LONDON – Der König von Bhutan will uns alle glücklicher machen. Regierungen, meint er, sollten danach streben, das Bruttonationalglück ihres Volkes zu maximieren und nicht das Bruttonationaleinkommen (BNE). Stellt diese neue Betonung des Glücks einen Richtungswechsel dar oder nur eine vorübergehende Mode?
Es ist leicht einzusehen, warum Regierungen weniger Wert auf das Wirtschaftswachstum legen sollten, zumal es sich als so unzuverlässig erweist. Die Eurozone wird in diesem Jahr voraussichtlich überhaupt nicht wachsen. Die britische Wirtschaft wird kleiner. Griechenlands Wirtschaft schrumpft seit Jahren. Selbst Chinas Wachstum wird sich voraussichtlich verlangsamen. Warum geben wir das Wachstum nicht auf und genießen das, was wir haben?
Ohne Zweifel wird sich diese Stimmung legen, wenn das Wachstum wieder an Fahrt gewinnt, was gewiss der Fall sein wird. Trotzdem hat sich die Einstellung zum Wachstum tiefgreifender verändert, wodurch es in Zukunft wahrscheinlich als Leitstern weniger wichtiger sein wird – vor allem in reichen Ländern.
Der erste Faktor, der das Streben nach Wachstum abgeschwächt hat, war die Sorge über die Nachhaltigkeit des Wachstums. Können wir im alten Tempo weiterwachsen, ohne unsere Zukunft zu gefährden?
Merkwürdigerweise ist das einzige Tabuthema in dieser Diskussion das Bevölkerungswachstum. Je weniger Menschen es gibt, desto geringer ist das Risiko, den Planeten zu überhitzen. Doch anstatt den natürlichen Rückgang ihrer Bevölkerung zu akzeptieren, nehmen die Regierungen reicher Länder immer mehr Menschen auf, um die Löhne niedrig zu halten und somit schneller zu wachsen.
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In jüngerer Zeit wurde die Frage nach den enttäuschenden Ergebnissen des Wachstums aufgeworfen. Es wird immer deutlicher, dass Wachstum unser Wohlbefinden nicht unbedingt steigert. Warum sollen wir also weiterwachsen?
Oberhalb eines eher niedrigen Einkommensniveaus (genug, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen) fand Easterlin keine Korrelation zwischen Glück und BNE pro Kopf. Anders ausgedrückt: Das BNE eignet sich schlecht als Maß für die Lebenszufriedenheit.
Diese Erkenntnis verstärkte die Bemühungen, alternative Indizes zu entwickeln. 1972 stellten die beiden Wirtschaftswissenschaftler William Nordhaus und James Tobin ein Maß vor, das sie Net Economic Welfare nannten und das berechnet wird, indem man „schlechte“ Auswirkungen, wie Umweltverschmutzung, vom BNE abzieht und Aktivitäten außerhalb des Marktes, wie Freizeit, hinzurechnet. Sie zeigten, dass eine Gesellschaft mit mehr Freizeit und weniger Arbeit ebenso viel Wohlstand erreichen kann wie eine mit mehr Arbeit – und damit einem höheren BNE – und weniger Freizeit.
In letzter Zeit wurde versucht, eine größere Bandbreite an Indikatoren für „Lebensqualität“ in die Messwerte einfließen zu lassen. Das Problem ist, dass man die Quantität einer Sache messen kann, nicht aber die Lebensqualität. Wie man Quantität und Qualität zu einem Index der „Lebenszufriedenheit“ kombiniert, ist eher eine Frage der Moral als der Ökonomie, daher überrascht es nicht, dass die meisten Wirtschaftswissenschaftler bei ihren quantitativen Maßen für „Wohlstand“ bleiben.
Doch auch eine weitere Erkenntnis beeinflusst langsam die aktuelle Debatte über Wachstum: Die arme Bevölkerung eines Landes ist weniger glücklich als die reiche Bevölkerung. Mit anderen Worten wird der Grad an Zufriedenheit, sobald man ein geringes hinreichendes Auskommen hat, viel weniger vom absoluten Einkommen bestimmt als vom Einkommen im Verhältnis zu einer Referenzgruppe. Wir vergleichen unser Schicksal ständig mit dem der anderen und fühlen uns entweder überlegen oder unterlegen, egal wie hoch unser Einkommen ist; Wohlbefinden hängt stärker davon ab, wie die Früchte des Wachstums verteilt sind, als von ihrer absoluten Menge.
