NEW YORK – Diesen Monat vor 50 Jahren fiel US-Präsident John F. Kennedy in Dallas, Texas, einem Mordanschlag zum Opfer. Viele Amerikaner glauben, dass dieses tragische Ereignis den Verlust der nationalen Unschuld markiert. Das ist natürlich Unsinn. Die Geschichte der USA – wie die aller Länder – trieft von Blut.
Doch aus heutiger Sicht erscheint Kennedys Präsidentschaft wie ein Höhepunkt amerikanischen Prestiges. Weniger als fünf Monate vor seinem gewaltsamen Tod riss Kennedy eine enorme Ansammlung von Menschen in der Berliner Innenstadt, dem Grenzposten des Kalten Krieges, mit seinen berühmten Worten „Ich bin ein Berliner.“ zu beinahe hysterischer Begeisterung hin.
Für viele Millionen Menschen verkörperte Kennedys Amerika Freiheit und Hoffnung. Wie das Land, das er repräsentierte, sahen Kennedy und seine Frau Jacqueline so jung, glamourös, reich aus und schienen voll gütiger Energie zu sein. Die USA waren ein Ort, zu dem man aufschaute, ein Modell, eine Kraft des Guten in einer bösen Welt.
Dieses Bild sollte bald durch die Ermordung Kennedys, seines Bruders Bobby und Martin Luther Kings sowie durch den von Kennedy selbst eingeleiteten Krieg in Vietnam zerstört werden. Hätte Kennedy seine Präsidentschaft zu Ende gebracht, sein Erbe hätte die von ihm geweckten Erwartungen fast mit Sicherheit enttäuscht.
Als die Amerikaner ihren ersten schwarzen Präsidenten – eine weitere junge und hoffnungsvolle Gestalt – wählten, sah es einen Moment so aus, als hätten die USA etwas von dem Prestige zurückgewonnen, dass sie Anfang der 1960er Jahre ausstrahlten. Wie Kennedy hielt auch Barack Obama eine Rede in Berlin vor einer ihn verehrenden Menge von mindestens 200.000 Menschen – noch bevor er überhaupt gewählt wurde.
Dieses frühe Versprechen wurde nie erfüllt. Tatsächlich hat das Prestige der USA seit 2008 stark gelitten. Amerikas nationale Politik ist so vergiftet von provinzieller Parteilichkeit – besonders seitens der Republikaner, die Obama von Beginn an hassten –, dass die Demokratie selbst beschädigt erscheint. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist größer denn je. Autobahnen, Brücken, Krankenhäuser und Schulen verfallen. Und verglichen mit den großen Flughäfen in China sehen jene um New York City herum heute primitiv aus.
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Außenpolitisch werden die USA heute entweder als ein andere drangsalierender Großtuer oder als zaudernder Feigling angesehen. Amerikas engste Verbündete – wie z.B. Bundeskanzlerin Angela Merkel – schäumen vor Wut darüber, ausspioniert worden zu sein. Andere, insbesondere in Israel und Saudi-Arabien, sind angewidert von dem, was sie als amerikanische Schwäche ansehen. Selbst der russische Präsident Wladimir Putin – der autokratische Staatschef einer zerfallenden zweitrangigen Macht – schafft es, im Vergleich zu Amerikas beschädigtem Präsidenten gut auszusehen.
Es fällt leicht, Obama oder den unverantwortlichen Republikanern die Schuld für diesen traurigen Zustand zu geben. Damit freilich würde man den wichtigsten Punkt über Amerikas Rolle in der Welt außer Acht lassen: Derselbe Idealismus, der Kennedy so populär machte, treibt nun den Niedergang von Amerikas internationalem Prestige voran.
Einige von Kennedys glühendsten Verehrern machen sich noch immer vor, dass Kennedy die Eskalation des Vietnamkriegs vermieden hätte, hätte er länger gelebt. Dafür freilich gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Kennedy war ein hartgesottener Kalter Krieger. Und sein Antikommunismus war in die Begrifflichkeiten des amerikanischen Idealismus eingebettet. In seiner Antrittsrede erklärte er: „[W]ir werden jeden Preis zahlen, jede Last auf uns nehmen, jede Not ertragen, jeden Freund unterstützen, jedem Feind entgegentreten, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit sicherzustellen.“
Die Begeisterung für Amerikas selbstgesteckte Mission, für die Freiheit überall auf der Welt zu kämpfen, litt – nicht zuletzt in den USA selbst – durch die blutige Katastrophe in Vietnam. Schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen starben in einem Krieg, der ihnen keine Freiheit brachte.
