PARIS – Sechzig Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge steht Frankreich vor Wahlen, die für das Schicksal der Europäischen Union entscheidend sein könnten. Ein Sieg für den zentristischen, unabhängigen EU-Befürworter Emmanuel Macron wäre ein positiver Wendepunkt. Frankreich würde dem Populismus eine Absage erteilen und seine Beziehungen zu Deutschland vertiefen. Wenn sich die französischen Wähler allerdings für Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National als Präsidentin entscheiden - die bezeichnenderweise von Wladimir Putin jüngst in Moskau herzlich empfangen wurde - wäre das lange europäische Projekt zu Ende.
Es handelt sich also ganz offensichtlich nicht um eine gewöhnliche Wahl in Frankreich. Da das Überleben der EU auf dem Spiel steht, ist der Einsatz höher als bei jeder anderen Wahl in der Geschichte der Fünften Republik. Hat also die nationalistische, fremdenfeindliche Rechte Frankreichs eine echte Chance, an die Macht zu kommen?
Natürlich ist der Front National im politischen Leben Frankreichs gut etabliert. Le Pens Vater, Jean-Marie Le Pen, gründete die Partei 1972 und führte sie bis zur Übernahme durch seine Tochter im Jahr 2011. Doch bislang hielt sich der Erfolg bei Wahlen in Grenzen. Obwohl Jean-Marie Le Pen es 2002 in die zweite Runde zur Stichwahl schaffte, erlitt er letztlich eine herbe Schlappe, da sich Zentristen und Linke gemeinsam hinter Jacques Chirac stellten.
Ebenso wie ihr Vater wird es Marine Le Pen wohl auch in die Stichwahl im Mai schaffen; tatsächlich sehen Meinungsumfragen eine Stimmenmehrheit für sie im ersten Wahlgang. Viele sind allerdings überzeugt, dass sie in der Stichwahl unterliegen wird: Macron liegt in den Umfragen für die Stichwahl gegen Le Pen bei 63 Prozent der Stimmen. Doch die Siege der Populisten im Jahr 2016 – insbesondere die Brexit-Abstimmung in Großbritannien und die Wahl Donald Trumps als US-Präsident – haben gezeigt, dass auch das Undenkbare eintreten kann.
Tatsächlich scheint die alte französischen Redewendung „was zweimal passiert, wird auch ein drittes Mal passieren” darauf hinzudeuten, dass nach diesen zwei Wahlgängen ein Sieg Le Pens nicht unausweichlich ist. In diesem Fall wird Frankreich nach Österreich und den Niederlanden vielleicht der dritte Verlust für Kandidaten der extremen Rechten werden und den definitiven Beweis liefern, dass die populistische Welle aufgehalten werden kann.
Außergewöhnliche Umstände bringen manchmal außergewöhnliche Persönlichkeiten hervor, wie das in den 1930er Jahren der Fall war – einem tragischen Jahrzehnt, mit dem die heutige politische Hysterie oft verglichen wird. Aber wie in der französischen Redensart zum Ausdruck kommt, können die Ergebnisse negativ oder positiv sein. Ebenso wie mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt während der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Vereinigten Staaten ein Lichtblick erschien, verbreitet auch Macron Optimismus in einer durch Gewalt, Mittelmaß, Korruptionsskandale und ideologischer Verwirrung enttäuschten französischen Öffentlichkeit.
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Macrons Ehefrau scherzt, dass ihr Mann sich als eine Art Jeanne d'Arc sieht, die das Land im Mittelalter vor den Briten rettete. Physisch erinnert Macron eher an den jungen General Napoleon Bonaparte während seines ersten Italien-Feldzuges. Manche sehen in Macron eine Figur aus einem Roman von Stendhal, einen modernen Fabrizio del Dongo, der beschließt, nicht mehr nur Beobachter der Welt zu sein, sondern in ihr zu handeln. Er treibt seine Mission durch eine Kombination aus jugendlicher Energie, Selbstvertrauen, politischer List, technokratischer Kompetenz und einem Gefühl für Mäßigung voran.
Macron verkörpert einen grundlegenden Wandel in der französischen Wahlpolitik: nämlich die Erosion der traditionellen Spaltung zwischen rechts und links. Er vertritt seine eigene zentristische Bewegung (En Marche !). Kein Unabhängiger hat je das französische Präsidentenamt erlangt, aber – noch einmal zur Erinnerung – wir haben es nicht mit einer gewöhnlichen Wahl zu tun.
Tatsächlich wird es wohl keine der beiden Großparteien – weder die Sozialisten noch die Konservativen (Les Republicains, wie sie sich mittlerweile nennen) – in den zweiten Wahlgang schaffen. Diese Absage an die traditionellen Parteien äußert sich auch in der Ablehnung des sozialistischen Präsidenten François Hollande, dessen Beliebtheitswerte so stark sanken (zu einem Zeitpunkt auf gerade einmal 4 Prozent), dass er beschloss, sich nicht um eine zweite Amtszeit zu bemühen - ein Novum in der Geschichte der Fünften Republik. Darin äußert sich aber auch die Gefahr einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung, die sehr ungewöhnlich für ein Land ist, das Präsidentenwahlen überaus ernst nimmt.