Anders ausgedrückt: Für die Lebenszufriedenheit ist nicht das Wachstum des Durchschnittseinkommens wichtig, sondern das des mittleren Einkommens – also das Einkommen einer typischen Person. Als Beispiel kann eine Gruppe von zehn Personen dienen (in einer Fabrik), in der der Geschäftsführer pro Jahr 150 000 Euro verdient und die anderen 9 Personen, allesamt Arbeiter, jeweils 10 000 Euro. Der Durchschnitt ihrer Einkommen beträgt 25 000 Euro, doch verdienen 90 % je 10 000 Euro. Bei dieser Art der Einkommensverteilung wäre es erstaunlich, wenn Wachstum das Wohlbefinden eines typischen Mitarbeiters steigern würde.
Das Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen. In den reichen Gesellschaften sind die Durchschnittseinkommen im Laufe der letzten drei Jahrzehnte stetig gestiegen, die typischen Einkommen dagegen stagnierten oder sind sogar gesunken. Mit anderen Worten hat eine Minderheit – eine sehr kleine Minderheit in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien – einen Großteil der Gewinne des Wachstums an sich gerissen. In solchen Fällen wollen wir nicht mehr Wachstum, sonder mehr Gleichheit.
Mehr Gleichheit würde nicht nur dazu führen, dass wir durch mehr Sicherheit und bessere Gesundheit zufriedener werden, sondern sie würde uns auch mehr Befriedigung verschaffen durch mehr Freizeit, mehr Zeit mit Familie und Freunden, mehr Respekt von Seiten der Mitmenschen und durch mehr Wahlmöglichkeiten, was den eigenen Lebensstil angeht. Große Ungleichheit lässt unser Verlangen nach Waren stärker werden, als es eigentlich wäre, da wir ständig daran erinnert werden, dass wir weniger haben als andere. Wir leben in einer aggressiven Gesellschaft mit Turbo-Vätern und „Tiger“-Müttern, die sich selbst und ihre Kinder ständig dazu antreiben „voranzukommen“.
Der Philosoph John Stuart Mill vertrat im neunzehnten Jahrhundert eine zivilisiertere Ansicht:
„Ich gebe zu, nicht entzückt zu sein vom Ideal des Lebens, das von jenen vertreten wird, die denken […], dass das Treten, Schubsen, Stoßen und Herumtrampeln auf den Füßen der anderen, die das derzeitige gesellschaftliche Leben bestimmen, das wünschenswerteste Los der Menschheit seien. […] Der beste Zustand für die menschliche Natur ist der, in dem niemand arm ist, niemand sich wünscht, reicher zu sein, und niemand Grund hat, sich zu fürchten, dass er durch die Bemühungen anderer, die nach vorn drängen, zurückgeworfen wird.“
Dies ist den meisten Wirtschaftswissenschaftlern heute nicht bewusst, dafür aber dem König von Bhutan – oder den vielen Menschen, die die Grenzen des messbaren Wohlstands erkannt haben.
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Over time, as American democracy has increasingly fallen short of delivering on its core promises, the Democratic Party has contributed to the problem by catering to a narrow, privileged elite. To restore its own prospects and America’s signature form of governance, it must return to its working-class roots.
is not surprised that so many voters ignored warnings about the threat Donald Trump poses to US institutions.
Enrique Krauze
considers the responsibility of the state to guarantee freedom, heralds the demise of Mexico’s democracy, highlights flaws in higher-education systems, and more.
LONDON – Der König von Bhutan will uns alle glücklicher machen. Regierungen, meint er, sollten danach streben, das Bruttonationalglück ihres Volkes zu maximieren und nicht das Bruttonationaleinkommen (BNE). Stellt diese neue Betonung des Glücks einen Richtungswechsel dar oder nur eine vorübergehende Mode?
