pisaniferry145_ Thierry MonasseGetty Images_eu green deal Thierry Monasse/Getty Images

Europas Klimadilemma

WASHINGTON, D.C.: Bei seinem Bemühen, der erste CO2-neutrale Kontinent der Welt zu werden, muss Europa einen heiklen Balanceakt bewältigen. Kann die Europäische Union ihre Wirtschaft transformieren und zugleich ihre Wettbewerbsfähigkeit stärken? Und kann sie diese Ziele erreichen und zugleich unter Einhaltung ihrer Grundsätze fiskalpolitischer Verantwortung ihren Status als Gestalterin globaler Standards aufrechterhalten?

Die Antwort auf diese Fragen ist ein klares Nein. Kompromisse sind unvermeidlich, und zu ermitteln, wo man Zugeständnisse machen muss, um die richtige Balance zu treffen, könnte sich als schwieriger erweisen, als die Politiker womöglich glauben.

Als die EU 2019 ihren Green Deal enthüllte und sich verpflichtete, bis 2050 CO2-neutral zu werden, bestand ihr primäres Ziel darin, das Pariser Klima-Abkommen von 2015 zu stärken und zur Begrenzung der Treibhausgas-Emissionen beizutragen. Doch verfolgten die Politiker noch ein zweites, klar definiertes Ziel: die EU zu einem Vorreiter in den „grünen“ Branchen zu machen. Dies ist der Grund, warum die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen dieses politische Vorhaben als Europas „Man on the Moon“-Moment bezeichnet hat.

Ob das Pariser Abkommen ohne Europas Bekenntnis zur CO2-Neutralität zusammengebrochen wäre, kann man im Nachhinein natürlich nicht wissen. Trotzdem gebührt der EU hohes Lob dafür, dass sie innerhalb weniger Jahre ein umfassendes Gesetzespaket geschnürt hat – viele hatten das für unmöglich gehalten. Der europäische Green Deal stützt sich auf eine breite Palette von Instrumenten, die von der Regulierung (etwa dem Verbot des Verkaufs neuer Autos mit Verbrennungsmotor nach 2035) bis zu Kohlenstoffpreisen (durch Ausweitung des Emissionshandels) reichen.

Doch hat sich die Lage seit 2019 verändert. Erstens hat sich China zu einem globalen Vorreiter bei verschiedenen grünen Technologien entwickelt, darunter Solarmodulen und Batterien für Elektroautos. Der Umfang und das Tempo, mit dem China seine grüne Industriepolitik vorangetrieben hat, könnte seinen komparativen Kostenvorteil verfestigt haben.

Zweitens haben die Zölle auf chinesische Importe des ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, die auch unter seinem Nachfolger Joe Biden fortbestehen, dem multilateralen System bleibenden Schaden zugefügt. Die Welthandelsorganisation (WTO) ist praktisch nur noch ein Schatten ihrer selbst.

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Drittens hat Russlands Invasion der Ukraine Europa des unbeschränkten Zugangs auf russisches Erdgas beraubt, der Europa bis dahin einen Vorteil im weltweiten Wettlauf um Energieressourcen verschafft hatte.

Und schließlich sind die USA dem weltweiten Kampf gegen den Klimawandel beigetreten – aber auf eigene Weise. Der Inflation Reduction Act, Bidens richtungsweisendes Klimaschutzgesetz, enthält keine CO2-Preise, sieht keine Höchstgrenze für Subventionen vor und macht den Zugang dazu von verzerrenden Anforderungen an die Nutzung örtlicher Komponenten abhängig. Damit wirft der IRA die bestehenden Spielregeln über den Haufen und gefährdet zunehmend die in sich schlüssige und sorgfältig geplante Strategie der EU.

Trotz dieser Herausforderung hält die EU bisher unerschütterlich an ihrem Bekenntnis zur CO2-Neutralität bis 2050 fest. Während sie danach strebt, sich in den entstehenden grünen Branchen als Global Player zu etablieren, ist sie zugleich entschlossen, an multilateralen Prinzipien und Regeln festzuhalten. Zudem plant der Block, all dies unter Wahrung seiner bestehenden fiskalpolitischen Regeln zu tun. Tatsächlich prüft er gegenwärtig Reformen, die kaum Flexibilität zur Bewältigung der erwarteten Folgen der Umstellung auf CO2-Neutralität im Haushalt lassen.

Die neue Realität jedoch könnte die EU bald zwingen, ihre Haltung zu überdenken. Angesichts des beträchtlichen politischen Kapitals, das sie in ihr Bemühen um CO2-Neutralität investiert hat, ist schwer vorstellbar, dass dem Block vorschwebt, diese ausdrücklich aufzugeben. Aber er könnte so tun, als ob er weiter hart daran arbeitet, seine Ziele für 2030 verfehlen und dann allmählich seine neue Position als Nachzügler statt als Vorreiter akzeptieren. Dieses Szenario scheint zunehmend wahrscheinlich, da die EU nicht die erforderlichen internen Steuerungsmechanismen geschaffen hat, um die Einhaltung ihrer Regeln durch die Mitgliedstaaten zu gewährleisten.

Während die EU weiterhin die direkte Kontrolle über einige Maßnahmen innehat, darunter das Verbot des Verkaufs neuer Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor und die Zuteilung von Emissionsquoten, fallen die begleitenden politischen Maßnahmen nach wie vor weitgehend in die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten. Wenn die europäischen Regierungen zum Beispiel keine Maßnahmen umsetzen, um von der fortgesetzten Nutzung alternder Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor abzuschrecken, oder Investitionen in neue Elektrofahrzeuge subventionieren, könnten Verbrenner noch viele Jahre die Straßen bevölkern.

Um die mit dem Erreichen der CO2-Neutralität verbundenen Kosten zu verringern, könnte Europa versucht sein, seine Wettbewerbsfähigkeit zu opfern. Wenn chinesische Elektrofahrzeuge sich als preiswerter erweisen als die in Europa hergestellten, könnten sich eingefleischte Klimaschutz-Befürworter für den Kauf chinesischer Autos aussprechen. Doch kann Europa es sich nicht leisten, die Gelegenheit zur Revitalisierung seiner Autoindustrie zu verschwenden.

Die EU scheint seit 2019 zunehmend bereit, zur Steigerung ihrer Wettbewerbsfähigkeit ihre globale Rolle als Gestalterin von Regeln und Normen aufzugeben. Doch ist das Bekenntnis der EU zu einer regelgestützten Weltordnung Teil ihrer DNA, und sie hat keinen vergleichbar gewichtigen Ersatz. Wenn sie ihre Rolle als Regelsetzerin aufgibt, könnte die EU den Niedergang des Multilateralismus beschleunigen. Da einer geschwächten EU die nötigen Mittel zur Rettung des bestehenden globalen Systems fehlen würden, scheint ein derartiges Ergebnis zunehmend wahrscheinlich.

Der vernünftigste Kurs bestünde darin, dass der Block seine fiskalpolitischen Beschränkungen durch ein grünes „Carve-out“ oder ein gemeinsames Schuldenprogramm lockert, das durch eine Übereinkunft zur Erhöhung der eigenen Mittel gestützt wird. Ein derartiger Schritt würde zugegeben die Gefahr gesamtwirtschaftlicher Instabilität bergen. Doch würde er weniger Schaden anrichten, als die Wettbewerbsfähigkeit zu opfern oder das multilaterale System zusammenbrechen zu lassen.

Leider gibt es für diese Maßnahmen keine ausreichende Unterstützung innerhalb der EU. Der deutsche Finanzminister Christian Lindner hat vor kurzem das Bekenntnis seines Landes zu den bestehenden Haushaltsregeln bekräftigt. Doch jetzt auf Haushaltsdisziplin zu beharren, könnte die EU erheblichen Verlusten anderswo aussetzen. Anders als einige europäische Politiker zu glauben scheinen ist die Umstellung auf saubere Energie nicht umsonst zu haben. Die Entscheidung, vor der die europäische Politik steht, ist simpel: Entweder sie handelt jetzt, um diesen Kosten Rechnung zu tragen, oder sie bezahlt später einen sehr viel höheren Preis.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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