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Was die nächste EU-Führung tun muss

STOCKHOLM – Kürzlich haben die Bürger der 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union die 720 Mitglieder des nächsten Europäischen Parlaments gewählt. Als nächstes steht nun an, die Institutionen zu besetzen, die die Arbeit der Staatengemeinschaft überwachen und ihre strategischen Prioritäten der nächsten fünf Jahre festlegen. Dieser Prozess wird einige Zeit dauern. Aber Ende des Jahres – nach all den erwartbaren parlamentarischen Querelen und Tumulten – sollte er abgeschlossen sein.

Trotz allem hat sich das politische Gleichgewicht im Europäischen Parlament nicht so dramatisch verändert, wie es viele Kommentatoren erwartet hätten. Der Sitzanteil der traditionellen Mitte-Rechts-, Mitte-Links- und liberalen Parteien ging lediglich von 59% auf 56% zurück. Der größte Teil des Dramas beschränkte sich auf wenige Länder, darunter nicht zuletzt auf Frankreich, wo Marine Le Pens Nationale Sammlungsbewegung die Renaissance-Partei des Präsidenten Emmanuel Macron vernichtend geschlagen hat. Obwohl dieses Ergebnis die Besetzung der EU-Institutionen nicht direkt beeinflusst, ist es offensichtlich, dass politische Veränderungen in einem der wichtigsten Mitgliedsländer der Union langfristig größere Auswirkungen haben könnten.

Blickt man in die letzten fünf Jahre zurück, kann man mit Fug und Recht behaupten, dass die EU die Erwartungen mehr als erfüllt hat. Sie mag sich nicht in die geopolitische Weltmacht verwandelt haben, die sich die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in so vielen Reden ausgemalt hat, aber sie hat sich in einer „Black-Swan“-Krise nach der anderen (von der COVID-19-Pandemie bis hin zu Russlands Invasion in der Ukraine) als effektive Krisenmanagerin erwiesen.

Zukünftig könnten die Herausforderungen noch wachsen. Eine große Frage ist, wie Frankreich bei den vorgezogenen Neuwahlen in diesem Monat und der Präsidentschaftswahl von 2027 abschneidet. Deutschlands Dreiparteienregierung wird, trotz der schlechten Ergebnisse ihrer Mitglieder bei der Europawahl, wahrscheinlich weiterstolpern. Und es bleibt abzuwarten, welche Art internen Widerstands der EU von den Regierungen Ungarns, der Slowakei, der Niederlande und vielleicht Österreichs (nach den Wahlen im Herbst dort) entgegen gebracht wird.

Selbst ohne potenzielle Störenfriede steht die EU-Politik vor massiven Herausforderungen: Beim Grünen Wandel hat sie im letzten Jahrzehnt einen guten Start hingelegt und ist klimapolitisch weltweit in Führung gegangen, aber innenpolitischer Druck in vielen Mitgliedstaaten zwingt die Politiker nun, das Tempo zu verlangsamen. Und der digitale Wandel der EU ist weniger beeindruckend – eine Schwäche, die umso schwerer wiegt, als das Zeitalter der künstlichen Intelligenz die Weltwirtschaft verändert.

Die europäischen Politiker werden sich der Tatsache, dass die EU ein Problem mit ihrer Wettbewerbsfähigkeit hat, nur langsam bewusst. In einer Welt, in der Amerika die Innovationssupermacht und China die Produktionssupermacht ist, reicht es nicht aus, die Regulierungssupermacht zu sein.

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Wie Europa dieses Thema bewältigt, wird seine Zukunft grundlegend prägen. Viele fordern neue Zölle, Subventionen und teure Industriepolitik – häufig unter dem Vorwand wirtschaftlicher und nationaler Sicherheit. Aber solche Vorschläge lenken von den tatsächlichen Problemen ab. So lange die EU nicht ihren Gemeinsamen Markt vollendet und eine echte Kapitalunion bildet, werden es die europäischen Unternehmer schwer haben, Innovationen gewinnbringend zu nutzen, und die globalen Investoren werden weiterhin die USA und andere Märkte bevorzugen.

Mit der Rückkehr des Kriegs auf den Kontinent sind diese Probleme noch dringender geworden. Frieden und Stabilität sind die Gründe, warum die EU ursprünglich entstanden ist. Geboren aus der Asche des Zweiten Weltkriegs war sie bisher außerordentlich erfolgreich. Aber Russlands brutaler Angriffskrieg gegen die Ukraine fordert das europäische Projekt unmittelbar heraus. Wird dem nicht direkt begegnet, könnte sich die gesamte europäische Ordnung in den nächsten Jahren auflösen.

Um dies zu verhindern, muss sich die EU gemeinsam mit der NATO in eine Sicherheitsunion verwandeln und ihre Erweiterung vorantreiben – mit der Ukraine als Mitglied. Die Wahl hier ist ziemlich einfach: Entweder erweitern wir unsere Stabilität ostwärts, oder Russland treibt sein Destabilisierungsprojekt westwärts.

Bei den Diskussionen über EU-Mitgliedschaft, Personal und Prioritäten in den nächsten Wochen und Monaten wird es darum gehen, wie die Staatengemeinschaft auf diese Herausforderungen vorbereitet werden kann. Die EU hat sich als effektiver Krisenmanager erwiesen, aber nun muss sie – in einem immer schwierigen globalen Umfeld – zu einem großen strategischen Akteur werden. Als sei die russische Bedrohung noch nicht schlimm genug, wird die Lage noch schwieriger, falls Donald Trump im November die US-Präsidentschaftswahlen gewinnt. Eine amerikanische Regierung, die ihre Verbündeten offen im Stich lässt und wichtige Säulen der internationalen Ordnung – wie die Welthandelsorganisation, die Weltgesundheitsorganisation, globale Klimaabkommen und die NATO – untergräbt, stellt eine völlig andere und noch größere Herausforderung dar.

Angesichts dessen, dass die EU mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, dem chinesischen Präsidenten Xi Jinping, einer zweiten Trump-Regierung und ihren eigenen Populisten umgehen muss, wird ihre Lage keinesfalls einfacher. Aber Europa ist nicht hilflos. Je mehr sich die EU-Mitgliedstaaten um gemeinsame Institutionen und Ziele vereinigen, desto sicherer werden sie sein.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

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