5989630446f86f380ebb9c28_px163c.jpg Pedro Molina

Habt Mitleid mit den Politikern!

NEWPORT BEACH – Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber immer wenn ich in einem Flugzeug sitze und es Turbulenzen gibt, beruhige ich mich mit meinem Glauben, dass die Piloten hinter der geschlossenen Tür des Cockpits schon wissen, was zu tun ist. Wenn ich durch eine geöffnete Tür die Piloten sehen würde, wie sie, voller Frust über die schlechte Funktion der Flugzeugsteuerung, ohne Bedienungsanleitung über den nächsten Schritt diskutieren würden, würde ich mich deutlich anders fühlen.

Die Politiker vieler westlicher Volkswirtschaften ähneln eher der zweiten Gruppe von Piloten, und das ist beunruhigend. Diese Ansicht wird nicht nur durch die widersprüchlichen Ankündigungen und Verhaltensweisen der Entscheidungsträger begründet, sondern auch dadurch, dass die wirtschaftlichen Ergebnisse immer wieder anders waren, als sie erwartet hätten.

Dies sehen wir in Europa, den Vereinigten Staaten und in Japan, wo die Indikatoren der wirtschaftlichen Stimmung bereits wieder zurückgehen, selbst schwache Erholungstendenzen erneut zum Stillstand kommen und die überstrapazierten Bilanzen immer fragiler werden. Verständlicherweise werden Unternehmen und Haushalte noch vorsichtiger – was die Arbeit der Politiker noch schwieriger macht.

In Europa waren die Entscheidungsträger trotz vieler Gipfel und Programme, mehrerer teurer Rettungsaktionen und schmerzhafter wirtschaftlicher und sozialer Opfer nicht in der Lage, die Staatsschuldenkrise am Rand der Eurozone einzudämmen. Wie ein planlos gesteuertes Flugzeug hat die europäische Wirtschaft nicht so reagiert, wie es in der Bedienungsanleitung stand. So schrieb der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou letzte Woche in seinem eindrucksvollen Brief an den Vorsitzenden der Eurogruppe, Luxemburgs Ministerpräsidenten Jean-Claude Juncker: “Die Märkte und Rating-Agenturen haben sich nicht so verhalten, wie wir alle es erwartet haben”..

Angesichts solcher Ergebnisse, die von den Vorhersagen der Politiker so stark abweichen, ist es nicht überraschend, dass in offiziellen Kreisen wenig Harmonie herrscht. Die Sichtweisen widersprechen sich immer mehr – und das auf eine erstaunlich offensichtliche und beunruhigende Weise.

Die Uneinigkeit in Europa beschränkt sich nicht nur auf den Konflikt zwischen den “Problemlösern” (der Troika von Europäischer Zentralbank, Europäischer Union und Internationalem Währungsfonds) und den Ländern, die nun schmerzhafte Sparmaßnahmen einführen (Griechenland, Irland und Portugal). Auch innerhalb der Troika selbst sind gefährliche Spannungen entstanden, mit einer besonders störenden Sackgasse zwischen Frankfurt, dem Standort der EZB, und Berlin, dem deutschen Regierungssitz.

Introductory Offer: Save 30% on PS Digital
PS_Digital_1333x1000_Intro-Offer1

Introductory Offer: Save 30% on PS Digital

Access every new PS commentary, our entire On Point suite of subscriber-exclusive content – including Longer Reads, Insider Interviews, Big Picture/Big Question, and Say More – and the full PS archive.

Subscribe Now

In den USA ist die Situation nicht so drängend wie in Europa, aber auch dort ist politische Unfähigkeit erkennbar. Trotz nie dagewesener fiskalischer und finanzieller Stimulierung stagniert das Wirtschaftswachstum, und die Arbeitslosigkeit bleibt auf einem besorgniserregend hohen Niveau. Während die Politiker die wertvolle AAA-Bewertung des Landes gefährden, indem sie wie Schulkinder über die Anhebung der Schuldengrenze streiten, werden die mittelfristigen finanzpolitischen Aussichten immer düsterer.

Und dann stehen die Politiker auch noch komplizierten technischen Schwierigkeiten gegenüber, zu denen der Vorsitzende der US-Notenbank, Ben Bernanke, auf seine erfrischende und offene Art anmerkte: “Wir haben keine genaue Interpretation”..

