BERLIN – Letzten Monat versprach Deutschland, 5.000 Kampfhelme in die Ukraine zu schicken – eine Zusage, die angeblich seine Solidarität mit dem Land demonstrieren sollte. Dieser Schritt – der zu einer Zeit erfolgt, in der schätzungsweise 130.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stationiert sind – wurde von fast allen Seiten mit Spott bedacht. Doch Deutschland war bereits seit Wochen wegen seiner schwachen Reaktion auf das Patt zwischen Russland und der NATO über die Ukraine unter Beschuss geraten, wobei einige sogar seine Zuverlässigkeit als Verbündeter in Frage stellten.
Seit Beginn der Krise wird Deutschland Trittbrettfahrerei, mangelnde Entschlossenheit und geldgieriger Zynismus vorgeworfen, wobei einige – die so genannten Putinverstehern – sich sogar versteckte Sympathien für den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlauben. In jedem Fall scheint es klar zu sein, dass die von Bundeskanzler Olaf Scholz geführte Koalitionsregierung auf eine größere Krise nicht vorbereitet war.
Die Haltung Deutschlands ist jedoch nicht neu. Es war 2003 gegen die Invasion im Irak und 2011 gegen die Intervention in Libyen. Und obwohl das Militär des Landes seit den 1990er Jahren an zahlreichen Einsätzen teilgenommen hat – unter anderem in Afghanistan, Mali, dem Kosovo und Somalia – fehlte die breite öffentliche Unterstützung. In Deutschland gewinnt man keine Wahlen, indem man sich für höhere Militärausgaben einsetzt, geschweige denn für Militäreinsätze.
Dies weist auf den ersten wichtigen Grund hin, warum Deutschland in der Ukraine-Krise keine stärkere Haltung eingenommen hat. Die Deutschen, die in einer Kultur der Erinnerung und Sühne aufgewachsen sind, sind sich der Gräueltaten, die ihre Armeen in Europa (einschließlich Russland und der Ukraine) und anderswo begangen haben, sehr bewusst – zum Beispiel des Massakers an den Herero und Nama in Afrika. Das Mantra „Nie wieder“ wird von den Deutschen sehr ernst genommen.
Abgesehen von ihrer eigenen historischen Schuld wissen die Deutschen, dass jede Zurschaustellung militärischer Macht ihre europäischen Nachbarn alarmieren könnte. Sie mögen zwar enge Verbündete und Partner sein, aber Ressentiments und Misstrauen schwelen noch immer. Polens Regierung besteht beispielsweise nach wie vor darauf, dass Deutschland ihr Kriegsreparationen schuldet, und historische Antipathien haben die antideutsche Stimmung in Griechenland während der Krise in der Eurozone wahrscheinlich noch verstärkt.
Vor diesem Hintergrund sollte es nicht überraschen, dass Deutschland ein sehr pazifistisches Land ist, das sich entschieden für diplomatische und nicht für militärische Konfliktlösungen einsetzt. In Sicherheits- und Verteidigungsfragen zieht es sogar vor, sein Engagement auf ein Minimum zu beschränken. Deutschland ist zwar einer der weltweit führenden Exporteure von Rüstungsgütern, regelt aber den Verkauf von Waffen streng und hat es sich seit langem zum Grundsatz gemacht, keine Waffen in potenzielle Konfliktgebiete zu schicken. Die Lieferung von Helmen mag bizarr erscheinen, aber für Deutschland kommt eine Bewaffnung der Ukraine heute nicht in Frage.
Doch Deutschland setzt nicht nur deshalb auf Diplomatie, weil es dem Krieg abgeneigt ist. Diplomatie funktioniert. Das war eine der wichtigsten Lehren aus dem Kalten Krieg – oder, genauer gesagt, aus der Ostpolitik Willy Brandts und den Vereinbarungen der Schlussakte von Helsinki von 1975. Jeder Schritt mag klein sein, aber genügend Schritte führen schließlich zum Fortschritt. Eine solche diplomatische Beharrlichkeit ist sowohl weniger kostspielig als auch weniger riskant als eine militärische Aufrüstung im Stil eines Ronald Reagan.
Dies erklärt weitgehend, warum das deutsche Militär chronisch unterbesetzt und unterfinanziert ist. Selbst wenn es sich verpflichtet, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen, bleibt es weit hinter der NATO-Schwellenwert von 2 % des BIP zurück.
Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gibt es jedoch noch einen dritten Faktor zu berücksichtigen: Die Entscheidung Deutschlands, aus der Atom- und Kohlekraft auszusteigen, was eine stärkere Abhängigkeit von importiertem – meist russischem – Gas bedeutet. Die Nord Stream 2-Pipeline, die russisches Gas über die Ostsee direkt nach Deutschland leiten soll, wird diesen Status quo weiter festigen.
Und es geht nicht nur um Gas. Deutschland macht mehr Geschäfte mit und in Russland als jede andere europäische Wirtschaftsnation. Für Deutschland steht also viel auf dem Spiel, wenn es sich weigert, über Lippenbekenntnisse hinaus eine klare Position zur Ukraine einzunehmen.
Wenn sich der Konflikt jedoch verschärft, wird Deutschlands zweideutige Haltung – die einen Hauch von Trittbrettfahrerei und sogar Selbstgerechtigkeit hat – schnell unhaltbar werden. Das bedeutet nicht, dass Deutschland der Ukraine oder anderen Parteien, die in den Konflikt verwickelt sein könnten, Truppen zur Verfügung stellen oder militärische Ausrüstung exportieren würde – dies würde wahrscheinlich nur im Rahmen eines Mandats der NATO, der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen geschehen.
Aber es bedeutet, dass Deutschland sich den Risiken stellen muss, die mit der Abhängigkeit von russischer Energie verbunden sind, und dass es die Nachhaltigkeit seiner Geschäftsbeziehungen zu Russland überprüfen muss. Und sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, bedeutet dies, dass harte Sanktionen verhängt werden, indem z. B. Druck auf russische Geschäftsinteressen ausgeübt wird, die Reisefreiheit russischer Eliten beschränkt und die Zusammenarbeit mit russischen Institutionen ausgesetzt wird. In der Tat sollte Deutschland an der Seite der Vereinigten Staaten eine Vorreiterrolle bei der Verhängung harter Sanktionen spielen, so wie sich das Vereinigte Königreich in Fragen der militärischen Abschreckung an die Seite der USA stellt.
Deutschland muss auch bereit sein, das Projekt Nord Stream 2 – das zwar fertiggestellt ist, aber noch nicht von deutschen und EU-Beamten genehmigt wurde – einzustampfen und so schnell wie möglich seine Importe von russischem Gas deutlich zu reduzieren. Unabhängig von den Folgen, die solche Maßnahmen für die deutsche Energieversorgung und Wirtschaft haben würden, muss sich das Land einfach anpassen.
Vorerst muss die deutsche Regierung klarstellen, dass sie bereit ist, diese Schritte zu gehen. Sie muss sowohl Russland als auch ihren NATO-Verbündeten unmissverständlich zu verstehen geben, dass sie zwar kein Verfechter harter Gewalt ist, aber bereit ist, die hohen Kosten für die Bekämpfung der Aggression gegen die Ukraine zu tragen. Die jüngsten Erklärungen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew sind ein ermutigendes Zeichen dafür, dass die Regierungskoalition dies verstanden hat, und man kann nur hoffen, dass sie die von ihr angekündigten Verpflichtungen einhalten wird.
Vor allem muss die Regierung die deutsche Öffentlichkeit auf ein solches Ergebnis vorbereiten, indem sie zunächst das Ausmaß der deutschen Geschäftsbeziehungen zu Russland offenlegt. Nur dann kann sie die Regierung von der korrupten Kumpanei befreien, die seit einer Generation – beginnend unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder – die Geschäftsbeziehungen einiger deutscher Wirtschaftsführer mit Russland kennzeichnet.
Schließlich sollte Scholz nach seinen Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden ankündigen, dass er die Ukraine in jeder möglichen nicht-militärischen Form unterstützen wird, und sich darauf vorbereiten, sofort zu handeln. Die NATO-Mitgliedschaft mag vom Tisch sein, aber Deutschland muss auf jeden Fall die Bemühungen der Ukraine um eine immer engere Beziehung zur EU unterstützen.
