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Wir sind alle Biomasse

LJUBLJANA – In einem jüngst erschienenen Kommentar blickt der Philosoph Michael Marder über die unmittelbaren Schrecken des Geschehens in Gaza hinaus und betrachtet die ontologischen Implikationen der aus der Ferne aufgenommenen Drohnenaufnahmen der Ruinen. Lassen Sie mich ihn ausführlich zitieren:

„... Gaza wird rapide in eine Müllhalde verwandelt, in der Hochhäuser und menschliche Körper, Ökosysteme ... und Obstgärten bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt und auf organisch-anorganischen Schutt reduziert werden. Solidarität mit in Müll verwandelten Leben, Orten und Welten erfordert etwas anderes als Mitgefühl. Was also könnte das sein?“

Marders Antwort ist der Vorschlag „einer anderen Art Solidarität, die auf der gemeinsamen Beschaffenheit als Biomasse basiert.“ Zu sagen „Ich bin Biomasse“ bedeute, sich „mit einem schwindenden Leben zu identifizieren“ und Gaza als „komprimierte und besonders krasse Version einer planetarischen Tendenz“ zu sehen. Die Reduktion allen Lebens auf bloße Biomasse – chaotische Haufen organischer und anorganischer Materie – finde überall statt, doch wurde sie „in Gaza durch die modernsten Technologien der Zerstörung beschleunigt. Statt des Mitgefühls bedarf es daher der Solidarität der als Müll Entsorgten, die zu erklären wagen: ‚Wir sind Biomasse.‘“

Dieser Begriff der Biomasse erinnert an eine Einsicht des Philosophen Levi Bryant: „In einer Zeit, in der wir mit der drohenden Gefahr eines monumentalen Klimawandels konfrontiert sind, ist es unverantwortlich, unsere Unterscheidungen so zu ziehen, dass nicht-menschliche Akteure ausgeschlossen werden.“ Und doch scheitern in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften immer wieder die Bemühungen, eine große Mehrheit der Menschen im Namen unserer gemeinsamen Condition écologique zu mobilisieren. Wir alle wissen, dass wir Teil der Natur und für unser Überleben vollständig von dieser abhängig sind, doch zieht diese Erkenntnis kein Handeln nach sich. Das Problem ist, dass unsere Entscheidungen und Perspektiven von vielen anderen Kräften beeinflusst werden: voreingenommenen Medienberichten, wirtschaftlichem Druck auf die Arbeiter, materiellen Beschränkungen usw.

In ihrem Buch „Vibrant Matter“ aus dem Jahr 2010 fordert uns die Philosophin Jane Bennett auf, uns eine schmutzige Müllhalde vorzustellen, wo nicht bloß Menschen, sondern auch verrottender Müll, Würmer, Insekten, aufgegebene Maschinen, giftige Chemikalien usw. eine aktive Rolle spielen. Diese Szene der Biomasse ist innerhalb desselben Spektrums angesiedelt wie die Situation in Gaza, auch wenn Letztere ein Extremfall ist. Es gibt auf der ganzen Welt, besonders außerhalb des entwickelten Westens, eine Menge großer physischer Räume, wo „digitaler Abfall“ abgeladen wird und tausende von Menschen damit beschäftigt sind, Glas, Metalle, Plastik, Mobiltelefone und andere von Menschenhand geschaffene Materialien aus den chaotischen Haufen herauszusortieren. Ein derartiger Slum – Agbogbloshie nahe des Zentrums von Accra (der Hauptstadt von Ghana) – ist als „Sodom und Gomorrha“ bekannt.

Das Leben in einem derartigen Umfeld ist eine Horrorshow, und die dort lebenden Gemeinschaften sind streng hierarchisch organisiert, wobei Kinder gezwungen sind, unter extrem gefährlichen Bedingungen die riskanteste Arbeit zu verrichten. Doch weil diese Ausbeutung der Biomasse ökologisch attraktiv erscheint (unter dem Banner des „Recyclings“), entspricht sie perfekt den Anforderungen der modernen Technologie: „Im technologischen Zeitalter“, schreibt der Philosoph Mark Wrathall, „ist es uns am wichtigsten, den ‚größtmöglichen Nutzen‘ aus allem zu ziehen.“

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Letztlich geht es beim sparsamen Umgang mit Ressourcen, beim Recycling usw. allein darum, den Nutzen von allem zu maximieren. Die letztendlichen Produkte des Kapitalismus sind Müllhaufen – nutzlose Computer, Autos, Fernseher, Videorekorder und jene Hunderte von Flugzeugen, die einen letzten „Ruheplatz“ in der Mojave-Wüste gefunden haben. Die Idee des totalen Recyclings (bei dem jeder Rest wiederverwendet wird) ist der ultimative kapitalistische Traum, selbst – oder besonders – wenn sie als Mittel zum Erhalt des natürlichen Gleichgewichts der Erde präsentiert wird. Es ist dies ein weiteres Zeugnis für die Fähigkeit des Kapitalismus, Ideologien zu vereinnahmen, die ihm scheinbar entgegenstehen.

Was die Ausbeutung der Biomasse freilich von der kapitalistischen Logik unterscheidet, ist, dass sie ein chaotisches Ödland als unser grundlegendes Dilemma akzeptiert. Obwohl dieser Zustand teilweise ausgenutzt werden kann, lässt er sich nie völlig beseitigen. Marder formuliert es so: Biomasse sei unser neues Zuhause; wir sind Biomasse. Es ist Fantasterei, zu glauben, dass wir ein derartiges Umfeld hinter uns lassen und durch ein Leben in idyllischer „natürlicher“, ökologisch nachhaltiger Umgebung ersetzen können. Dieser einfache Ausweg ist uns unwiederbringlich verloren gegangen. Wir sollten unser einziges Zuhause akzeptieren und innerhalb seiner Grenzen arbeiten, und dabei vielleicht eine neue Harmonie unter dem entdecken, was wie ein chaotischer Haufen erscheint.

Dies erfordert, dass wir offen sind für die objektive Schönheit unterschiedlicher Realitätsebenen (Menschen, Tiere, Ruinen, verfallende Gebäude) und eine hierarchische Einordnung ästhetischer Erfahrungen ablehnen. Sind wir hierzu bereit? Wenn nicht, sind wir wirklich verloren.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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