LONDON – Vor 51 Jahren erhielten James Watson, Maurice Wilkins und Francis Crick den Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckung der Struktur der DNA – einen Durchbruch, der das Zeitalter des Gens einleitete. Seitdem sind im Feld der Genetik entscheidende Fortschritte gemacht worden, insbesondere im Zuge des weltweiten Humangenomprojektes, mit dem 2003 die etwa 23.000 Gene und drei Milliarden Basenpaare der menschlichen DNA bestimmt werden konnten, um Tests für viele seltene Krankheiten zu entwickeln.
Aber trotz aller Hinweise darauf, dass die meisten Krankheiten eindeutig eine genetische Komponente aufweisen, konnte bislang nur ein Bruchteil der für diese Krankheiten verantwortlichen Gene gefunden werden. Und die Wissenschaftler rätseln über die Tatsache, dass die meisten eineiigen Zwillinge (die 100% ihrer Gene gemeinsam haben) nicht an denselben Krankheiten sterben. Daher erwarten viele Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft, dass bei der Bestimmung der letzten Ursache von Krankheiten die Gene zukünftig eine geringere Rolle spielen werden.
Dafür, die Genetik komplett abzuschreiben, ist es allerdings zu früh, da die Wissenschaft der “Epigenetik” – der Mechanismen, Gene ein- und auszuschalten und so die Entwicklung der Zellen zu beeinflussen, ohne den genetischen Code zu ändern – an Bedeutung gewinnt. So wurde 2012 der Nobelpreis für Medizin an John Gurdon und Shinya Yamanaka dafür verliehen, dass sie Zellen und DNA umprogrammierten, ohne ihre genetische Struktur zu ändern, und so die wissenschaftliche Meinung über die Entwicklung von Zellen revolutionierten.
1962 konnte Gurdon aufgrund seiner Entdeckung, dass fast alle Zellen im Körper den vollständigen DNA-Code enthalten, durch das Klonen eines erwachsenen Frosches eine Kaulquappe erzeugen. 2006, über vier Jahrzehnte später, fand Yamanaka einen Weg, komplexe, erwachsene Zellen in Mäusen dazu zu bewegen, sich in ihren unreifen Zustand zurück zu entwickeln und Stammzellen zu bilden. Davor konnten Stammzellen – die dazu umprogrammiert werden können, verlorenes oder beschädigtes Gewebe zu ersetzen – nur von Embryos im Frühstadium gewonnen werden, was ethisch sehr kontrovers betrachtet wurde.
Das wahre Potenzial der Epigenetik wurde erst in den letzten Jahren erkannt, während derer sich die Fähigkeit der Wissenschaftler, die epigenetischen Mechanismen in der DNA – die nun an etwa 30 Millionen Stellen im menschlichen Genom gemessen werden können – dramatisch gesteigert hat. Die Epigenetik könnte dafür verwendet werden, die letzten Ursachen vieler bisher unverstandener Krankheiten von Asthma über Allergien bis hin zu Autismus zu erklären.
Betrachten wir einmal den Lungenkrebs. Vor sechs Jahrzehnten, als die meisten Männer Raucher waren, war Lungenkrebs die erste Krankheit, die von britischen Ärzten kausal mit dem Rauchen in Verbindung gebracht wurde. (Lungenkrebs tötet jeden zehnten Raucher.) Aber obwohl in den letzten 30 Jahren immer weniger geraucht wurde, wurden bestimmte Arten von Lungenkrebs, insbesondere bei Frauen, immer häufiger – die Krankheit entwickelte sich zu einer der größten Todesursachen weltweit.
Heute haben viele Lungenkrebspatienten tatsächlich keine Vergangenheit als Raucher. Diese “unschuldigen” Patienten scheinen eine andere Art von Lungenkrebs zu entwickeln als diejenigen, die früher geraucht hatten – eine, die zwar immer noch nicht gut, aber immerhin besser als zuvor auf neue Behandlungen reagiert.
Die stärkere Häufigkeit von Lungenkrebs könnte durch epigenetische Prozesse erklärt werden, die das Ausschalten wichtiger Anti-Krebs-Gene wie den Tumorsuppressor P16 verursachen. Eine kürzliche Studie zeigte, dass dieser Effekt bereit nach wenigen Jahren des Rauchens eintreten kann und Raucher dadurch anfälliger für einige Krebsarten werden.
Mein Team und ich erforschten kürzlich 36 Paare eineiiger Zwillinge, von denen jeweils nur einer der beiden Brustkrebs hat. Diese “genetischen Klone” wiesen einige grundlegende Unterschiede auf. Im Zwilling, der Brustkrebs entwickelte, waren einige hundert Gene ausgeschaltet. In einigen Genen war dies bereits fünf Jahre vor der Diagnose geschehen. Aufgrund solcher Ergebnisse könnten weit vor dem Ausbruch der Krankheit diagnostische Tests stattfinden und Medikamente entwickelt werden, die die Entwicklung des Krebs verhindern oder gar rückgängig machen.