Es erforderte ein weiteres, vom Umfang her deutlich beschränkteres Desaster, um die hochfliegenden Reden über die befreienden Effekte der US-Militärmacht wiederzubeleben. Die Gründe, warum Präsident George W. Bush sich zum Krieg in Afghanistan und im Irak entschied, waren zweifellos komplex. Doch die von den neokonservativen Befürwortern dieser Kriege genutzten Formulierungen entstammten direkt der Ära Kennedys: die Verbreitung der Demokratie, die Sache der Freiheit und die universelle Autorität „amerikanischer Werte“.
Ein Grund, warum die Amerikaner Obama 2008 ins Amt wählten, war, dass die Rhetorik des US-amerikanischen Idealismus einmal mehr zum Tod und zur Vertreibung von Millionen von Menschen geführt hatte. Wenn US-Politiker heute von „Freiheit“ reden, denken die Menschen an Bombardierungen, Folterkammern und die ständige Bedrohung durch todbringende Drohnen.
Das Problem von Obamas Amerika wurzelt in der widersprüchlichen Beschaffenheit seiner Führung. Obama hat sich von der US-Mission distanziert, die Welt gewaltsam zu befreien. Er hat den Krieg im Irak beendet und wird in Kürze den in Afghanistan beenden. Und er hat der Versuchung widerstanden, Krieg im Iran oder in Syrien zu führen. Für jene, die von den USA erwarten, dass sie alle Übel der Welt beseitigen, nimmt sich Obama als schwach und unentschlossen aus.
Zugleich jedoch hat er es versäumt, das groteske US-Gefängnis in Guantánamo Bay zu schließen. Wer Informationen über Spionage im In- und Ausland öffentlich macht, wird verhaftet, und der Einsatz todbringender Drohnen wurde ausgebaut. Während die offene Kriegsführung zurückgefahren wird, wird die heimliche Kriegsführung intensiviert und ausgeweitet. Und mit jedem neuen Tag leidet Amerikas Image mehr.
Aber das Hauptproblem ist nicht Obama; es ist die Anmaßung des amerikanischen Glaubens an die eigene „Ausnahmerolle“ in der Welt – ein Glaube, der schon allzu oft missbraucht wurde, um unnötige Kriege voranzutreiben. Nicht nur hat der Idealismus der Amerikaner diese verleitet, zu viel von sich selbst zu erwarten, sondern auch die restliche Welt hat zu häufig zu viel von Amerika erwartet. Und derartige Erwartungen können nur in Enttäuschung enden.
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World order is a matter of degree: it varies over time, depending on technological, political, social, and ideological factors that can affect the global distribution of power and influence norms. It can be radically altered both by broader historical trends and by a single major power's blunders.
examines the role of evolving power dynamics and norms in bringing about stable arrangements among states.
Donald Trump has left no doubt that he wants to build an authoritarian, illiberal world order based on traditional spheres of influence and agreements with other illiberal leaders. The only role that the European Union plays in his script is an obstacle that must be pushed aside.
warns that the European Union has no place in Donald Trump’s illiberal worldview.
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NEW YORK – Diesen Monat vor 50 Jahren fiel US-Präsident John F. Kennedy in Dallas, Texas, einem Mordanschlag zum Opfer. Viele Amerikaner glauben, dass dieses tragische Ereignis den Verlust der nationalen Unschuld markiert. Das ist natürlich Unsinn. Die Geschichte der USA – wie die aller Länder – trieft von Blut.
Doch aus heutiger Sicht erscheint Kennedys Präsidentschaft wie ein Höhepunkt amerikanischen Prestiges. Weniger als fünf Monate vor seinem gewaltsamen Tod riss Kennedy eine enorme Ansammlung von Menschen in der Berliner Innenstadt, dem Grenzposten des Kalten Krieges, mit seinen berühmten Worten „Ich bin ein Berliner.“ zu beinahe hysterischer Begeisterung hin.
Für viele Millionen Menschen verkörperte Kennedys Amerika Freiheit und Hoffnung. Wie das Land, das er repräsentierte, sahen Kennedy und seine Frau Jacqueline so jung, glamourös, reich aus und schienen voll gütiger Energie zu sein. Die USA waren ein Ort, zu dem man aufschaute, ein Modell, eine Kraft des Guten in einer bösen Welt.
Dieses Bild sollte bald durch die Ermordung Kennedys, seines Bruders Bobby und Martin Luther Kings sowie durch den von Kennedy selbst eingeleiteten Krieg in Vietnam zerstört werden. Hätte Kennedy seine Präsidentschaft zu Ende gebracht, sein Erbe hätte die von ihm geweckten Erwartungen fast mit Sicherheit enttäuscht.
Als die Amerikaner ihren ersten schwarzen Präsidenten – eine weitere junge und hoffnungsvolle Gestalt – wählten, sah es einen Moment so aus, als hätten die USA etwas von dem Prestige zurückgewonnen, dass sie Anfang der 1960er Jahre ausstrahlten. Wie Kennedy hielt auch Barack Obama eine Rede in Berlin vor einer ihn verehrenden Menge von mindestens 200.000 Menschen – noch bevor er überhaupt gewählt wurde.
