BERLIN – Das Ziel der Pariser Klimakonferenz, die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius zu beschränken, ist erneut in den Schlagzeilen. Laut aktueller Prognosen der Weltorganisation für Meteorologie besteht „eine 66%-ige Wahrscheinlichkeit, dass die Jahresdurchschnittstemperatur in Bodennähe zwischen 2023 und 2027 für mindestens ein Jahr mehr als 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau liegt“. Ein besonders starker El-Niño-Zyklus bedeutet, dass es mit ziemlicher Sicherheit Rekordtemperaturen geben wird.
Aber so beängstigend diese Warnungen auch sein mögen: Noch schlimmer wäre es, wenn ein Jahr oberhalb der 1,5°C so interpretiert würde, dass das 1,5°C-Ziel verfehlt wurde. Diese falsche Schlussfolgerung würde uns dazu bringen, das Ziel des Pariser Abkommens aufzugeben, anstatt es wie nötig noch stärker zu verfolgen.
Ein oder wenige Jahre mit extremen Temperaturen bedeutet nicht, dass das 1,5°C-Ziel gescheitert ist. Es bezieht sich auf menschlich verursachte Temperaturveränderungen, die über Jahrzehnte hinweg gemessen werden. Daran müssen wir uns dringend erinnern, um den gefährlichen Klimafatalismus abzuwehren, der in den letzten Jahren zugenommen hat.
Ja, jetzt wo sich der Planet um etwa 1,2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau aufgeheizt hat, werden uns „Jahrhundert“-Hitzewellen, Waldbrände und Überschwemmungen immer vertrauter. In einigen tief liegenden Regionen wird die Bevölkerung bereits durch steigende Meeresspiegel zur Umsiedlung gezwungen. Aber zwischen 1,2 und 1,5°C (und ganz zu schweigen von 1,5 und 2°C) besteht immer noch ein erheblicher Unterschied, und die Wissenschaft zeigt uns, dass es weiterhin möglich ist, am Ende des Jahrhunderts bei oder unter 1,5°C zu landen.
Die Bedeutung und Notwendigkeit der 1,5°C-Grenze wird von der aktuellen Klimaforschung bestätigt. Wie der Weltklimarat IPCC im letzten Jahr gewarnt hat, können extreme Wetterereignisse, der Zusammenbruch von Ökosystemen und planetarische Kipppunkte bereits bei deutlich niedrigerer globaler Erwärmung stattfinden als bisher gedacht. Seit dem letzten Berichtszyklus des IPCC im Jahr 2014 haben wir immer mehr Beweise dafür gefunden, dass sogar eine um lediglich 1,5°C wärmere Welt extrem herausfordernd wäre – und dass eine Erwärmung über diese Grenze hinaus wirklich katastrophale Folgen hätte.
Mit jedem zusätzlichen Zehntelgrad Erwärmung werden mehr Menschen unter lebensbedrohlichen Hitzewellen, Wasserknappheit und Überschwemmungen leiden. Schlimmer noch, verschiedene Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit von Kipppunkten –wie dem möglichen Kollaps des westantarktischen Eisschildes – über 1,5°C exponentiell steigt. Diese Kipppunkte stellen rote Linien dar: Die Welt würde dann zwar nicht untergehen, sich aber grundlegend verändern. Noch mehr Eis würde schmelzen, die Meeresökosysteme würden sich verändern und der Meeresspiegel würde steigen – und all das wäre dann unumkehrbar.
Der einzige vernünftige Ansatz besteht darin, diese Gefahr zu verringern, indem wir die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich senken. Dann können wir, auch wenn wir kurzfristig die 1,5°C-Grenze überschreiten, langfristig dorthin zurückkehren. Aber dies ist nur möglich, wenn wir die fossilen Emissionen auf Null bringen – als ersten entscheidenden Schritt hin zu Nettonull-Treibhausgasemissionen.
Genau so wichtig ist es, die natürlichen Land- und Meeressysteme zu schützen, die Kohlenstoff absorbieren und speichern. Gerät (beispielsweise durch das Tauen des Permafrostbodens) der Kohlenstoffzyklus der Erde aus den Fugen, werden wir nicht mehr in der Lage sein, die globalen Temperatursteigerungen rückgängig zu machen.
