zizek34_LUDOVIC MARINPOOLAFP via Getty Images_parisolympics Ludovic Marin/Pool/AFP via Getty Images

Die emanzipatorische Bedeutung der Olympischen Eröffnungszeremonie von Paris

LJUBLJANA – Zwei große kulturelle Ereignisse dieses Sommers, die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele 2024 in Paris und der Kinostart von Deadpool & Wolverine, bieten beide schillernde, ironiegetränkte Spektakel. Aber das ist auch schon alles an Gemeinsamkeiten, und eine Analyse ihrer Unterschiede ermöglicht es uns, die zutiefst zweideutige Beschaffenheit der Ironie, wie sie sich heute darstellt, besser zu verstehen.

Die ironische Distanz zur herrschenden gesellschaftlichen Ordnung fungiert oft als kaum verhüllte Form des Konformismus. Wie Wendy Ide in der Zeitschrift The Observer über Deadpool & Wolverine – die lediglich jüngste Folge eines scheinbar endlosen Zyklus von Marvel-Superhelden-Blockbustern – schreibt, kann der Film „unausstehlich und zugleich sehr lustig sein ... Aber er ist auch schlampig gemacht, repetitiv und sieht schludrig aus, und er stützt sich im Übermaß auf aus Memes abgeleitete Gags und schmerzhaft bemühte, an Comic-Fans gerichtete und auf einer Metaebene verortete Insider-Witze.“

Was für eine perfekte Beschreibung dafür, wie Ideologie heute funktioniert. In dem Wissen, dass niemand ihre zentrale Botschaft mehr ernst nimmt, bietet sie selbstreferenzielle Witze, Multiverse-Hopping und einschleimerische Bemerkungen ans Publikum, die die „vierte Wand“ durchbrechen. Derselbe Ansatz – Ironie im Dienste des Status quo – ist der, den ein Großteil des Publikums nutzt, um eine zunehmend verrückte und gewalttätige Welt auszuhalten.

Thomas Jolly allerdings, der Regisseur der olympischen Eröffnungsfeier, erinnert uns daran, dass es noch eine andere Form der Ironie gibt. Obwohl er sich bei der Darstellung der Gastgeberstadt und der französischen Kultur eng an die Olympische Charta hielt, wurde er heftig kritisiert. Sieht man einmal von den Katholiken ab, die die Darstellung der bacchantischen Feierlichkeiten als Verhöhnung des Abendmahls missverstanden, fängt der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán die negativen Reaktionen am besten ein:

Die Leute im Westen glauben, dass es keine Nationalstaaten mehr gibt. Sie leugnen, dass es eine gemeinsame Kultur und darauf basierende öffentliche Moral gibt. Es gibt keine Moral, und wenn Sie sich gestern die Eröffnung der Olympischen Spiele angeschaut haben, dann haben Sie es gesehen.

Das deutet darauf hin, dass es hier um enorm viel geht. Für Orbán signalisierte die Zeremonie den geistigen Suizid Europas, während sie für Jolly (und hoffentlich viele von uns) eine seltene Manifestation des wahren kulturellen Erbes Europas war. Die Welt erhielt einen kleinen Einblick in das Land Descartes’, des Begründers der modernen Philosophie, dessen radikaler Zweifel auf einer universellen – und daher „multikulturellen“ – Perspektive beruhte. Descartes verstand, dass die eigenen Traditionen nicht besser sind als die vermeintlich „exzentrischen“ Traditionen anderer:

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Schon auf der Schule hatte ich gelernt, dass man sich nichts so Sonderbares und Unglaubliches ausdenken kann, als dass es nicht schon von irgendeinem Philosophen behauptet worden wäre, und später auf meinen Reisen stellte ich fest, dass Leute, deren Gesinnungen den unseren geradewegs zuwiderlaufen, deswegen nicht unbedingt Barbaren oder Wilde sind, sondern dass mancher von ihnen ebenso viel Vernunft gebraucht wie wir, oder gar mehr.