Dieses frühe Versprechen wurde nie erfüllt. Tatsächlich hat das Prestige der USA seit 2008 stark gelitten. Amerikas nationale Politik ist so vergiftet von provinzieller Parteilichkeit – besonders seitens der Republikaner, die Obama von Beginn an hassten –, dass die Demokratie selbst beschädigt erscheint. Die wirtschaftliche Ungleichheit ist größer denn je. Autobahnen, Brücken, Krankenhäuser und Schulen verfallen. Und verglichen mit den großen Flughäfen in China sehen jene um New York City herum heute primitiv aus.
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Es fällt leicht, Obama oder den unverantwortlichen Republikanern die Schuld für diesen traurigen Zustand zu geben. Damit freilich würde man den wichtigsten Punkt über Amerikas Rolle in der Welt außer Acht lassen: Derselbe Idealismus, der Kennedy so populär machte, treibt nun den Niedergang von Amerikas internationalem Prestige voran.
Einige von Kennedys glühendsten Verehrern machen sich noch immer vor, dass Kennedy die Eskalation des Vietnamkriegs vermieden hätte, hätte er länger gelebt. Dafür freilich gibt es keinerlei Anhaltspunkte. Kennedy war ein hartgesottener Kalter Krieger. Und sein Antikommunismus war in die Begrifflichkeiten des amerikanischen Idealismus eingebettet. In seiner Antrittsrede erklärte er: „[W]ir werden jeden Preis zahlen, jede Last auf uns nehmen, jede Not ertragen, jeden Freund unterstützen, jedem Feind entgegentreten, um das Überleben und den Erfolg der Freiheit sicherzustellen.“
Die Begeisterung für Amerikas selbstgesteckte Mission, für die Freiheit überall auf der Welt zu kämpfen, litt – nicht zuletzt in den USA selbst – durch die blutige Katastrophe in Vietnam. Schätzungsweise zwei Millionen Vietnamesen starben in einem Krieg, der ihnen keine Freiheit brachte.
Es erforderte ein weiteres, vom Umfang her deutlich beschränkteres Desaster, um die hochfliegenden Reden über die befreienden Effekte der US-Militärmacht wiederzubeleben. Die Gründe, warum Präsident George W. Bush sich zum Krieg in Afghanistan und im Irak entschied, waren zweifellos komplex. Doch die von den neokonservativen Befürwortern dieser Kriege genutzten Formulierungen entstammten direkt der Ära Kennedys: die Verbreitung der Demokratie, die Sache der Freiheit und die universelle Autorität „amerikanischer Werte“.
Ein Grund, warum die Amerikaner Obama 2008 ins Amt wählten, war, dass die Rhetorik des US-amerikanischen Idealismus einmal mehr zum Tod und zur Vertreibung von Millionen von Menschen geführt hatte. Wenn US-Politiker heute von „Freiheit“ reden, denken die Menschen an Bombardierungen, Folterkammern und die ständige Bedrohung durch todbringende Drohnen.
Das Problem von Obamas Amerika wurzelt in der widersprüchlichen Beschaffenheit seiner Führung. Obama hat sich von der US-Mission distanziert, die Welt gewaltsam zu befreien. Er hat den Krieg im Irak beendet und wird in Kürze den in Afghanistan beenden. Und er hat der Versuchung widerstanden, Krieg im Iran oder in Syrien zu führen. Für jene, die von den USA erwarten, dass sie alle Übel der Welt beseitigen, nimmt sich Obama als schwach und unentschlossen aus.
Zugleich jedoch hat er es versäumt, das groteske US-Gefängnis in Guantánamo Bay zu schließen. Wer Informationen über Spionage im In- und Ausland öffentlich macht, wird verhaftet, und der Einsatz todbringender Drohnen wurde ausgebaut. Während die offene Kriegsführung zurückgefahren wird, wird die heimliche Kriegsführung intensiviert und ausgeweitet. Und mit jedem neuen Tag leidet Amerikas Image mehr.
Aber das Hauptproblem ist nicht Obama; es ist die Anmaßung des amerikanischen Glaubens an die eigene „Ausnahmerolle“ in der Welt – ein Glaube, der schon allzu oft missbraucht wurde, um unnötige Kriege voranzutreiben. Nicht nur hat der Idealismus der Amerikaner diese verleitet, zu viel von sich selbst zu erwarten, sondern auch die restliche Welt hat zu häufig zu viel von Amerika erwartet. Und derartige Erwartungen können nur in Enttäuschung enden.
Aus dem Englischen von Jan Doolan