Um die Erwärmung in diesem Jahrhundert auf 1,5°C zu begrenzen, müssen wir bis 2030 unsere Emissionen halbieren. Diese Zahl ist nicht beliebig: Nur wenn dies geschieht, können wir die Erwärmungsgeschwindigkeit in den 2030ern halbieren und in den 2040ern zum Stillstand bringen. Wir haben die Wahl, das Problem des Klimawandels selbst zu lösen, oder unseren Kindern eine zivilisatorische Zeitbombe zu übergeben.
Verlangsamt sich der Erwärmungsprozess, verschafft uns das auch wertvolle Zeit für Anpassungsmaßnahmen. Sogar ein reiches Land wie die Vereinigten Staaten stößt bei der Frage, wie schnell und vollständig es sich an die Folgen des Klimawandels anpassen kann, an seine Grenzen. Anderswo ist die Lage viel schlimmer: Katastrophen wie die letztjährigen Überschwemmungen in Pakistan können die Wirtschaft eines Landes zerstören und es in eine Abwärtsspirale von Armut und steigenden Schulden stürzen. Dazu kommen noch künftige Klimakatastrophen, auf die vorzubereiten sich viele Länder nicht leisten können.
Außerdem ist die 1,5°C-Grenze die Grundlage vieler Nettonullverpflichtungen von Regierungen, Unternehmen und Städten auf der ganzen Welt. Hinter den Auslaufplänen für Kohle (wie in Deutschland, Vietnam oder Großbritannien) steht eine auf 1,5°C ausgerichtete Modellierung, die zeigt, dass die OECD-Länder bis 2030 und Nicht-OECD-Länder bis 2040 auf Kohle verzichten müssen. Kurz darauf muss dies dann auch für Gas gelten.
Da die verbleibende Zeit immer kürzer wird, geben uns diese auf der 1,5°C-Grenze beruhenden Modelle die richtigen Prioritäten vor: Zuerst müssen wir die Stromerzeugung dekarbonisieren, und dann das Transportwesen, die Bauwirtschaft und die Industrie so stark wie möglich elektrifizieren, wobei wir gleichzeitig den Verbrauch verringern. Über diese leicht erreichbaren Ziele hinaus müssen wir dann auch die Technologien zur Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre ausbauen.
Die Investitionen gehen bereits in diese Richtung: Seit dem Pariser Abkommen von 2015 sind Solarstrom, Windenergie und Akkus viel billiger geworden. Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen gehören immer mehr zur Normalität. Dies sind marktgetriebene Reaktionen auf staatliche Anreize: Um Vertrauen zu schaffen und das Wachstum sauberer Energieträger zu unterstützen, waren politische Vorgaben enorm wichtig.
Aufzugeben und sich vom 1,5°C-Ziel zu verabschieden würde großen Emittenten einen Freibrief geben. Anstatt Vertrauen zu schaffen würde es uns signalisieren, dass wir weniger erwarten sollten – und all jene im Stich lassen, die an Orten leben, wo es an Ressourcen und Möglichkeiten zur Anpassung an eine wärmere Welt mangelt.
Setzen wir uns jetzt nicht für die ehrgeizigsten wissenschaftlich fundierten Ziele ein, werden jene, die nichts ändern wollen, unseren Fatalismus ausnutzen. Beispielsweise hat der BP-Konzern – nach einem enorm profitablen Jahr, das Russlands Krieg in der Ukraine geschuldet war – kürzlich angedeutet, dass er nun einen großen Teil seiner eigentlich für die Dekarbonisierung vorgesehenen Investitionen wieder in Öl und Gas umleiten will.
Unsere besten wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das 1,5°C-Ziel immer noch erreichbar ist, und sie zeigen uns, wie wir dorthin kommen können. Wie es der britische Klimawandeldiplomat Pete Betts ausdrückt: „Wenn wir 1,5°C überschreiten, heißt das nicht, dass wir aufgeben sollten. Es heißt, dass wir uns mehr anstrengen müssen.“
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
BERLIN – Das Ziel der Pariser Klimakonferenz, die globale Erwärmung auf 1,5° Celsius zu beschränken, ist erneut in den Schlagzeilen. Laut aktueller Prognosen der Weltorganisation für Meteorologie besteht „eine 66%-ige Wahrscheinlichkeit, dass die Jahresdurchschnittstemperatur in Bodennähe zwischen 2023 und 2027 für mindestens ein Jahr mehr als 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau liegt“. Ein besonders starker El-Niño-Zyklus bedeutet, dass es mit ziemlicher Sicherheit Rekordtemperaturen geben wird.
