dezember 1991, bei dem sich die überwältigende Mehrheit für die Unabhängigkeit aussprach. Doch die hinter den Kulissen ablaufenden Bemühungen des damaligen russischen Präsidenten Boris Jelzin, Russlands eigene Souveränität geltend zu machen, waren ebenfalls wichtig.
Der sowjetische Präsident Michail Gorbatschow mühte sich damals noch immer, bestimmte staatliche Strukturen aufrechtzuerhalten, und er reagierte feindselig auf die geäußerten Ziele der drei baltischen Republiken. Doch wurden seine Bemühungen von Jelzin untergraben, der die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens noch vor dem ukrainischen Referendum anerkannte.
Das war der Beginn der heutigen Russlandkrise, die angeheizt wurde durch den Konflikt zwischen dem Aufbau eines modernen Staates mit moderner Wirtschaft einerseits und dem Schwelgen in imperialer Nostalgie andererseits. Hierdurch wurde Russlands wirtschaftliche und politische Modernisierung gestört und die Sicherheit seiner Nachbarn in Zweifel gestellt.
Der beste Weg, wie Russland seine eigene Sicherheit garantieren könnte, bestünde darin, freundschaftliche Beziehungen zu seinen Nachbarn zu begünstigen, sodass sich diese Länder sicher und stabil fühlen können. Das jedoch hat Russland nicht getan, und nun möchte eine wachsende Zahl von Ukrainern der NATO beitreten. So unrealistisch das scheint: Ihnen ist bewusst, dass ihre eigenen nationalen Aspirationen durch den imperialen russischen Revanchismus unmittelbar bedroht sind.
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In einem im vergangenen Juli veröffentlichten schändlichen Essay formulierte der russische Präsident Wladimir Putin seine Vision eines großslawischen Reiches, die auf der zaristischen Herrschaft des 19. Jahrhunderts aufbaut statt auf der Sowjetunion. Nun hat er eine Chance gewittert, diese Vision voranzutreiben, und hat die aktuelle Krise herbeigeführt.
Doch sind Putins Machenschaften nichts Neues. Im Jahr 2014 annektierte er die Krim und leitete einen Einmarsch in die Donbass-Region in der Ostukraine ein, weil er die Ukraine hindern wollte, sich um engere Beziehungen zur Europäischen Union zu bemühen. Obwohl das weder die ukrainische Zusammenarbeit mit Russland behindert noch dessen Sicherheit bedroht hätte, liefen diese Entwicklungen Putins quasi-imperialistischem Traum zuwider.
In seiner jüngsten Rede, in der er verkündete, dass Russland die Unabhängigkeit der beiden abtrünnigen Donbass-Regionen anerkennen würde, die es seit 2014 unterstützt hat, hat Putin diese Fantasterei in ein neues Extrem geführt. Er stellte die Existenz einer ukrainischen Nation offen in Frage und beharrte darauf, dass die Ukraine „ein historisch russisches Land“ sei. Obwohl es um Kiew herum lange vor der Entstehung Russlands einen Staat der Rus gab, schreibt Putin die Ausbildung eines ukrainischen Staates Lenin und den Bolschewiken zu.
Das Ironische an dieser geschichtsgestützten Strategie ist, dass, wenn man das Europa von vor tausend Jahren betrachten würde, es Russland im Wesentlichen nicht gäbe. Es gab rudimentäre slawische Staatsstrukturen in der Region zwischen Nowgorod und Kiew entlang der alten Handelsrouten von der Ostsee zum Schwarzen Meer. Doch die imperiale Metropole war Konstantinopel. Was wir heute als Russland bezeichnen, bildete sich nach einer allmählichen militärischen Expansion in verschiedene Richtungen erst Jahrhunderte später heraus.
Imperiale Ambitionen auf alte nationale Mythen zu gründen ist im Falle Russlands genauso gefährlich wie überall sonst. Europa kann nur Frieden haben, wenn alle von der Geschichte (gewöhnlich durch Blutvergießen) hervorgebrachten Grenzen uneingeschränkt respektiert werden. Russland sollte inzwischen gelernt haben, in Harmonie mit seinen Nachbarn zu leben. Im Gefolge des chinesisch-sowjetischen Zerwürfnisses stationierte die Sowjetunion enorme Streitkräfte entlang ihrer Grenze zu China, und 1969 brach dort ein siebenmonatiger gewaltsamer Konflikt aus. Doch kam es zu einer Deeskalation zwischen beiden Ländern, und deshalb geht es beiden heute besser.
Natürlich ist der Weg hin zu einer derartigen Beziehung zwischen Russland und der Ukraine viel länger. Putins Verhalten hat verständlicherweise dazu geführt, dass die Ukrainer Russland mit Skepsis, wenn nicht gar feindselig gegenüberstehen. Sofern sich Russland nicht neuerlich darauf konzentriert, seine Zukunft allein innerhalb der eigenen Grenzen zu errichten, wird weiterhin eine Wolke der Unsicherheit über der Region schweben, was letztlich zum Schaden Russlands sein wird.
Ich kann mich noch immer an ein Gespräch erinnern, dass ich vor Jahrzehnten mit dem ehemaligen deutschen Bundeskanzler Helmut Kohl führte, einem in der europäischen Geschichte sehr beschlagenen Staatsmann. Es ging dabei um Luxemburg, und Kohl merkte an, dass Deutschland in Sicherheit lebe, weil selbst sein kleinster Nachbar es als engen Freund betrachte. Deutschland hat seine Vergangenheit aufgearbeitet. Russland nicht. Und bis es das tut, wird ganz Europa, insbesondere jedoch Russland selbst, weiterhin leiden.
Aus dem Englischen von Jan Doolan