Es ist leicht einzusehen, warum Regierungen weniger Wert auf das Wirtschaftswachstum legen sollten, zumal es sich als so unzuverlässig erweist. Die Eurozone wird in diesem Jahr voraussichtlich überhaupt nicht wachsen. Die britische Wirtschaft wird kleiner. Griechenlands Wirtschaft schrumpft seit Jahren. Selbst Chinas Wachstum wird sich voraussichtlich verlangsamen. Warum geben wir das Wachstum nicht auf und genießen das, was wir haben?
Ohne Zweifel wird sich diese Stimmung legen, wenn das Wachstum wieder an Fahrt gewinnt, was gewiss der Fall sein wird. Trotzdem hat sich die Einstellung zum Wachstum tiefgreifender verändert, wodurch es in Zukunft wahrscheinlich als Leitstern weniger wichtiger sein wird – vor allem in reichen Ländern.
Der erste Faktor, der das Streben nach Wachstum abgeschwächt hat, war die Sorge über die Nachhaltigkeit des Wachstums. Können wir im alten Tempo weiterwachsen, ohne unsere Zukunft zu gefährden?
Als die Menschen in den 1970er Jahren anfingen, über die „natürlichen“ Grenzen des Wachstums zu sprechen, meinten sie das drohende Ende der Nahrungsmittelreserven und nichterneuerbaren Bodenschätze. In jüngster Zeit hat sich die Debatte auf CO2-Emissionen verlagert. Wie im Stern-Report von 2006 hervorgehoben wird, müssen wir einen Teil unseres Wachstums heute opfern, um sicherzustellen, dass wir morgen nicht alle „verschmoren“.
Merkwürdigerweise ist das einzige Tabuthema in dieser Diskussion das Bevölkerungswachstum. Je weniger Menschen es gibt, desto geringer ist das Risiko, den Planeten zu überhitzen. Doch anstatt den natürlichen Rückgang ihrer Bevölkerung zu akzeptieren, nehmen die Regierungen reicher Länder immer mehr Menschen auf, um die Löhne niedrig zu halten und somit schneller zu wachsen.
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In jüngerer Zeit wurde die Frage nach den enttäuschenden Ergebnissen des Wachstums aufgeworfen. Es wird immer deutlicher, dass Wachstum unser Wohlbefinden nicht unbedingt steigert. Warum sollen wir also weiterwachsen?
Das Fundament für diese Frage wurde schon vor einiger Zeit gelegt. 1974 veröffentlichte der Wirtschaftswissenschaftler Richard Easterlin einen berühmten Aufsatz: „Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence“ (zu Deutsch etwa: „Verbessert Wirtschaftswachstum das Los der Menschheit? Einige empirische Beweise“). Nachdem er das Pro-Kopf-Einkommen und die selbst eingeschätzte Zufriedenheit in mehreren Ländern zueinander in Beziehung setzte, kam er zu einer erstaunlichen Schlussfolgerung: wahrscheinlich nicht.
Oberhalb eines eher niedrigen Einkommensniveaus (genug, um die Grundbedürfnisse zu befriedigen) fand Easterlin keine Korrelation zwischen Glück und BNE pro Kopf. Anders ausgedrückt: Das BNE eignet sich schlecht als Maß für die Lebenszufriedenheit.
Diese Erkenntnis verstärkte die Bemühungen, alternative Indizes zu entwickeln. 1972 stellten die beiden Wirtschaftswissenschaftler William Nordhaus und James Tobin ein Maß vor, das sie Net Economic Welfare nannten und das berechnet wird, indem man „schlechte“ Auswirkungen, wie Umweltverschmutzung, vom BNE abzieht und Aktivitäten außerhalb des Marktes, wie Freizeit, hinzurechnet. Sie zeigten, dass eine Gesellschaft mit mehr Freizeit und weniger Arbeit ebenso viel Wohlstand erreichen kann wie eine mit mehr Arbeit – und damit einem höheren BNE – und weniger Freizeit.