Aber so beängstigend diese Warnungen auch sein mögen: Noch schlimmer wäre es, wenn ein Jahr oberhalb der 1,5°C so interpretiert würde, dass das 1,5°C-Ziel verfehlt wurde. Diese falsche Schlussfolgerung würde uns dazu bringen, das Ziel des Pariser Abkommens aufzugeben, anstatt es wie nötig noch stärker zu verfolgen.
Ein oder wenige Jahre mit extremen Temperaturen bedeutet nicht, dass das 1,5°C-Ziel gescheitert ist. Es bezieht sich auf menschlich verursachte Temperaturveränderungen, die über Jahrzehnte hinweg gemessen werden. Daran müssen wir uns dringend erinnern, um den gefährlichen Klimafatalismus abzuwehren, der in den letzten Jahren zugenommen hat.
Ja, jetzt wo sich der Planet um etwa 1,2°C gegenüber dem vorindustriellen Niveau aufgeheizt hat, werden uns „Jahrhundert“-Hitzewellen, Waldbrände und Überschwemmungen immer vertrauter. In einigen tief liegenden Regionen wird die Bevölkerung bereits durch steigende Meeresspiegel zur Umsiedlung gezwungen. Aber zwischen 1,2 und 1,5°C (und ganz zu schweigen von 1,5 und 2°C) besteht immer noch ein erheblicher Unterschied, und die Wissenschaft zeigt uns, dass es weiterhin möglich ist, am Ende des Jahrhunderts bei oder unter 1,5°C zu landen.
Die Bedeutung und Notwendigkeit der 1,5°C-Grenze wird von der aktuellen Klimaforschung bestätigt. Wie der Weltklimarat IPCC im letzten Jahr gewarnt hat, können extreme Wetterereignisse, der Zusammenbruch von Ökosystemen und planetarische Kipppunkte bereits bei deutlich niedrigerer globaler Erwärmung stattfinden als bisher gedacht. Seit dem letzten Berichtszyklus des IPCC im Jahr 2014 haben wir immer mehr Beweise dafür gefunden, dass sogar eine um lediglich 1,5°C wärmere Welt extrem herausfordernd wäre – und dass eine Erwärmung über diese Grenze hinaus wirklich katastrophale Folgen hätte.
Mit jedem zusätzlichen Zehntelgrad Erwärmung werden mehr Menschen unter lebensbedrohlichen Hitzewellen, Wasserknappheit und Überschwemmungen leiden. Schlimmer noch, verschiedene Studien zeigen, dass die Wahrscheinlichkeit von Kipppunkten –wie dem möglichen Kollaps des westantarktischen Eisschildes – über 1,5°C exponentiell steigt. Diese Kipppunkte stellen rote Linien dar: Die Welt würde dann zwar nicht untergehen, sich aber grundlegend verändern. Noch mehr Eis würde schmelzen, die Meeresökosysteme würden sich verändern und der Meeresspiegel würde steigen – und all das wäre dann unumkehrbar.
BLACK FRIDAY SALE: Subscribe for as little as $34.99
Subscribe now to gain access to insights and analyses from the world’s leading thinkers – starting at just $34.99 for your first year.
Subscribe Now
Der einzige vernünftige Ansatz besteht darin, diese Gefahr zu verringern, indem wir die Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich senken. Dann können wir, auch wenn wir kurzfristig die 1,5°C-Grenze überschreiten, langfristig dorthin zurückkehren. Aber dies ist nur möglich, wenn wir die fossilen Emissionen auf Null bringen – als ersten entscheidenden Schritt hin zu Nettonull-Treibhausgasemissionen.
Genau so wichtig ist es, die natürlichen Land- und Meeressysteme zu schützen, die Kohlenstoff absorbieren und speichern. Gerät (beispielsweise durch das Tauen des Permafrostbodens) der Kohlenstoffzyklus der Erde aus den Fugen, werden wir nicht mehr in der Lage sein, die globalen Temperatursteigerungen rückgängig zu machen.