Viele Franzosen empfinden diese Wahl wie eine Art nicht enden wollende Reality-TV-Show. So etwas kann faszinierend sein, aber es besteht wenig Zuversicht, dass die darin vorkommenden unzähligen Probleme von Arbeitslosigkeit über Terrorismus und Sicherheit bis hin zu staatlichen Renten und der Moralisierung des politischen Lebens jemals gelöst werden. (Darin besteht ein weiterer Unterschied zu früheren Wahlen, die über weite Strecken von einem oder zwei zentralen Themen bestimmt waren.)
Ebenso wie Dongo – oder Macron – haben die Menschen in Frankreich nun die Chance, sich von Zuschauern zu autonom handelnden Akteuren zu wandeln. Sie können ihren Kandidaten der Hoffnung wählen, wie die Amerikaner dies im Jahr 2008 taten, als sie sich für Barack Obama entschieden. Oder sie können ihre Kandidatin der Angst wählen, so wie sich auch die die Amerikaner im Jahr 2016 für Donald Trump entschieden. In jedem Fall werden unzählige Menschen die Auswirkungen ihrer Entscheidung – wie auch jene der Amerikaner – zu spüren bekommen.
Freilich: Frankreich ist nicht Amerika; es ist zunächst einmal von strategisch geringerer Bedeutung in der Welt. Allerdings ist Frankreich von entscheidender strategischer Bedeutung für die EU. Und in gewisser Weise ist die beherrscht agierende und politisch versierte Le Pen womöglich gefährlicher als der unberechenbare politische Neuling im Weißen Haus. Aus diesem Grund blickt ein großer Teil der Welt – zumindest der demokratische Teil – mit Spannung auf diese höchst ungewöhnliche französische Wahl.
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Since Plato’s Republic 2,300 years ago, philosophers have understood the process by which demagogues come to power in free and fair elections, only to overthrow democracy and establish tyrannical rule. The process is straightforward, and we have now just watched it play out.
observes that philosophers since Plato have understood how tyrants come to power in free elections.
Despite being a criminal, a charlatan, and an aspiring dictator, Donald Trump has won not only the Electoral College, but also the popular vote – a feat he did not achieve in 2016 or 2020. A nihilistic voter base, profit-hungry business leaders, and craven Republican politicians are to blame.
points the finger at a nihilistic voter base, profit-hungry business leaders, and craven Republican politicians.
PARIS – Sechzig Jahre nach der Unterzeichnung der Römischen Verträge steht Frankreich vor Wahlen, die für das Schicksal der Europäischen Union entscheidend sein könnten. Ein Sieg für den zentristischen, unabhängigen EU-Befürworter Emmanuel Macron wäre ein positiver Wendepunkt. Frankreich würde dem Populismus eine Absage erteilen und seine Beziehungen zu Deutschland vertiefen. Wenn sich die französischen Wähler allerdings für Marine Le Pen vom rechtsextremen Front National als Präsidentin entscheiden - die bezeichnenderweise von Wladimir Putin jüngst in Moskau herzlich empfangen wurde - wäre das lange europäische Projekt zu Ende.
Es handelt sich also ganz offensichtlich nicht um eine gewöhnliche Wahl in Frankreich. Da das Überleben der EU auf dem Spiel steht, ist der Einsatz höher als bei jeder anderen Wahl in der Geschichte der Fünften Republik. Hat also die nationalistische, fremdenfeindliche Rechte Frankreichs eine echte Chance, an die Macht zu kommen?
Natürlich ist der Front National im politischen Leben Frankreichs gut etabliert. Le Pens Vater, Jean-Marie Le Pen, gründete die Partei 1972 und führte sie bis zur Übernahme durch seine Tochter im Jahr 2011. Doch bislang hielt sich der Erfolg bei Wahlen in Grenzen. Obwohl Jean-Marie Le Pen es 2002 in die zweite Runde zur Stichwahl schaffte, erlitt er letztlich eine herbe Schlappe, da sich Zentristen und Linke gemeinsam hinter Jacques Chirac stellten.
Ebenso wie ihr Vater wird es Marine Le Pen wohl auch in die Stichwahl im Mai schaffen; tatsächlich sehen Meinungsumfragen eine Stimmenmehrheit für sie im ersten Wahlgang. Viele sind allerdings überzeugt, dass sie in der Stichwahl unterliegen wird: Macron liegt in den Umfragen für die Stichwahl gegen Le Pen bei 63 Prozent der Stimmen. Doch die Siege der Populisten im Jahr 2016 – insbesondere die Brexit-Abstimmung in Großbritannien und die Wahl Donald Trumps als US-Präsident – haben gezeigt, dass auch das Undenkbare eintreten kann.
