Heuchelei und Krieg

MELBOURNE – Heuchler sind auf aller Welt verhasst. Wenn Staaten Tugenden predigen, die sie nicht praktizieren oder niedrigere Hürden für Verbündete, Handelspartner oder Glaubensgenossen ansetzen als für andere, sind Verärgerung und Kooperationsverweigerung das mindeste, was sie zu erwarten haben. Internationale Politik ist ein nüchternes, zynisches Geschäft, aber die Toleranz gegenüber Doppelmoral hat ihre Grenzen.

Russland konnte das feststellen, als es sich in dem Versuch seine Invasion in Georgien im Jahr 2008 zu rechtfertigen auf die Doktrin der „Schutzverantwortung“ berief. Die Demokratieförderung der Vereinigten Staaten und der Europäischen Union zieht Spott auf sich, wenn sie sich lediglich auf Wahlen erstreckt, aus der Sieger hervorgehen, die als genehm erachtet werden, wie es 2006 bei der Wahl in Gaza  zugunsten der Hamas nicht der Fall war. Atommächte zahlen immer wieder Lehrgeld für die Erkenntnis, dass eine Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsregimes schwer zu vermitteln ist, wenn sie die Abrüstungsentscheidung in die Länge ziehen.

Und die Irak-Invasion des Jahres 2003 stellt für die Unzufriedenen der Welt eine unerschöpfliche Quelle der Labsal dar: Den Sicherheitsrat nur dann als willkommenen Partner zu betrachten, wenn man den eigenen Willen durchsetzen kann, ihn aber zu ignorieren oder zu unterwandern, wenn das nicht gelingt, ist keine Methode zur Förderung einer auf Zusammenarbeit und Regeln basierenden internationalen Ordnung.

Aber bis zu welchem Grad ist es in der echten Welt möglich, konsequent auf Völkermorde und andere massenhaft verübte Grausamkeiten, Vertragsbrüche, Grenzverletzungen oder andere ernste Verstöße gegen internationales Recht zu reagieren? Zu fordern, dass jeder Fall, der ähnlich scheint auch ähnlich gehandhabt wird, könnte die Messlatte unerreichbar hoch werden lassen und läuft definitiv Gefahr von Kritikern – wie denen, die die Intervention in Libyen verurteilen – in Geiselhaft genommen zu werden, die geltend machen, dass man nirgendwo handeln sollte, wenn man nicht überall handeln kann.

Die schwierigsten Fälle, die stets die stärksten Emotionen auslösen, sind mit dem Einsatz militärischer Gewalt verbunden. Warum in Libyen eingreifen, aber nicht in Darfur – oder in Jemen, Bahrain oder Syrien? Wenn die militärischen Interventionen in Libyen und in der Elfenbeinküste richtige Entscheidungen waren, warum dann nicht die Irak-Invasion im Jahr 2003 in Anbetracht der vielen Verbrechen, die Saddam begangen hat? Wie glaubwürdig kann die Schutzverantwortung sein, wenn wir wissen, dass Militäreinsätze gegen China oder Russland immer tabu sein werden, egal wie schlimm sich die Dinge in Tibet, Xinjiang oder im Nordkaukasus entwickeln?

Der ehemalige US-Präsident George W. Bush hat sich bekanntermaßen nicht „mit Nuancen“ abgegeben. Das tun die wenigsten außenpolitischen Experten. Nuancierung ist jedoch genau das, was erforderlich ist. Der ehemalige Generalsekretär der Vereinten Nationen Kofi Annan und die von ihm mit der Beratung des Weltgipfels 2005 über Reformen der kollektiven Sicherheit beauftragte Hohe Kommission haben fünf Legitimitätskriterien für die Gewaltanwendung empfohlen. Und in diesen Legitimitätskriterien sind Instrumente enthalten, die eine Nuancierung – in jedem Zusammenhang, nicht nur bei schweren Menschenrechtsverletzungen – ermöglichen.

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Diese Kriterien sind von der Generalversammlung oder dem Sicherheitsrat bislang nicht formell verabschiedet worden und bleiben bloßes Hintergrundrauschen in den aktuellen internationalen Debatten. Ihre praktische Anwendbarkeit, in Verbindung mit der langen philosophischen Geschichte die hinter ihnen steht, rechtfertigt eine viel größere öffentliche Aufmerksamkeit.

Das erste Kriterium ist der Ernst der Bedrohung: Rechtfertigt der drohende Schaden in Schwere und Art die Anwendung von Gewalt prima facie? Die Gefahr eines unmittelbar bevorstehenden Blutbades unter der Zivilbevölkerung war in Bengasi und Abidjan letzten Monat genauso real wie 1994 in Ruanda. Im Gegensatz dazu war eine solche unmittelbare Gefahr 2003 im Irak nicht gegeben, obwohl das zehn Jahre zuvor und noch früher für die Kurden im Norden und die Schiiten im Süden des Landes gewiss der Fall war.

Die gegenwärtigen Situationen in Bahrain, Jemen und Syrien stehen an der Schwelle: Scheußlich, aber in kleinerem Maßstab und möglicherweise durch andere Druckmittel als Militäreinsätze zu retten (die die USA und ihre Verbündeten wesentlich stärker anwenden sollten).

Das zweite Kriterium ist, ob das Hauptziel der vorgeschlagenen militärischen Maßnahmen darin besteht, der drohenden Gefahr Einhalt zu gebieten oder diese abzuwenden. Libyen erfüllt dieses Kriterium wie auch die meisten anderen Fälle der jüngsten Vergangenheit: Wenn Erdöl – oder ein Regimewechsel – der Hauptgrund gewesen wären, hätten die Arabische Liga und der Sicherheitsrat eine militärische Intervention niemals befürwortet. Im Gegensatz hierzu hat sich Russland im Jahr 2008 schwer damit getan, Abnehmer für seine Behauptung zu finden, der Schutz von Zivilisten sei der wichtigste Grund für sein Südossetien-Abenteuer.

Das dritte Kriterium ist, ob alle nicht-militärischen Optionen geprüft worden sind und festgestellt wurde, dass keine Aussicht auf Erfolg besteht. Erneut kann Libyen als Paradebeispiel dienen: Mit der Resolution 1970 wurden gezielte Sanktionen zur Anwendung gebracht, ein Waffenembargo verhängt und die strafrechtliche Verfolgung am Internationalen Gerichtshof angedroht, um das Augenmerk von Oberst Muammar al-Gaddafi auf den Schutz von Zivilisten zu lenken. Erst als das scheiterte, wurde mit der Resolution 1973 die militärische Option einbezogen. 2003 im Irak waren weitaus weniger Optionen ausgeschöpft worden, was nun wohl auch auf Bahrain, Jemen und Syrien zutrifft.

Das vierte Kriterium ist die Verhältnismäßigkeit: Entspricht die vorgesehene militärische Aktion in ihrem Umfang, ihrer Dauer und Intensität dem erforderlichen Mindestmaß, mit dem die Bedrohung abgewendet werden kann? Da sich in Libyen eine militärische Pattsituation abzeichnet, wird die Versuchung größer werden die rechtlichen Befugnisse der Vereinten Nationen – und die damit einhergehende moralische und politische Unterstützung – bis an die Belastungsgrenze auszuweiten und die NATO ist dieser Grenze inzwischen sehr nah gekommen. Sie darf sie nicht überschreiten, wenn sie ihre eigene Glaubwürdigkeit und die Interventionsmöglichkeit der Welt in Fällen bewahren will, die das Gewissen der Menschheit auf ähnliche Weise schockieren.

Das fünfte und normalerweise schwierigste Legitimitätskriterium versucht die Konsequenzen abzuwägen: Wird es den gefährdeten Menschen besser oder schlechter gehen? Das war immer das KO-Kriterium für Darfur: Eine versuchte Invasion in Sudan hätte verheerende Folgen für die zwei Millionen Vertriebenen gehabt und den noch tödlicheren Nord-Süd-Konflikt des Landes erneut angefacht.

Dieses Kriterium erklärt die effektive Straflosigkeit von China, Russland oder jeder anderen Großmacht; wie schlimm ihr Fehlverhalten im eigenen Land auch sein mag, jede versuchte Invasion würde einen weitaus größeren Flächenbrand auslösen. Um das unerträgliche Leiden in Libyen zu beenden, wird mehr nötig sein als militärische Maßnahmen. Doch, genau wie in der Elfenbeinküste, kann man schwer behaupten, dass die Anwendung von Gewalt mehr Leben kosten als retten wird.

Es ist nicht einfach, zwischen Doppelzüngigkeit und notwendiger Selektivität Kurs zu halten. Doch wenn Fälle, die zunächst ähnlich geartet scheinen anhand der richtigen Kriterien überprüft werden, stellen sich häufig große Unterschiede heraus. Und auch wenn sie sich nicht unterscheiden, kommt sicherlich ein übergeordnetes Prinzip ins Spiel. Wenn unsere Menschlichkeit gefährdet ist, sollten wir nicht wenigstens tun, was wir können, auch wenn wir nicht alles tun können, was wir sollten?

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