Um die Erwärmung in diesem Jahrhundert auf 1,5°C zu begrenzen, müssen wir bis 2030 unsere Emissionen halbieren. Diese Zahl ist nicht beliebig: Nur wenn dies geschieht, können wir die Erwärmungsgeschwindigkeit in den 2030ern halbieren und in den 2040ern zum Stillstand bringen. Wir haben die Wahl, das Problem des Klimawandels selbst zu lösen, oder unseren Kindern eine zivilisatorische Zeitbombe zu übergeben.
Verlangsamt sich der Erwärmungsprozess, verschafft uns das auch wertvolle Zeit für Anpassungsmaßnahmen. Sogar ein reiches Land wie die Vereinigten Staaten stößt bei der Frage, wie schnell und vollständig es sich an die Folgen des Klimawandels anpassen kann, an seine Grenzen. Anderswo ist die Lage viel schlimmer: Katastrophen wie die letztjährigen Überschwemmungen in Pakistan können die Wirtschaft eines Landes zerstören und es in eine Abwärtsspirale von Armut und steigenden Schulden stürzen. Dazu kommen noch künftige Klimakatastrophen, auf die vorzubereiten sich viele Länder nicht leisten können.
Außerdem ist die 1,5°C-Grenze die Grundlage vieler Nettonullverpflichtungen von Regierungen, Unternehmen und Städten auf der ganzen Welt. Hinter den Auslaufplänen für Kohle (wie in Deutschland, Vietnam oder Großbritannien) steht eine auf 1,5°C ausgerichtete Modellierung, die zeigt, dass die OECD-Länder bis 2030 und Nicht-OECD-Länder bis 2040 auf Kohle verzichten müssen. Kurz darauf muss dies dann auch für Gas gelten.
Da die verbleibende Zeit immer kürzer wird, geben uns diese auf der 1,5°C-Grenze beruhenden Modelle die richtigen Prioritäten vor: Zuerst müssen wir die Stromerzeugung dekarbonisieren, und dann das Transportwesen, die Bauwirtschaft und die Industrie so stark wie möglich elektrifizieren, wobei wir gleichzeitig den Verbrauch verringern. Über diese leicht erreichbaren Ziele hinaus müssen wir dann auch die Technologien zur Entfernung von Kohlendioxid aus der Atmosphäre ausbauen.
Die Investitionen gehen bereits in diese Richtung: Seit dem Pariser Abkommen von 2015 sind Solarstrom, Windenergie und Akkus viel billiger geworden. Elektrofahrzeuge und Wärmepumpen gehören immer mehr zur Normalität. Dies sind marktgetriebene Reaktionen auf staatliche Anreize: Um Vertrauen zu schaffen und das Wachstum sauberer Energieträger zu unterstützen, waren politische Vorgaben enorm wichtig.
Aufzugeben und sich vom 1,5°C-Ziel zu verabschieden würde großen Emittenten einen Freibrief geben. Anstatt Vertrauen zu schaffen würde es uns signalisieren, dass wir weniger erwarten sollten – und all jene im Stich lassen, die an Orten leben, wo es an Ressourcen und Möglichkeiten zur Anpassung an eine wärmere Welt mangelt.
Setzen wir uns jetzt nicht für die ehrgeizigsten wissenschaftlich fundierten Ziele ein, werden jene, die nichts ändern wollen, unseren Fatalismus ausnutzen. Beispielsweise hat der BP-Konzern – nach einem enorm profitablen Jahr, das Russlands Krieg in der Ukraine geschuldet war – kürzlich angedeutet, dass er nun einen großen Teil seiner eigentlich für die Dekarbonisierung vorgesehenen Investitionen wieder in Öl und Gas umleiten will.
Unsere besten wissenschaftlichen Erkenntnisse deuten darauf hin, dass das 1,5°C-Ziel immer noch erreichbar ist, und sie zeigen uns, wie wir dorthin kommen können. Wie es der britische Klimawandeldiplomat Pete Betts ausdrückt: „Wenn wir 1,5°C überschreiten, heißt das nicht, dass wir aufgeben sollten. Es heißt, dass wir uns mehr anstrengen müssen.“
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff