LJUBLJANA: Wladimir Lenins Tod ist inzwischen ein Jahrhundert her, und seit dem Zusammenbruch des bolschewistischen Projekts sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Doch während Lenins politisches Leben aus heutiger Sicht in vieler Hinsicht hochproblematisch war, ist sein unerbittlicher Pragmatismus noch immer wirkungsmächtig.
Man erinnere sich an Lenins berühmtes Bekenntnis zur „konkreten Analyse der konkreten Situation“. Man müsse sowohl dogmatische Treue gegenüber der Sache und prinzipienlosen Opportunismus vermeiden. Unter den sich rasch wandelnden Bedingungen der realen Welt bestünde der einzige Weg, einem Grundsatz treu – „orthodox“ im positiven Sinne des Wortes – zu bleiben, in der Änderung der eigenen Position. Daher machten sich die Bolschewisten 1922, nachdem sie allen Widrigkeiten zum Trotz im Bürgerkrieg gesiegt hatten, die „neue Wirtschaftspolitik“ zu eigen, die Privateigentum und Markt einen viel größeren Stellenwert einräumte.
Zu Erläuterung dieser Entscheidung verwendete Lenin die Analogie vom Bergsteiger, der den Rückzug antreten muss, „um höher aufzusteigen“ Nachdem er die Erfolge und Misserfolge des neuen Sowjetstaates aufgezählt hatte, zog er das Fazit: „Kommunisten, die keine Illusionen haben, die nicht in Verzagtheit verfallen und die sich ihre Stärke und Flexibilität bewahren, eine äußerst schwierige Aufgabe immer wieder ‚von vorn zu beginnen‘, sind nicht zum Scheitern verdammt (und werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zugrundegehen).“
Hier sind Anklänge an den dänischen Theologen Søren Kierkegaard erkennbar, von dem Marxisten eine Menge lernen können. Jeder revolutionäre Prozess, so die Überzeugung Lenins, sei nicht gradueller, sondern repetitiver Art: eine Bewegung, bei der der Anfangständig wiederholt wird.
Wie besser ließe sich der Punkt fassen, an dem wir heute stehen? Nach der „obskuren Katastrophe“ des Jahres 1989, die einen definitiven Schlusspunkt hinter die Epoche setzte, die mit der Oktoberrevolution von 1917 begann, kann man der Bedeutung des Begriffs „die Linke“ während der vergangenen zwei Jahrhunderte keinerlei Kontinuität mehr zuschreiben. Obwohl uns unauslöschliche Momente wie der jakobinische Höhepunkt der Französischen Revolution und die Oktoberrevolution in Erinnerung bleiben werden, sind diese Geschichten vorbei. Alles sollte von einem neuen Ausgangspunkt neu durchdacht werden.
Ein frischer Ansatz ist nun, da der globale Kapitalismus zur einzig wahren revolutionären Kraft geworden ist, wichtiger denn je. Was von der Linken übrig geblieben ist, ist besessen davon, die alten Erfolge des Wohlfahrtsstaates zu schützen – ein Projekt, das weitgehend ignoriert, wie sehr der Kapitalismus die Textur unserer Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
At a time when democracy is under threat, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided. Subscribe now and save $50 on a new subscription.
Subscribe Now
Es gibt natürlich Ausnahmen. Zu den wenigen Theoretikern und Politikern, die diesen Prozess durchschauten, gehört Yanis Varoufakis. Der Kapitalismus, so argumentiert er, sei dabei, sich in einen Techno-Feudalismus zu verwandeln, und die traditionelle antikapitalistische Rhetorik verliere daher an Zugkraft. Dies impliziert, dass wir die Sozialdemokratie und ihre zentrale Idee eines linksliberalen Wohlfahrtsstaates aufgeben sollten.
In korrekt leninistischer Weise erkennt Varoufakis, dass der Gegenstand unserer kritischen Analyse (der Kapitalismus) sich verändert hat und dass wir uns mit ihm ändern müssen. Ansonsten trügen wir nur zu einem Wiedererstarken des Kapitalismus in neuer Gestalt bei.