Übersetzung: Andreas Hubig
BERLIN – Letzten Monat versprach Deutschland, 5.000 Kampfhelme in die Ukraine zu schicken – eine Zusage, die angeblich seine Solidarität mit dem Land demonstrieren sollte. Dieser Schritt – der zu einer Zeit erfolgt, in der schätzungsweise 130.000 russische Soldaten an der ukrainischen Grenze stationiert sind – wurde von fast allen Seiten mit Spott bedacht. Doch Deutschland war bereits seit Wochen wegen seiner schwachen Reaktion auf das Patt zwischen Russland und der NATO über die Ukraine unter Beschuss geraten, wobei einige sogar seine Zuverlässigkeit als Verbündeter in Frage stellten.
Seit Beginn der Krise wird Deutschland Trittbrettfahrerei, mangelnde Entschlossenheit und geldgieriger Zynismus vorgeworfen, wobei einige – die so genannten Putinverstehern – sich sogar versteckte Sympathien für den russischen Präsidenten Wladimir Putin erlauben. In jedem Fall scheint es klar zu sein, dass die von Bundeskanzler Olaf Scholz geführte Koalitionsregierung auf eine größere Krise nicht vorbereitet war.
Die Haltung Deutschlands ist jedoch nicht neu. Es war 2003 gegen die Invasion im Irak und 2011 gegen die Intervention in Libyen. Und obwohl das Militär des Landes seit den 1990er Jahren an zahlreichen Einsätzen teilgenommen hat – unter anderem in Afghanistan, Mali, dem Kosovo und Somalia – fehlte die breite öffentliche Unterstützung. In Deutschland gewinnt man keine Wahlen, indem man sich für höhere Militärausgaben einsetzt, geschweige denn für Militäreinsätze.
Dies weist auf den ersten wichtigen Grund hin, warum Deutschland in der Ukraine-Krise keine stärkere Haltung eingenommen hat. Die Deutschen, die in einer Kultur der Erinnerung und Sühne aufgewachsen sind, sind sich der Gräueltaten, die ihre Armeen in Europa (einschließlich Russland und der Ukraine) und anderswo begangen haben, sehr bewusst – zum Beispiel des Massakers an den Herero und Nama in Afrika. Das Mantra „Nie wieder“ wird von den Deutschen sehr ernst genommen.
Abgesehen von ihrer eigenen historischen Schuld wissen die Deutschen, dass jede Zurschaustellung militärischer Macht ihre europäischen Nachbarn alarmieren könnte. Sie mögen zwar enge Verbündete und Partner sein, aber Ressentiments und Misstrauen schwelen noch immer. Polens Regierung besteht beispielsweise nach wie vor darauf, dass Deutschland ihr Kriegsreparationen schuldet, und historische Antipathien haben die antideutsche Stimmung in Griechenland während der Krise in der Eurozone wahrscheinlich noch verstärkt.
Vor diesem Hintergrund sollte es nicht überraschen, dass Deutschland ein sehr pazifistisches Land ist, das sich entschieden für diplomatische und nicht für militärische Konfliktlösungen einsetzt. In Sicherheits- und Verteidigungsfragen zieht es sogar vor, sein Engagement auf ein Minimum zu beschränken. Deutschland ist zwar einer der weltweit führenden Exporteure von Rüstungsgütern, regelt aber den Verkauf von Waffen streng und hat es sich seit langem zum Grundsatz gemacht, keine Waffen in potenzielle Konfliktgebiete zu schicken. Die Lieferung von Helmen mag bizarr erscheinen, aber für Deutschland kommt eine Bewaffnung der Ukraine heute nicht in Frage.
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Doch Deutschland setzt nicht nur deshalb auf Diplomatie, weil es dem Krieg abgeneigt ist. Diplomatie funktioniert. Das war eine der wichtigsten Lehren aus dem Kalten Krieg – oder, genauer gesagt, aus der Ostpolitik Willy Brandts und den Vereinbarungen der Schlussakte von Helsinki von 1975. Jeder Schritt mag klein sein, aber genügend Schritte führen schließlich zum Fortschritt. Eine solche diplomatische Beharrlichkeit ist sowohl weniger kostspielig als auch weniger riskant als eine militärische Aufrüstung im Stil eines Ronald Reagan.
Dies erklärt weitgehend, warum das deutsche Militär chronisch unterbesetzt und unterfinanziert ist. Selbst wenn es sich verpflichtet, seine Verteidigungsausgaben zu erhöhen, bleibt es weit hinter der NATO-Schwellenwert von 2 % des BIP zurück.
Im Zusammenhang mit der Ukraine-Krise gibt es jedoch noch einen dritten Faktor zu berücksichtigen: Die Entscheidung Deutschlands, aus der Atom- und Kohlekraft auszusteigen, was eine stärkere Abhängigkeit von importiertem – meist russischem – Gas bedeutet. Die Nord Stream 2-Pipeline, die russisches Gas über die Ostsee direkt nach Deutschland leiten soll, wird diesen Status quo weiter festigen.
Und es geht nicht nur um Gas. Deutschland macht mehr Geschäfte mit und in Russland als jede andere europäische Wirtschaftsnation. Für Deutschland steht also viel auf dem Spiel, wenn es sich weigert, über Lippenbekenntnisse hinaus eine klare Position zur Ukraine einzunehmen.
Wenn sich der Konflikt jedoch verschärft, wird Deutschlands zweideutige Haltung – die einen Hauch von Trittbrettfahrerei und sogar Selbstgerechtigkeit hat – schnell unhaltbar werden. Das bedeutet nicht, dass Deutschland der Ukraine oder anderen Parteien, die in den Konflikt verwickelt sein könnten, Truppen zur Verfügung stellen oder militärische Ausrüstung exportieren würde – dies würde wahrscheinlich nur im Rahmen eines Mandats der NATO, der Europäischen Union oder der Vereinten Nationen geschehen.
Aber es bedeutet, dass Deutschland sich den Risiken stellen muss, die mit der Abhängigkeit von russischer Energie verbunden sind, und dass es die Nachhaltigkeit seiner Geschäftsbeziehungen zu Russland überprüfen muss. Und sollte Russland in die Ukraine einmarschieren, bedeutet dies, dass harte Sanktionen verhängt werden, indem z. B. Druck auf russische Geschäftsinteressen ausgeübt wird, die Reisefreiheit russischer Eliten beschränkt und die Zusammenarbeit mit russischen Institutionen ausgesetzt wird. In der Tat sollte Deutschland an der Seite der Vereinigten Staaten eine Vorreiterrolle bei der Verhängung harter Sanktionen spielen, so wie sich das Vereinigte Königreich in Fragen der militärischen Abschreckung an die Seite der USA stellt.
Deutschland muss auch bereit sein, das Projekt Nord Stream 2 – das zwar fertiggestellt ist, aber noch nicht von deutschen und EU-Beamten genehmigt wurde – einzustampfen und so schnell wie möglich seine Importe von russischem Gas deutlich zu reduzieren. Unabhängig von den Folgen, die solche Maßnahmen für die deutsche Energieversorgung und Wirtschaft haben würden, muss sich das Land einfach anpassen.
Vorerst muss die deutsche Regierung klarstellen, dass sie bereit ist, diese Schritte zu gehen. Sie muss sowohl Russland als auch ihren NATO-Verbündeten unmissverständlich zu verstehen geben, dass sie zwar kein Verfechter harter Gewalt ist, aber bereit ist, die hohen Kosten für die Bekämpfung der Aggression gegen die Ukraine zu tragen. Die jüngsten Erklärungen der deutschen Außenministerin Annalena Baerbock in Kiew sind ein ermutigendes Zeichen dafür, dass die Regierungskoalition dies verstanden hat, und man kann nur hoffen, dass sie die von ihr angekündigten Verpflichtungen einhalten wird.
Vor allem muss die Regierung die deutsche Öffentlichkeit auf ein solches Ergebnis vorbereiten, indem sie zunächst das Ausmaß der deutschen Geschäftsbeziehungen zu Russland offenlegt. Nur dann kann sie die Regierung von der korrupten Kumpanei befreien, die seit einer Generation – beginnend unter dem früheren Bundeskanzler Gerhard Schröder – die Geschäftsbeziehungen einiger deutscher Wirtschaftsführer mit Russland kennzeichnet.
Schließlich sollte Scholz nach seinen Gesprächen mit US-Präsident Joe Biden ankündigen, dass er die Ukraine in jeder möglichen nicht-militärischen Form unterstützen wird, und sich darauf vorbereiten, sofort zu handeln. Die NATO-Mitgliedschaft mag vom Tisch sein, aber Deutschland muss auf jeden Fall die Bemühungen der Ukraine um eine immer engere Beziehung zur EU unterstützen.
Übersetzung: Andreas Hubig