Nur durch Relativierung der Partikularität können wir zu einer authentischen universalistischen Haltung gelangen. Das Festhalten an unseren ethnischen Wurzeln führt uns, im Sinne Kants, zu einem Privatgebrauch der Vernunft, bei dem uns durch zufällige dogmatische Annahmen Schranken gesetzt sind. In „Was ist Aufklärung?“ stellt Kant diesem unreifen Privatgebrauch der Vernunft einen stärker öffentlichen und objektiven gegenüber. Ersterer reflektiert nur den eigenen Staat, die eigene Religion und die eigenen Institutionen und dient diesen, während die öffentliche Vernunft die Einnahme einer transnationalen Haltung erfordert.

Die universelle Vernunft ist das, was wir bei der Eröffnungsfeier gesehen haben: ein seltener Blick auf den emanzipatorischen Kern des modernen Europas. Ja, die Bilder stammten aus Frankreich und Paris, aber die selbstreferenziellen Witze machten deutlich, dass dies kein Privatgebrauch der Vernunft war. Jolly schaffte es meisterhaft, sich ironisch von jedem „privaten“ institutionellen Rahmen zu distanzieren, auch dem des französischen Staates.

Die Konservativen liegen schlicht falsch, wenn sie die Zeremonie als Zurschaustellung von LGBTQ+-Ideologie und politisch korrekter Uniformität anprangern. Natürlich gab es implizite Kritik am konservativen Nationalismus, aber in Inhalt und Stil richtete sich die Kritik noch stärker gegen einen steifen politisch korrekten Moralismus oder „Wokeism“. Statt sich in gängiger politisch korrekter Manier um Vielfalt und Inklusion zu sorgen (die jeden ausschließt, der nicht mit einer bestimmten Vorstellung von Inklusion übereinstimmt), ließ die Show jeden ein. Marie Antoinettes guillotinierter singender Kopf wurde mit der in der Seine schwimmenden Mona Lisa und einem fröhlichen Bacchanal aus halbnackten Körpern kombiniert. Arbeiter, die Notre Dame reparierten, tanzten auf der Baustelle, und das Spektakel spielte sich nicht in einem Stadion ab, sondern in der gesamten weltoffenen Stadt.

Ein derart ironisches und obszönes Spektakel ist von steriler, humorloser politischer Korrektheit so weit entfernt wie irgendmöglich. Die Zeremonie präsentierte Europa nicht nur von seiner besten Seite, sondern erinnerte die Welt daran, dass eine derartige Zeremonie nur in Europa überhaupt möglich ist. Sie war global, multikulturell usw., aber die Botschaft wurde vom Standpunkt der französischen Hauptstadt – der großartigsten Stadt der Welt – aus vermittelt. Es war eine Botschaft der Hoffnung, die sich eine Welt der großen Vielfalt ohne Raum für Krieg und Hass vorstellte.

Man vergleiche dies mit der Vision des rechtsgerichteten russischen politischen Philosophen Aleksandr Dugin, die dieser kürzlich in einem Interview mit dem brasilianischen Journalisten Pepe Escobar darlegte. Für Dugin ist Europa jetzt irrelevant, ein verrotteter, von einer hohen Mauer geschützter Garten. Die einzige Entscheidungsmöglichkeit bestünde zwischen dem US-amerikanischen globalistischen „Deep State“ und einer friedlichen neuen Weltordnung souveräner Staaten. Sie wäre friedlich, weil Russland Atomwaffen an alle Entwicklungsländer verteilen würde, sodass das Prinzip der gesicherten gegenseitigen Zerstörung überall gelte.

Die diesjährigen US-Präsidentschaftswahlen als Wettstreit zwischen amerikanischem „Deep State“ und Donald Trump werden daher laut Dugin das Schicksal der Menschheit entscheiden. Gewinne Trump, sei eine Deeskalation möglich, gewinne ein Demokrat, würden wir auf einen globalen Krieg und das Ende der Menschheit zusteuern.

In Anbetracht dessen, was Leute wie Orbán und Dugin denken, ist Jollys Botschaft zutiefst ethisch. Sie flüstert den konservativen Nationalisten zu: Schaut euch die Zeremonie noch einmal genau an, und schämt euch für das, was ihr seid.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

https://prosyn.org/MH0gCUnde