Lenins Form des Pragmatismus steht keinesfalls nur der Linken zur Verfügung. Im vergangenen Monat hat sich der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ami Ayalon, für einen Paradigmenwechsel ausgesprochen: „Wir Israelis werden erst Sicherheit haben, wenn sie – die Palästinenser – Hoffnung haben. So lautet die Gleichung.“ Weil die Sicherheit Israels so lange nicht gewährleistet sei, wie die Palästinenser keinen eigenen Staat hätten, sollten die israelischen Behörden Marwan Barghouti, den inhaftierten Anführer der Zweiten Intifada, freilassen, damit dieser die Verhandlungen über die Schaffung eines derartigen Staates führen könne.
„Schauen Sie sich die palästinensischen Meinungsumfragen an“, sagt Ayalon. „Er ist der einzige Anführer, der die Palästinenser zu einem Staat an der Seite Israels führen kann. Erstens, weil er an das Konzept der zwei Staaten glaubt, und zweitens, weil er sich durch seine Haft in unseren Gefängnissen Legitimität erworben hat.“ Tatsächlich betrachten viele Barghouti (der seit zwei Jahrzehnten inhaftiert ist) als eine Art palästinensischen Nelson Mandela.
Oder man betrachte ein noch überraschenderes Beispiel. Letzte Woche veröffentlichte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, nach Medienberichten über seine bevorstehende Entlassung einen Kommentar, in dem er seine Prioritäten für die Ukraine darlegte und die Spitzenprioritäten für die Kriegsanstrengungen formulierte. „Man kann die Herausforderung für unsere Streitkräfte gar nicht überschätzen“, schrieb er. „Sie besteht darin, ein völlig neues staatliches System der technologischen Wiederbewaffnung zu schaffen.“
Dies bedeute einen verstärkten Fokus auf „unbemannte Systeme – wie etwa Drohnen – sowie andere Arten fortschrittlicher Waffen, die der Ukraine die beste Chance bieten, nicht in einen Stellungskrieg verstrickt zu werden, wo wir nicht im Vorteil sind.“ Anschließend erkannte der „eiserne General“ (wie er manchmal genannt wird) an, dass sich die Ukraine angesichts der Tatsache, dass ihre wichtigsten Verbündeten mit eigenen politischen Spannungen zu kämpfen haben, auf eine Verringerung der militärischen Unterstützung vorbereiten müsse.
Ich betrachte Saluschnyjs kurzen Kommentar als eine leninistische (d. h., prinzipiengeleitet-pragmatische) Intervention. Natürlich werden radikale Linke und auch Saluschnyj selbst diese Charakterisierung als absurd betrachten, und ich bin kein Experte für die derzeit in der Ukraine ablaufenden Machtkämpfe oder Saluschnyjs Rolle dabei. Ich sage nur, dass Saluschnyj die Treue gegenüber dem Ziel (der Wahrung der ukrainischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität als demokratischer Staat) gekonnt mit einer konkreten Analyse der Lage auf dem Schlachtfeld verbunden hat.
Um es klar zu sagen: Die heroische Phase des Widerstands der Bevölkerung gegen den Angreifer und des Nahkampfes von Mann zu Mann an der Front ist vorbei. Die Ukraine muss sich neu orientieren, indem sie neue, für einen langen Krieg geeignete Technologien einführt und indem sie der wachsenden Unlust der westlichen Länder, unbefristet Hilfe zu leisten, zuvorkommt. Die Ukraine wird zudem ihr eigenes Haus in Ordnung bringen müssen, indem sie entschlossen gegen die Korruption und die Oligarchen vorgeht und klar zum Ausdruck bringt, wofür sie kämpft.
Vor allem braucht die Ukraine eine gemeinsame Vision, die nicht verengt nationalistisch oder durch den Verdacht bestimmt ist, dass die ukrainische Linke prorussisch eingestellt sei. Um den Auswirkungen der Kriegserschöpfung zu widerstehen, müssen sich die Ukrainer in die Rolle von Lenins Bergsteiger versetzen.
To have unlimited access to our content including in-depth commentaries, book reviews, exclusive interviews, PS OnPoint and PS The Big Picture, please subscribe
At the end of a year of domestic and international upheaval, Project Syndicate commentators share their favorite books from the past 12 months. Covering a wide array of genres and disciplines, this year’s picks provide fresh perspectives on the defining challenges of our time and how to confront them.
ask Project Syndicate contributors to select the books that resonated with them the most over the past year.
LJUBLJANA: Wladimir Lenins Tod ist inzwischen ein Jahrhundert her, und seit dem Zusammenbruch des bolschewistischen Projekts sind mehr als drei Jahrzehnte vergangen. Doch während Lenins politisches Leben aus heutiger Sicht in vieler Hinsicht hochproblematisch war, ist sein unerbittlicher Pragmatismus noch immer wirkungsmächtig.
Man erinnere sich an Lenins berühmtes Bekenntnis zur „konkreten Analyse der konkreten Situation“. Man müsse sowohl dogmatische Treue gegenüber der Sache und prinzipienlosen Opportunismus vermeiden. Unter den sich rasch wandelnden Bedingungen der realen Welt bestünde der einzige Weg, einem Grundsatz treu – „orthodox“ im positiven Sinne des Wortes – zu bleiben, in der Änderung der eigenen Position. Daher machten sich die Bolschewisten 1922, nachdem sie allen Widrigkeiten zum Trotz im Bürgerkrieg gesiegt hatten, die „neue Wirtschaftspolitik“ zu eigen, die Privateigentum und Markt einen viel größeren Stellenwert einräumte.
Zu Erläuterung dieser Entscheidung verwendete Lenin die Analogie vom Bergsteiger, der den Rückzug antreten muss, „um höher aufzusteigen“ Nachdem er die Erfolge und Misserfolge des neuen Sowjetstaates aufgezählt hatte, zog er das Fazit: „Kommunisten, die keine Illusionen haben, die nicht in Verzagtheit verfallen und die sich ihre Stärke und Flexibilität bewahren, eine äußerst schwierige Aufgabe immer wieder ‚von vorn zu beginnen‘, sind nicht zum Scheitern verdammt (und werden aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zugrundegehen).“
Hier sind Anklänge an den dänischen Theologen Søren Kierkegaard erkennbar, von dem Marxisten eine Menge lernen können. Jeder revolutionäre Prozess, so die Überzeugung Lenins, sei nicht gradueller, sondern repetitiver Art: eine Bewegung, bei der der Anfangständig wiederholt wird.
Wie besser ließe sich der Punkt fassen, an dem wir heute stehen? Nach der „obskuren Katastrophe“ des Jahres 1989, die einen definitiven Schlusspunkt hinter die Epoche setzte, die mit der Oktoberrevolution von 1917 begann, kann man der Bedeutung des Begriffs „die Linke“ während der vergangenen zwei Jahrhunderte keinerlei Kontinuität mehr zuschreiben. Obwohl uns unauslöschliche Momente wie der jakobinische Höhepunkt der Französischen Revolution und die Oktoberrevolution in Erinnerung bleiben werden, sind diese Geschichten vorbei. Alles sollte von einem neuen Ausgangspunkt neu durchdacht werden.
Ein frischer Ansatz ist nun, da der globale Kapitalismus zur einzig wahren revolutionären Kraft geworden ist, wichtiger denn je. Was von der Linken übrig geblieben ist, ist besessen davon, die alten Erfolge des Wohlfahrtsstaates zu schützen – ein Projekt, das weitgehend ignoriert, wie sehr der Kapitalismus die Textur unserer Gesellschaften in den letzten Jahrzehnten verändert hat.
HOLIDAY SALE: PS for less than $0.7 per week
At a time when democracy is under threat, there is an urgent need for incisive, informed analysis of the issues and questions driving the news – just what PS has always provided. Subscribe now and save $50 on a new subscription.
Subscribe Now
Es gibt natürlich Ausnahmen. Zu den wenigen Theoretikern und Politikern, die diesen Prozess durchschauten, gehört Yanis Varoufakis. Der Kapitalismus, so argumentiert er, sei dabei, sich in einen Techno-Feudalismus zu verwandeln, und die traditionelle antikapitalistische Rhetorik verliere daher an Zugkraft. Dies impliziert, dass wir die Sozialdemokratie und ihre zentrale Idee eines linksliberalen Wohlfahrtsstaates aufgeben sollten.
In korrekt leninistischer Weise erkennt Varoufakis, dass der Gegenstand unserer kritischen Analyse (der Kapitalismus) sich verändert hat und dass wir uns mit ihm ändern müssen. Ansonsten trügen wir nur zu einem Wiedererstarken des Kapitalismus in neuer Gestalt bei.