Tatsächlich scheint die alte französischen Redewendung „was zweimal passiert, wird auch ein drittes Mal passieren” darauf hinzudeuten, dass nach diesen zwei Wahlgängen ein Sieg Le Pens nicht unausweichlich ist. In diesem Fall wird Frankreich nach Österreich und den Niederlanden vielleicht der dritte Verlust für Kandidaten der extremen Rechten werden und den definitiven Beweis liefern, dass die populistische Welle aufgehalten werden kann.
Außergewöhnliche Umstände bringen manchmal außergewöhnliche Persönlichkeiten hervor, wie das in den 1930er Jahren der Fall war – einem tragischen Jahrzehnt, mit dem die heutige politische Hysterie oft verglichen wird. Aber wie in der französischen Redensart zum Ausdruck kommt, können die Ergebnisse negativ oder positiv sein. Ebenso wie mit US-Präsident Franklin D. Roosevelt während der schlimmsten Wirtschaftskrise in der Geschichte der Vereinigten Staaten ein Lichtblick erschien, verbreitet auch Macron Optimismus in einer durch Gewalt, Mittelmaß, Korruptionsskandale und ideologischer Verwirrung enttäuschten französischen Öffentlichkeit.
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Macrons Ehefrau scherzt, dass ihr Mann sich als eine Art Jeanne d'Arc sieht, die das Land im Mittelalter vor den Briten rettete. Physisch erinnert Macron eher an den jungen General Napoleon Bonaparte während seines ersten Italien-Feldzuges. Manche sehen in Macron eine Figur aus einem Roman von Stendhal, einen modernen Fabrizio del Dongo, der beschließt, nicht mehr nur Beobachter der Welt zu sein, sondern in ihr zu handeln. Er treibt seine Mission durch eine Kombination aus jugendlicher Energie, Selbstvertrauen, politischer List, technokratischer Kompetenz und einem Gefühl für Mäßigung voran.
Macron verkörpert einen grundlegenden Wandel in der französischen Wahlpolitik: nämlich die Erosion der traditionellen Spaltung zwischen rechts und links. Er vertritt seine eigene zentristische Bewegung (En Marche !). Kein Unabhängiger hat je das französische Präsidentenamt erlangt, aber – noch einmal zur Erinnerung – wir haben es nicht mit einer gewöhnlichen Wahl zu tun.
Tatsächlich wird es wohl keine der beiden Großparteien – weder die Sozialisten noch die Konservativen (Les Republicains, wie sie sich mittlerweile nennen) – in den zweiten Wahlgang schaffen. Diese Absage an die traditionellen Parteien äußert sich auch in der Ablehnung des sozialistischen Präsidenten François Hollande, dessen Beliebtheitswerte so stark sanken (zu einem Zeitpunkt auf gerade einmal 4 Prozent), dass er beschloss, sich nicht um eine zweite Amtszeit zu bemühen - ein Novum in der Geschichte der Fünften Republik. Darin äußert sich aber auch die Gefahr einer sehr niedrigen Wahlbeteiligung, die sehr ungewöhnlich für ein Land ist, das Präsidentenwahlen überaus ernst nimmt.
Viele Franzosen empfinden diese Wahl wie eine Art nicht enden wollende Reality-TV-Show. So etwas kann faszinierend sein, aber es besteht wenig Zuversicht, dass die darin vorkommenden unzähligen Probleme von Arbeitslosigkeit über Terrorismus und Sicherheit bis hin zu staatlichen Renten und der Moralisierung des politischen Lebens jemals gelöst werden. (Darin besteht ein weiterer Unterschied zu früheren Wahlen, die über weite Strecken von einem oder zwei zentralen Themen bestimmt waren.)
Ebenso wie Dongo – oder Macron – haben die Menschen in Frankreich nun die Chance, sich von Zuschauern zu autonom handelnden Akteuren zu wandeln. Sie können ihren Kandidaten der Hoffnung wählen, wie die Amerikaner dies im Jahr 2008 taten, als sie sich für Barack Obama entschieden. Oder sie können ihre Kandidatin der Angst wählen, so wie sich auch die die Amerikaner im Jahr 2016 für Donald Trump entschieden. In jedem Fall werden unzählige Menschen die Auswirkungen ihrer Entscheidung – wie auch jene der Amerikaner – zu spüren bekommen.
Freilich: Frankreich ist nicht Amerika; es ist zunächst einmal von strategisch geringerer Bedeutung in der Welt. Allerdings ist Frankreich von entscheidender strategischer Bedeutung für die EU. Und in gewisser Weise ist die beherrscht agierende und politisch versierte Le Pen womöglich gefährlicher als der unberechenbare politische Neuling im Weißen Haus. Aus diesem Grund blickt ein großer Teil der Welt – zumindest der demokratische Teil – mit Spannung auf diese höchst ungewöhnliche französische Wahl.
Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier