NEW YORK – Zum ersten Mal traf ich Robert McNamara, den US-Verteidigungsminister, der für den amerikanischen Aufmarsch in Vietnam verantwortlich war, im Sommer 1967. Ich kam gerade aus Südvietnam zurück, wo ich als Reporter für The New Yorker gerade Zeuge der Zerstörung zweier Provinzen, Quang Ngai und Quang Tinh, durch die amerikanische Luftwaffe geworden war.
Die amerikanische Politik war klar. Auf Flugblättern, die über den Dörfern abgeworfen wurden, stand „Die Vietkong verstecken sich bei unschuldigen Frauen und Kindern in Euren Dörfern… Wenn der Vietkong Euch oder Eure Dörfer in diesem Gebiet zu diesem Zweck benutzt, müsst Ihr mit dem Tod aus dem Himmel rechnen.“
Der Tod aus dem Himmel kam. Danach wurden wieder Flugblätter abgeworfen, auf denen zu lesen war: „Euer Dorf wurde bombardiert, weil Ihr dem Vietcong Zuflucht gewährt habt…. Euer Dorf wird wieder bombardiert, wenn Ihr den Vietcong in irgendeiner Weise Zuflucht gewährt.“
In der Provinz Quang Ngai wurden 70 Prozent der Dörfer zerstört. Ich war damals 23 und hatte keine Vorstellung davon, was ein Kriegsverbrechen war, aber später wurde mir klar, dass ich genau davon Zeug geworden war. (Fünf Monate später, im März 1968, begingen die amerikanischen Truppen das Massaker von My Lai).
Die bekannte Erscheinung mit der spiegelnden, rahmenlosen Brille und dem streng nach hinten gekämmten Haar grüßte mich an der Tür seines tennisplatzgroßen Büros. Ich spürte eine ungeheure, ruhelose Energie, von der ich den Eindruck hatte, dass er sie nicht ausschalten konnte, wenn er es gewollt hätte. Kurz nachdem ich begonnen hatte, meine Beobachtungen zu erläutern, führte er mich vor eine Karte von Vietnam und forderte mich auf, ihm die zerstörten Gebiete zu zeigen. Ich hatte das Gefühl, ich würde getestet, aber ich war darauf vorbereitet, da ich in den Aufklärungsflugzeugen Karten bei mir gehabt hatte. Es schien ihn sehr zu beschäftigen, aber er sagte nichts dazu, sondern fragte mich lediglich, ob ich ein Manuskript hätte. Ich bejahte, gab aber zu bedenken, dass es in gewöhnlicher Handschrift verfasst sei. Er schlug vor, dass ich es abtippe und stellte mir das Büro eines abwesenden Generals zur Verfügung.
Was er nicht wusste, war, dass der Artikel Buchlänge hatte. Es dauerte drei Tage, bis ich alles in das Diktafon des Generals diktiert hatte. Ich habe das fertige Projekt dann McNamara übergeben, der mir dankte, aber weder dann noch irgendwann später etwas darüber sagte.
At a time of escalating global turmoil, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided.
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Als Neil Sheehan fünfzehn Jahre später, 1982, Recherchen für sein Buch über den Vietnamkrieg machte, A Bright and Shining Lie , fand er Dokumente in Zusammenhang mit dem Manuskript, das ich damals im Pentagon geschrieben hatte. Offenbar hatte es McNamara an den amerikanischen Botschafter in Südvietnam, Ellsworth Bunker, geschickt, der verlangte, dass ein gewisser Bob Kelly einen allgemeinen Bericht schrieb, mit dem Ziel, meine Reportage zu diskreditieren und veranlasste die Zeitschrift The Atlantic , „die Veröffentlichung zu verhindern“, weil er irrtümlicherweise davon ausging, dass mein Artikel dort erscheinen sollte.