Darüber hinaus konnte an Tierversuchen gezeigt werden, dass Änderungen des Stressniveaus oder der Ernährung das Verhalten und die Gene zukünftiger Generationen verändern können. Daher ist es wahrscheinlich, dass epigenetische Veränderungen vererbt werden können.
Beispielsweise könnten in der DNA eines Großelternteils durch Rauchen epigenetische Veränderungen stattgefunden haben und bestimmte Anti-Krebs-Gene ausgeschaltet worden sein. Diese Gene könnten dann in ihrem ausgeschalteten Zustand an die Nachkommen weitergegeben werden. Daher könnten für eine eventuelle Krebserkrankung nicht nur die selbst eingenommenen Toxine entscheidend sein, sondern auch diejenigen, denen die Eltern oder Großeltern ausgesetzt waren.
Experimente, die solche transgenerationalen Effekte nachweisen, können unmöglich an Menschen durchgeführt werden, also muss auf historische oder empirische Daten zurückgegriffen werden. Eine Studie an Kindern in Bristol hat gezeigt, dass Kinder abhängig davon, ob ihre Großväter vor dem Alter von elf Jahren geraucht haben, Unterschiede im Wachstum aufweisen. Ihre Körper haben wahrscheinlich defensiv reagiert und sich kurzfristig durch die Veränderung der Gene für die nächsten Generationen angepasst, bis die “Gefahr” vorbei ist – eine sogenannte “weiche Vererbung”, die parallel zu langsameren evolutionären Kräften stattfindet.
Glücklicherweise sind diese epigenetischen Veränderungen potenziell umkehrbar. In den Vereinigten Staaten sind heute vier epigenetische Leukämiemittel auf dem Markt, die darauf abzielen, die natürlichen Schutzgene wieder zu aktivieren. Über 40 weitere epigenetische Medikamente befinden sich in der Entwicklung, nicht nur gegen Krebs, sondern auch gegen Fettleibigkeit oder gar Demenz. Künftig könnten regelmäßige epigenetische Gesundheitsuntersuchungen zum Standard werden.
Nach über 50 Jahren spielen die Gene für das Verständnis komplexer Krankheiten immer noch eine entscheidende Rolle – insbesondere angesichts der immer größeren Möglichkeiten der Wissenschaftler, sie zu verändern. Das Zeitalter der Gene ist noch lange nicht vorbei, es hat lediglich einen Schritt hin zum Zeitalter der Epigenetik getan.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff
LONDON – Vor 51 Jahren erhielten James Watson, Maurice Wilkins und Francis Crick den Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckung der Struktur der DNA – einen Durchbruch, der das Zeitalter des Gens einleitete. Seitdem sind im Feld der Genetik entscheidende Fortschritte gemacht worden, insbesondere im Zuge des weltweiten Humangenomprojektes, mit dem 2003 die etwa 23.000 Gene und drei Milliarden Basenpaare der menschlichen DNA bestimmt werden konnten, um Tests für viele seltene Krankheiten zu entwickeln.
Aber trotz aller Hinweise darauf, dass die meisten Krankheiten eindeutig eine genetische Komponente aufweisen, konnte bislang nur ein Bruchteil der für diese Krankheiten verantwortlichen Gene gefunden werden. Und die Wissenschaftler rätseln über die Tatsache, dass die meisten eineiigen Zwillinge (die 100% ihrer Gene gemeinsam haben) nicht an denselben Krankheiten sterben. Daher erwarten viele Mitglieder der wissenschaftlichen Gemeinschaft, dass bei der Bestimmung der letzten Ursache von Krankheiten die Gene zukünftig eine geringere Rolle spielen werden.
Dafür, die Genetik komplett abzuschreiben, ist es allerdings zu früh, da die Wissenschaft der “Epigenetik” – der Mechanismen, Gene ein- und auszuschalten und so die Entwicklung der Zellen zu beeinflussen, ohne den genetischen Code zu ändern – an Bedeutung gewinnt. So wurde 2012 der Nobelpreis für Medizin an John Gurdon und Shinya Yamanaka dafür verliehen, dass sie Zellen und DNA umprogrammierten, ohne ihre genetische Struktur zu ändern, und so die wissenschaftliche Meinung über die Entwicklung von Zellen revolutionierten.
1962 konnte Gurdon aufgrund seiner Entdeckung, dass fast alle Zellen im Körper den vollständigen DNA-Code enthalten, durch das Klonen eines erwachsenen Frosches eine Kaulquappe erzeugen. 2006, über vier Jahrzehnte später, fand Yamanaka einen Weg, komplexe, erwachsene Zellen in Mäusen dazu zu bewegen, sich in ihren unreifen Zustand zurück zu entwickeln und Stammzellen zu bilden. Davor konnten Stammzellen – die dazu umprogrammiert werden können, verlorenes oder beschädigtes Gewebe zu ersetzen – nur von Embryos im Frühstadium gewonnen werden, was ethisch sehr kontrovers betrachtet wurde.
Das wahre Potenzial der Epigenetik wurde erst in den letzten Jahren erkannt, während derer sich die Fähigkeit der Wissenschaftler, die epigenetischen Mechanismen in der DNA – die nun an etwa 30 Millionen Stellen im menschlichen Genom gemessen werden können – dramatisch gesteigert hat. Die Epigenetik könnte dafür verwendet werden, die letzten Ursachen vieler bisher unverstandener Krankheiten von Asthma über Allergien bis hin zu Autismus zu erklären.
Betrachten wir einmal den Lungenkrebs. Vor sechs Jahrzehnten, als die meisten Männer Raucher waren, war Lungenkrebs die erste Krankheit, die von britischen Ärzten kausal mit dem Rauchen in Verbindung gebracht wurde. (Lungenkrebs tötet jeden zehnten Raucher.) Aber obwohl in den letzten 30 Jahren immer weniger geraucht wurde, wurden bestimmte Arten von Lungenkrebs, insbesondere bei Frauen, immer häufiger – die Krankheit entwickelte sich zu einer der größten Todesursachen weltweit.
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Heute haben viele Lungenkrebspatienten tatsächlich keine Vergangenheit als Raucher. Diese “unschuldigen” Patienten scheinen eine andere Art von Lungenkrebs zu entwickeln als diejenigen, die früher geraucht hatten – eine, die zwar immer noch nicht gut, aber immerhin besser als zuvor auf neue Behandlungen reagiert.
Die stärkere Häufigkeit von Lungenkrebs könnte durch epigenetische Prozesse erklärt werden, die das Ausschalten wichtiger Anti-Krebs-Gene wie den Tumorsuppressor P16 verursachen. Eine kürzliche Studie zeigte, dass dieser Effekt bereit nach wenigen Jahren des Rauchens eintreten kann und Raucher dadurch anfälliger für einige Krebsarten werden.
Mein Team und ich erforschten kürzlich 36 Paare eineiiger Zwillinge, von denen jeweils nur einer der beiden Brustkrebs hat. Diese “genetischen Klone” wiesen einige grundlegende Unterschiede auf. Im Zwilling, der Brustkrebs entwickelte, waren einige hundert Gene ausgeschaltet. In einigen Genen war dies bereits fünf Jahre vor der Diagnose geschehen. Aufgrund solcher Ergebnisse könnten weit vor dem Ausbruch der Krankheit diagnostische Tests stattfinden und Medikamente entwickelt werden, die die Entwicklung des Krebs verhindern oder gar rückgängig machen.
Darüber hinaus konnte an Tierversuchen gezeigt werden, dass Änderungen des Stressniveaus oder der Ernährung das Verhalten und die Gene zukünftiger Generationen verändern können. Daher ist es wahrscheinlich, dass epigenetische Veränderungen vererbt werden können.
Beispielsweise könnten in der DNA eines Großelternteils durch Rauchen epigenetische Veränderungen stattgefunden haben und bestimmte Anti-Krebs-Gene ausgeschaltet worden sein. Diese Gene könnten dann in ihrem ausgeschalteten Zustand an die Nachkommen weitergegeben werden. Daher könnten für eine eventuelle Krebserkrankung nicht nur die selbst eingenommenen Toxine entscheidend sein, sondern auch diejenigen, denen die Eltern oder Großeltern ausgesetzt waren.
Experimente, die solche transgenerationalen Effekte nachweisen, können unmöglich an Menschen durchgeführt werden, also muss auf historische oder empirische Daten zurückgegriffen werden. Eine Studie an Kindern in Bristol hat gezeigt, dass Kinder abhängig davon, ob ihre Großväter vor dem Alter von elf Jahren geraucht haben, Unterschiede im Wachstum aufweisen. Ihre Körper haben wahrscheinlich defensiv reagiert und sich kurzfristig durch die Veränderung der Gene für die nächsten Generationen angepasst, bis die “Gefahr” vorbei ist – eine sogenannte “weiche Vererbung”, die parallel zu langsameren evolutionären Kräften stattfindet.
Glücklicherweise sind diese epigenetischen Veränderungen potenziell umkehrbar. In den Vereinigten Staaten sind heute vier epigenetische Leukämiemittel auf dem Markt, die darauf abzielen, die natürlichen Schutzgene wieder zu aktivieren. Über 40 weitere epigenetische Medikamente befinden sich in der Entwicklung, nicht nur gegen Krebs, sondern auch gegen Fettleibigkeit oder gar Demenz. Künftig könnten regelmäßige epigenetische Gesundheitsuntersuchungen zum Standard werden.
Nach über 50 Jahren spielen die Gene für das Verständnis komplexer Krankheiten immer noch eine entscheidende Rolle – insbesondere angesichts der immer größeren Möglichkeiten der Wissenschaftler, sie zu verändern. Das Zeitalter der Gene ist noch lange nicht vorbei, es hat lediglich einen Schritt hin zum Zeitalter der Epigenetik getan.
Aus dem Englischen von Harald Eckhoff