In letzter Zeit wurde versucht, eine größere Bandbreite an Indikatoren für „Lebensqualität“ in die Messwerte einfließen zu lassen. Das Problem ist, dass man die Quantität einer Sache messen kann, nicht aber die Lebensqualität. Wie man Quantität und Qualität zu einem Index der „Lebenszufriedenheit“ kombiniert, ist eher eine Frage der Moral als der Ökonomie, daher überrascht es nicht, dass die meisten Wirtschaftswissenschaftler bei ihren quantitativen Maßen für „Wohlstand“ bleiben.
Doch auch eine weitere Erkenntnis beeinflusst langsam die aktuelle Debatte über Wachstum: Die arme Bevölkerung eines Landes ist weniger glücklich als die reiche Bevölkerung. Mit anderen Worten wird der Grad an Zufriedenheit, sobald man ein geringes hinreichendes Auskommen hat, viel weniger vom absoluten Einkommen bestimmt als vom Einkommen im Verhältnis zu einer Referenzgruppe. Wir vergleichen unser Schicksal ständig mit dem der anderen und fühlen uns entweder überlegen oder unterlegen, egal wie hoch unser Einkommen ist; Wohlbefinden hängt stärker davon ab, wie die Früchte des Wachstums verteilt sind, als von ihrer absoluten Menge.
Anders ausgedrückt: Für die Lebenszufriedenheit ist nicht das Wachstum des Durchschnittseinkommens wichtig, sondern das des mittleren Einkommens – also das Einkommen einer typischen Person. Als Beispiel kann eine Gruppe von zehn Personen dienen (in einer Fabrik), in der der Geschäftsführer pro Jahr 150 000 Euro verdient und die anderen 9 Personen, allesamt Arbeiter, jeweils 10 000 Euro. Der Durchschnitt ihrer Einkommen beträgt 25 000 Euro, doch verdienen 90 % je 10 000 Euro. Bei dieser Art der Einkommensverteilung wäre es erstaunlich, wenn Wachstum das Wohlbefinden eines typischen Mitarbeiters steigern würde.
Das Beispiel ist nicht aus der Luft gegriffen. In den reichen Gesellschaften sind die Durchschnittseinkommen im Laufe der letzten drei Jahrzehnte stetig gestiegen, die typischen Einkommen dagegen stagnierten oder sind sogar gesunken. Mit anderen Worten hat eine Minderheit – eine sehr kleine Minderheit in Ländern wie den Vereinigten Staaten und Großbritannien – einen Großteil der Gewinne des Wachstums an sich gerissen. In solchen Fällen wollen wir nicht mehr Wachstum, sonder mehr Gleichheit.
Mehr Gleichheit würde nicht nur dazu führen, dass wir durch mehr Sicherheit und bessere Gesundheit zufriedener werden, sondern sie würde uns auch mehr Befriedigung verschaffen durch mehr Freizeit, mehr Zeit mit Familie und Freunden, mehr Respekt von Seiten der Mitmenschen und durch mehr Wahlmöglichkeiten, was den eigenen Lebensstil angeht. Große Ungleichheit lässt unser Verlangen nach Waren stärker werden, als es eigentlich wäre, da wir ständig daran erinnert werden, dass wir weniger haben als andere. Wir leben in einer aggressiven Gesellschaft mit Turbo-Vätern und „Tiger“-Müttern, die sich selbst und ihre Kinder ständig dazu antreiben „voranzukommen“.
Der Philosoph John Stuart Mill vertrat im neunzehnten Jahrhundert eine zivilisiertere Ansicht:
„Ich gebe zu, nicht entzückt zu sein vom Ideal des Lebens, das von jenen vertreten wird, die denken […], dass das Treten, Schubsen, Stoßen und Herumtrampeln auf den Füßen der anderen, die das derzeitige gesellschaftliche Leben bestimmen, das wünschenswerteste Los der Menschheit seien. […] Der beste Zustand für die menschliche Natur ist der, in dem niemand arm ist, niemand sich wünscht, reicher zu sein, und niemand Grund hat, sich zu fürchten, dass er durch die Bemühungen anderer, die nach vorn drängen, zurückgeworfen wird.“
Dies ist den meisten Wirtschaftswissenschaftlern heute nicht bewusst, dafür aber dem König von Bhutan – oder den vielen Menschen, die die Grenzen des messbaren Wohlstands erkannt haben.
Aus dem Englischen von Anke Püttmann