McNamara, Staatssekretär Nicholas Katzenbach und Ministerialdirektor William Bundy erhielten ein Memo, in dem diese Schritte empfohlen wurden. Zuständig war Außenminister Dean Rusk. Die Piloten der Aufklärungsflugzeuge wurden erneut interviewt und eidesstattliche Erklärungen abgegeben. Zwei zivile Piloten wurden beauftragt, über die Provinz zu fliegen und meine Einschätzung der Zerstörungen zu prüfen. Es wurden Pläne gemacht, meine Erkenntnisse öffentlich zu widerlegen. Aber aus dem Bericht ging unbequemerweise hervor, dass „die Schätzungen von Herrn Schell im Wesentlichen korrekt sind“.
Vielleicht aus Frustration über seine fehlgeschlagenen Bemühungen, sachliche Fehler in meiner Berichterstattung zu finden, begann der Verfasser des Berichts, meine Darstellung zu relativieren. Ich sei mir nicht darüber im Klaren gewesen, dass die Zerstörung, die ich gesehen habe, in gewisser Weise zu rechtfertigen sei. Ich hätte möglicherweise nicht gewusst, dass die „Bevölkerung überaus feindselig eingestellt sei…“. Tatsächlich sei, in den Augen der Vietcong, „der Vietcong gleichzusetzen mit der Bevölkerung“. Und so wurde aus dem Hauptargument gegen den Krieg, nämlich dem absolut nachvollziehbaren Hass eines Großteils der Bevölkerung gegenüber der amerikanisch Invasion und Besetzung, eine Rechtfertigung des Krieges.
Als ich 1998 das nächste Mal ein längeres Gespräch mit McNamara führte, ging es nicht um Vietnam, sondern um Atombomben, ein Thema, bei dem wir uns genauso einig waren, wie vorher in Bezug auf Vietnam uneinig. Wir glaubten beide, dass man mit der Bombe nur eine vernünftige Sache tun könnte, nämlich sie loswerden. McNamaras Sinneswandel in diesem Thema war dramatisch. Mehr als jeder andere Regierungsbeamte war er verantwortlich für die Institutionalisierung der wichtigsten Strategie des Atomzeitalters, der Abschreckung, auch bekannt als gegenseitig zugesicherte Zerstörung.
Jetzt wollte er eine andere Richtung einschlagen. Allerdings hatten sich inzwischen auch unsere Standpunkte in Bezug auf Vietnam angenähert, denn nach mehr als zwei Jahrzehnten des Schweigens über den Krieg hatte er sein Buch In Retrospect * veröffentlicht, in dem er seine früheren Rechtfertigungen des Krieges verwirft und über die Regierungen Kennedy und Johnson den berühmten Satz schrieb: „Wir irrten uns, ein furchtbarer Irrtum.“
Viele Kritiker von McNamara stellen fest – und meiner Meinung nach zu Recht, dass er nicht weit genug ging, dass er versuchte, an edlen Absichten festzuhalten, die der Realität nicht standhalten. Wie edel sind Absichten, wenn die Tatsachen, die ihre schrecklichen Konsequenzen belegen, so offensichtlich sind und doch übersehen werden?
Ist McNamara in seiner Reue nicht weit genug gegangen? Ja. Hätte er sie früher ausdrücken sollen? Auf jeden Fall. Hätte er den Krieg gar nicht erst empfehlen oder ihn führen sollen und hätte es nie einen amerikanischen Krieg in Vietnam geben sollen? Mein Gott, ja.
Das zwanzigste Jahrhundert hat Berge von Leichen hinterlassen und sie türmen sich gerade wieder auf. Und doch, wie viele Politiker von McNamaras Bedeutung haben jemals Bedauern für ihre Fehler und Dummheiten und Verbrechen ausgedrückt? Ich kann nur einen nennen: Robert McNamara. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ihm jemals ein Denkmal gesetzt wird, stellt ihn weinend dar: Das war das Beste an ihm!
Jonathan Schell ist Forschungsstipendiat am The Nation Institute und Dozent an der Yale University, wo er einen Kurs zum Thema „Das nukleare Dilemma“ gibt. Er ist Autor von Das Schicksal der Erde und The Seventh Decade: The New Shape of Nuclear Danger .