Lenins Form des Pragmatismus steht keinesfalls nur der Linken zur Verfügung. Im vergangenen Monat hat sich der frühere Chef des israelischen Inlandsgeheimdienstes Shin Bet, Ami Ayalon, für einen Paradigmenwechsel ausgesprochen: „Wir Israelis werden erst Sicherheit haben, wenn sie – die Palästinenser – Hoffnung haben. So lautet die Gleichung.“ Weil die Sicherheit Israels so lange nicht gewährleistet sei, wie die Palästinenser keinen eigenen Staat hätten, sollten die israelischen Behörden Marwan Barghouti, den inhaftierten Anführer der Zweiten Intifada, freilassen, damit dieser die Verhandlungen über die Schaffung eines derartigen Staates führen könne.
„Schauen Sie sich die palästinensischen Meinungsumfragen an“, sagt Ayalon. „Er ist der einzige Anführer, der die Palästinenser zu einem Staat an der Seite Israels führen kann. Erstens, weil er an das Konzept der zwei Staaten glaubt, und zweitens, weil er sich durch seine Haft in unseren Gefängnissen Legitimität erworben hat.“ Tatsächlich betrachten viele Barghouti (der seit zwei Jahrzehnten inhaftiert ist) als eine Art palästinensischen Nelson Mandela.
Oder man betrachte ein noch überraschenderes Beispiel. Letzte Woche veröffentlichte der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte, Walerij Saluschnyj, nach Medienberichten über seine bevorstehende Entlassung einen Kommentar, in dem er seine Prioritäten für die Ukraine darlegte und die Spitzenprioritäten für die Kriegsanstrengungen formulierte. „Man kann die Herausforderung für unsere Streitkräfte gar nicht überschätzen“, schrieb er. „Sie besteht darin, ein völlig neues staatliches System der technologischen Wiederbewaffnung zu schaffen.“
Dies bedeute einen verstärkten Fokus auf „unbemannte Systeme – wie etwa Drohnen – sowie andere Arten fortschrittlicher Waffen, die der Ukraine die beste Chance bieten, nicht in einen Stellungskrieg verstrickt zu werden, wo wir nicht im Vorteil sind.“ Anschließend erkannte der „eiserne General“ (wie er manchmal genannt wird) an, dass sich die Ukraine angesichts der Tatsache, dass ihre wichtigsten Verbündeten mit eigenen politischen Spannungen zu kämpfen haben, auf eine Verringerung der militärischen Unterstützung vorbereiten müsse.
Ich betrachte Saluschnyjs kurzen Kommentar als eine leninistische (d. h., prinzipiengeleitet-pragmatische) Intervention. Natürlich werden radikale Linke und auch Saluschnyj selbst diese Charakterisierung als absurd betrachten, und ich bin kein Experte für die derzeit in der Ukraine ablaufenden Machtkämpfe oder Saluschnyjs Rolle dabei. Ich sage nur, dass Saluschnyj die Treue gegenüber dem Ziel (der Wahrung der ukrainischen Unabhängigkeit und territorialen Integrität als demokratischer Staat) gekonnt mit einer konkreten Analyse der Lage auf dem Schlachtfeld verbunden hat.
Um es klar zu sagen: Die heroische Phase des Widerstands der Bevölkerung gegen den Angreifer und des Nahkampfes von Mann zu Mann an der Front ist vorbei. Die Ukraine muss sich neu orientieren, indem sie neue, für einen langen Krieg geeignete Technologien einführt und indem sie der wachsenden Unlust der westlichen Länder, unbefristet Hilfe zu leisten, zuvorkommt. Die Ukraine wird zudem ihr eigenes Haus in Ordnung bringen müssen, indem sie entschlossen gegen die Korruption und die Oligarchen vorgeht und klar zum Ausdruck bringt, wofür sie kämpft.
Vor allem braucht die Ukraine eine gemeinsame Vision, die nicht verengt nationalistisch oder durch den Verdacht bestimmt ist, dass die ukrainische Linke prorussisch eingestellt sei. Um den Auswirkungen der Kriegserschöpfung zu widerstehen, müssen sich die Ukrainer in die Rolle von Lenins Bergsteiger versetzen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan