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Europa muss gegen den Handel mit russischem Öl über die Türkei durchgreifen

SOFIA – Um den florierenden Handel mit fossilen Brennstoffen aus Russland zu ermessen, setze man sich einfach in ein Roof-Top-Café am Bosporus. Als ich im März auf einer Istanbuler Dachterrasse Tee trank, beobachtete ich, wie im Laufe von zwei Stunden mindestens vier - später über Open-Source-Webseiten für den Schiffsverkehr identifizierte - Tanker russisches Rohöl und Raffinerieprodukte durch einen der am stärksten frequentierten Schiffsverkehrsknotenpunkte der Welt transportierten.

Ein aktueller Bericht des Forschungszentrums für Energie und saubere Luft (CREA) und des Zentrums für Demokratieforschung (CSD) bestätigt meine Beobachtungen in Istanbul. Seit der russischen Invasion in der Ukraine ermöglicht die Türkei die Lieferung von russischem Öl in die Europäische Union, so dass der Kreml die EU-Sanktionen umgehen und den Krieg prolongieren kann. Im Jahr 2023 wurde die Türkei zum weltweit größten Abnehmer fossiler Brennstoffe aus Russland und importierte Öl, Erdgas und Kohle im Wert von rund 42,2 Milliarden Euro - eine Verfünffachung in den letzten zehn Jahren.

Trotz des Verbotes der EU und der G7 für Ölimporte aus Russland kaufen die europäischen Länder weiterhin enorme Mengen an Rohöl und Ölprodukten aus der Türkei. Zwischen Februar 2023 - als das EU-Verbot und die G7-Preisobergrenze für raffinierte Erdölerzeugnisse aus Russland in Kraft traten - und Februar 2024 importierten die Mitgliedstaaten dem CREA-CSD-Bericht zufolge 5,16 Millionen Tonnen Erdölerzeugnisse im Wert von 3,1 Milliarden Euro aus den drei türkischen Häfen Ceyhan, Marmara Ereğlisi und Mersin. Bemerkenswert ist, dass diese Häfen über keine oder nur geringe Raffineriekapazitäten verfügen und in hohem Maße von fossilen, auf dem Seeweg eingeführten Brennstoffen aus Russland abhängig sind.

Im gleichen Zeitraum stiegen die EU-Gesamteinfuhren von Erdölprodukten aus der Türkei im Jahresvergleich mengenmäßig um 107 Prozent. Unterdessen haben sich die türkischen Gesamteinfuhren von Erdölerzeugnissen aus Russland im Jahr 2023 mehr als verdoppelt und beliefen sich auf insgesamt 17,6 Milliarden Euro, was dem Kreml Steuereinnahmen in Höhe von schätzungsweise 5,4 Milliarden Euro bescherte. In Anbetracht des vernachlässigbaren Anstiegs des türkischen Inlandsverbrauchs von Erdölprodukten deuten diese Ergebnisse stark darauf hin, dass die türkischen Lager mit russischen Brennstoffen beliefert werden, um diese in den Westen weiterzuverkaufen.

Angesichts der strategischen Lage der Türkei und ihrer relativ begrenzten Raffineriekapazitäten ist der Kauf und die Lagerung von Ölprodukten für die Händler traditionell lukrativer als die Rohölverarbeitung. Und jetzt, da der Krieg in der Ukraine die Energiepreise in die Höhe getrieben hat, profitiert Russland von hohen Gewinnspannen für jedes in die EU verkaufte Fass Öl. Der größte Teil dieses Gewinns wird von Zwischenhändlern großer russischer Ölgesellschaften erzielt, die in der Regel in Steuerparadiesen wie der Schweiz, den Niederlanden und den Vereinigten Arabischen Emiraten registriert sind.

Die Strategie des Kremls, die Türkei als Zwischenstation zu nutzen, wird durch ein eklatantes Schlupfloch im Sanktionsregime ermöglicht, das die Einfuhr von russischen Ölmischprodukten in die EU erlaubt. Nach den offiziellen Leitlinien müssen derartige Produkte nicht nur umetikettiert, sondern „substanziell umgewandelt“ werden, damit sie nicht mehr als Produkte russischer Herkunft gelten. Das deutet darauf hin, dass Händler in der EU möglicherweise gegen die Sanktionen verstoßen haben, als sie aus türkischen Häfen raffinierte Erdölerzeugnisse einführten, die mit russischem Öl vermischt waren oder hauptsächlich aus diesem bestanden.

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Die EU-Behörden sollten durch eine verschärfte Durchsetzung der Sanktionen dieser Ölwäscherei ein Ende setzen. Das bedeutet, die Herkunft von Erdölprodukten aus Terminals, die russisches Öl beziehen, mit der gebotenen Sorgfalt zu prüfen. Darüber hinaus müssen die sanktionierenden Länder die Einfuhr fossiler Brennstoffe aus allen Lageranlagen verbieten, die in den letzten sechs Monaten russische Ölprodukte bezogen haben, um Händler abzuschrecken, dieses Schlupfloch auszunutzen.

Auch für die Vollzugsbehörde des US-Finanzministeriums, das Office of Foreign Assets Control, gilt es, Sanktionen wie Geldstrafen und das Einfrieren von Vermögenswerten gegen Schifffahrtsunternehmen und andere Einrichtungen zu verhängen, die gegen die geltenden Sanktionen verstoßen. Die Veröffentlichung dieser Strafen würde andere wahrscheinlich davon abhalten, ähnliche Geschäfte zu tätigen. Überdies sollte die EU auch die Strafverfolgung bei Sanktionsverstößen beschleunigen und die gemeinsamen Institutionen zur Durchsetzung von Sanktionen aktivieren, wie etwa die Europäische Staatsanwaltschaft und die EU-Behörde zur Bekämpfung von Geldwäsche und Terrorismusfinanzierung.

Generell wäre es für die EU-Mitgliedstaaten und die G7-Länder angebracht zu erkennen, dass die derzeitige Ölpreisobergrenze den russischen Zugang zu finanziellen Ressourcen nicht einschränkt. Entgegen der in den USA und der EU vorherrschenden Meinung würde eine Senkung der Preisobergrenze deflationär wirken, da Russland gezwungen wäre, mehr Raffinerieprodukte zu produzieren und zu exportieren, um die Einnahmeverluste auszugleichen. CREA schätzt, dass eine Senkung der Preisobergrenze auf 35 US-Dollar pro Fass für hochwertige Produkte und 25 US-Dollar pro Fass für geringwertige Produkte die Einnahmen des Kremls aus den auf dem Seeweg transportierten Erdölprodukten um 68 Prozent oder rund 3,3 Milliarden Euro pro Monat verringern würde.

Letztendlich muss sich die EU vollständig von russischem Öl und Gas lösen. Nur so kann sie sich aus der Umklammerung durch Russlands staatliche Netze befreien, die nach wie vor zersetzenden Einfluss auf die europäische Wirtschaft und ihre Politiker ausüben.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

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