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Unlike during his first term, US President Donald Trump no longer seems to care if his policies wreak havoc in financial markets. This time around, Trump seems to be obsessed with his radical approach to institutional deconstruction, which includes targeting the Federal Reserve, the International Monetary Fund, and the World Bank.
explains why the US president’s second administration, unlike his first, is targeting all three.
According to the incoming chair of US President Donald Trump’s
Council of Economic Advisers, America runs large trade deficits and
struggles to compete in manufacturing because foreign demand for US
financial assets has made the dollar too strong. It is not a persuasive
argument.
is unpersuaded by the argument made by presidential advisers for unilaterally restructuring global trade.
By launching new trade wars and ordering the creation of a Bitcoin reserve, Donald Trump is assuming that US trade partners will pay any price to maintain access to the American market. But if he is wrong about that, the dominance of the US dollar, and all the advantages it confers, could be lost indefinitely.
doubts the US administration can preserve the greenback’s status while pursuing its trade and crypto policies.
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NEW YORK – Zum ersten Mal traf ich Robert McNamara, den US-Verteidigungsminister, der für den amerikanischen Aufmarsch in Vietnam verantwortlich war, im Sommer 1967. Ich kam gerade aus Südvietnam zurück, wo ich als Reporter für The New Yorker gerade Zeuge der Zerstörung zweier Provinzen, Quang Ngai und Quang Tinh, durch die amerikanische Luftwaffe geworden war.
Die amerikanische Politik war klar. Auf Flugblättern, die über den Dörfern abgeworfen wurden, stand „Die Vietkong verstecken sich bei unschuldigen Frauen und Kindern in Euren Dörfern… Wenn der Vietkong Euch oder Eure Dörfer in diesem Gebiet zu diesem Zweck benutzt, müsst Ihr mit dem Tod aus dem Himmel rechnen.“
Der Tod aus dem Himmel kam. Danach wurden wieder Flugblätter abgeworfen, auf denen zu lesen war: „Euer Dorf wurde bombardiert, weil Ihr dem Vietcong Zuflucht gewährt habt…. Euer Dorf wird wieder bombardiert, wenn Ihr den Vietcong in irgendeiner Weise Zuflucht gewährt.“
In der Provinz Quang Ngai wurden 70 Prozent der Dörfer zerstört. Ich war damals 23 und hatte keine Vorstellung davon, was ein Kriegsverbrechen war, aber später wurde mir klar, dass ich genau davon Zeug geworden war. (Fünf Monate später, im März 1968, begingen die amerikanischen Truppen das Massaker von My Lai).
Die bekannte Erscheinung mit der spiegelnden, rahmenlosen Brille und dem streng nach hinten gekämmten Haar grüßte mich an der Tür seines tennisplatzgroßen Büros. Ich spürte eine ungeheure, ruhelose Energie, von der ich den Eindruck hatte, dass er sie nicht ausschalten konnte, wenn er es gewollt hätte. Kurz nachdem ich begonnen hatte, meine Beobachtungen zu erläutern, führte er mich vor eine Karte von Vietnam und forderte mich auf, ihm die zerstörten Gebiete zu zeigen. Ich hatte das Gefühl, ich würde getestet, aber ich war darauf vorbereitet, da ich in den Aufklärungsflugzeugen Karten bei mir gehabt hatte. Es schien ihn sehr zu beschäftigen, aber er sagte nichts dazu, sondern fragte mich lediglich, ob ich ein Manuskript hätte. Ich bejahte, gab aber zu bedenken, dass es in gewöhnlicher Handschrift verfasst sei. Er schlug vor, dass ich es abtippe und stellte mir das Büro eines abwesenden Generals zur Verfügung.
Was er nicht wusste, war, dass der Artikel Buchlänge hatte. Es dauerte drei Tage, bis ich alles in das Diktafon des Generals diktiert hatte. Ich habe das fertige Projekt dann McNamara übergeben, der mir dankte, aber weder dann noch irgendwann später etwas darüber sagte.
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McNamara, Staatssekretär Nicholas Katzenbach und Ministerialdirektor William Bundy erhielten ein Memo, in dem diese Schritte empfohlen wurden. Zuständig war Außenminister Dean Rusk. Die Piloten der Aufklärungsflugzeuge wurden erneut interviewt und eidesstattliche Erklärungen abgegeben. Zwei zivile Piloten wurden beauftragt, über die Provinz zu fliegen und meine Einschätzung der Zerstörungen zu prüfen. Es wurden Pläne gemacht, meine Erkenntnisse öffentlich zu widerlegen. Aber aus dem Bericht ging unbequemerweise hervor, dass „die Schätzungen von Herrn Schell im Wesentlichen korrekt sind“.
Vielleicht aus Frustration über seine fehlgeschlagenen Bemühungen, sachliche Fehler in meiner Berichterstattung zu finden, begann der Verfasser des Berichts, meine Darstellung zu relativieren. Ich sei mir nicht darüber im Klaren gewesen, dass die Zerstörung, die ich gesehen habe, in gewisser Weise zu rechtfertigen sei. Ich hätte möglicherweise nicht gewusst, dass die „Bevölkerung überaus feindselig eingestellt sei…“. Tatsächlich sei, in den Augen der Vietcong, „der Vietcong gleichzusetzen mit der Bevölkerung“. Und so wurde aus dem Hauptargument gegen den Krieg, nämlich dem absolut nachvollziehbaren Hass eines Großteils der Bevölkerung gegenüber der amerikanisch Invasion und Besetzung, eine Rechtfertigung des Krieges.
Als ich 1998 das nächste Mal ein längeres Gespräch mit McNamara führte, ging es nicht um Vietnam, sondern um Atombomben, ein Thema, bei dem wir uns genauso einig waren, wie vorher in Bezug auf Vietnam uneinig. Wir glaubten beide, dass man mit der Bombe nur eine vernünftige Sache tun könnte, nämlich sie loswerden. McNamaras Sinneswandel in diesem Thema war dramatisch. Mehr als jeder andere Regierungsbeamte war er verantwortlich für die Institutionalisierung der wichtigsten Strategie des Atomzeitalters, der Abschreckung, auch bekannt als gegenseitig zugesicherte Zerstörung.
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Viele Kritiker von McNamara stellen fest – und meiner Meinung nach zu Recht, dass er nicht weit genug ging, dass er versuchte, an edlen Absichten festzuhalten, die der Realität nicht standhalten. Wie edel sind Absichten, wenn die Tatsachen, die ihre schrecklichen Konsequenzen belegen, so offensichtlich sind und doch übersehen werden?
Ist McNamara in seiner Reue nicht weit genug gegangen? Ja. Hätte er sie früher ausdrücken sollen? Auf jeden Fall. Hätte er den Krieg gar nicht erst empfehlen oder ihn führen sollen und hätte es nie einen amerikanischen Krieg in Vietnam geben sollen? Mein Gott, ja.
Das zwanzigste Jahrhundert hat Berge von Leichen hinterlassen und sie türmen sich gerade wieder auf. Und doch, wie viele Politiker von McNamaras Bedeutung haben jemals Bedauern für ihre Fehler und Dummheiten und Verbrechen ausgedrückt? Ich kann nur einen nennen: Robert McNamara. In dem unwahrscheinlichen Fall, dass ihm jemals ein Denkmal gesetzt wird, stellt ihn weinend dar: Das war das Beste an ihm!
Jonathan Schell ist Forschungsstipendiat am The Nation Institute und Dozent an der Yale University, wo er einen Kurs zum Thema „Das nukleare Dilemma“ gibt. Er ist Autor von Das Schicksal der Erde und The Seventh Decade: The New Shape of Nuclear Danger .