Die wirtschaftlichen Bedienungsanleitungen der Fed, darunter technische Modelle und historische Analysen, erklären die heutige wirtschaftliche Situation nur unzureichend. Kein Wunder, dass das neueste der vielbeachteten Sitzungsprotokolle des Offenmarktausschusses eine gespaltene Gruppe aufzeigt, deren Mitglieder geldpolitisch gegensätzliche Wege vertreten – einige davon sind für weiteres Entgegenkommen, die anderen für eine Straffungsrunde.

In der Zwischenzeit dümpelt Japan weiter vor sich hin. Bei weiterer Unsicherheit über die nukleare Lage, vier Monate nach dem großen Erdbeben und einem verheerenden Tsunami, wurde immer noch kein umfassendes Wiederaufbauprogramm gestartet. Die daraus resultierenden wirtschaftlichen Unsicherheiten lassen Jahre schwachen Wachstums und sich verschlechternder Schuldenlage erwarten.

Das Problem der Politiker in Europa, den USA und Japan lässt sich in sechs wichtige Themen gliedern. Erstens leiden alle drei Wirtschaftsräume unter dem verstärkten Abbau von Fremdkapital. Als würde aus unserem metaphorischen Flugzeug mitten in der Luft der Sauerstoff abgesaugt, destabilisiert dieser Abbau von Fremdkapital die Gesellschaften und unterminiert die traditionelle Effektivität der politischen Maßnahmen. Könnten sie nach Belieben vorgehen, würden sich diese Volkswirtschaften wohl bis zum Exzess verschulden und altbewährte soziale Übereinkünfte ändern, was zu großer Unruhe und wirtschaftlicher Schrumpfung führen und eine neue Finanzkrise wahrscheinlicher machen würde.

Zweitens wirkt dieser inländische Rückgang des Fremdkapitalanteils noch verstärkend auf weitere strukturelle Hindernisse. Auch wenn sich die Details je nach Wirtschaftsregion und Sektor (Häusermarkt, Arbeitsmärkte, Kreditvermittlung usw.) unterscheiden, führen sie in ihrer Gesamtheit zu einem unglücklichen Ergebnis: Sie verhindern die Wachstumsfähigkeit der Wirtschaft und damit den geregelten Abbau des Schuldenüberhangs.

Drittens agieren Politiker in einer Weltwirtschaft, die sich mitten in einer großen Neuausrichtung befindet – viele wichtige Entwicklungsländer, in erster Linie China, brechen zunehmend aus ihrer nachgeordneten Rolle aus.

Viertens haben die Entscheidungsträger durch ihre Anwendung zyklischer Maßnahmen zur Lösung struktureller Probleme die Situation weiter verkompliziert – wiederum ein Zeichen für ihre Unfähigkeit, die neuartigen Herausforderungen zu verstehen, denen sie gegenüber stehen.

Fünftens macht die Politik die Probleme noch unübersichtlicher. Der Grund dafür ist einfach: In den meisten Fällen sind die erforderlichen strukturellen Maßnahmen kurzfristig schmerzhaft und erst langfristig wirksam – angesichts kurzer Wahlzyklen ein bei Politikern sehr unbeliebter Effekt.

Und schließlich war die Kommunikation fürchterlich. Ich habe selten gesehen, dass Politiker dermaßen unfähig waren, eine klare mittelfristige wirtschaftliche Vision zu kommunizieren – ein Versagen, das zur allgemeinen Unsicherheit und Unruhe beigetragen hat.

Aus all diesen Gründen sollten wir die heutigen Politiker bemitleiden, die zur Lösung außergewöhnlich schwieriger Herausforderungen nur mangelhafte Werkzeuge zur Verfügung haben. Aber Mitleid beinhaltet keinen Freibrief: Wir sollten die Verantwortlichen auch dazu drängen, ihre traditionelle zyklisches Denken zugunsten einer Weltsicht aufzugeben, mit der die komplizierten, aber grundlegenden strukturellen Probleme, die der momentanen Misere zugrunde liegen, besser verstanden und gelöst werden können.

Unglücklicherweise wird dies nicht über Nacht geschehen, und in manchen Fällen müssen sich die Zustände wohl noch deutlich zuspitzen, um die Politiker aufzurütteln. In der Zwischenzeit werden die glücklichen Unternehmen und Haushalte, die dazu in der Lage sind, weiterhin Reserven für schwierige Zeiten aufbauen. Andere dagegen werden leider noch größeren umwälzenden Turbulenzen ausgesetzt sein – ohne dass eine geschlossene Cockpit-Tür sie in Sicherheit wiegen könnte.

https://prosyn.org/g4tq0okde