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Die größte Show auf Erden

NEW YORK; Die Demokratische Partei hat auf ihrem Parteitag in Chicago eine grandiose Show hingelegt. Es war alles dabei: glitzernde musikalische Darbietungen, mitreißende Reden, religiöse Hingabe, Tränenfluten, Hoffnungsversprechen, Momente der Freude, erhebender Patriotismus, Oprah Winfrey und viele, viele Luftballons. Fernsehkommentatoren ließen sich bewundernd über die Art und Weise aus, wie sich Vizepräsidentin Kamala Harris „präsentierte“: über ihr Lächeln, ihre Körpersprache, ihre Stimme, sogar ihre Kleiderwahl.

Politik, ob in Diktaturen oder Demokratien, ist immer mit der einen oder anderen Art von Zurschaustellung verbunden. In den USA allerdings ist Politik schon lange nicht mehr von Unterhaltung zu unterscheiden. Der bissige amerikanische Journalist H.L. Mencken, der Politiker verachtete und die meisten Amerikaner für ignorante Trottel hielt, war ein hervorragender Parteitagsbeobachter. Im Jahr 1927 schrieb er: „Die Vereinigten Staaten sind in meinen Augen die unvergleichlich größte Show auf Erden.“

Doch warum um alles auf der Welt müssen die Kandidaten eine solche Show der Liebe zu ihren Familien abziehen? Was haben all die Umarmungen und Küsse auf der Bühne mit Politik zu tun? Ist diese ostentative Zuwendung wirklich nötig, um die Wähler zu überzeugen? In Amerika scheint es so zu sein.

In den meisten Demokratien gründen die Menschen ihre Wahlentscheidung auf die Zugehörigkeit zu einer Partei und die von dieser vertretenen Interessen. Charisma spielt eine Rolle – selbst in Ländern wie Japan, wo es den meisten Politikern eklatant daran mangelt. Aber insgesamt sind asiatische und europäische Politiker nicht annähernd so eifrig bemüht oder so bereit wie die Amerikaner, sich der Öffentlichkeit als warmherzige und liebevolle Menschen zu verkaufen. Das ist etwas, was die Menschen traditionell von Königen und Königinnen erwarten, nicht von gewählten Politikern.

Seit König Georg III. („Farmer George“) im 18. Jahrhundert stellten sich britische Monarchen gern als gute, aufrechte Familienväter dar. Königin Elisabeth II. erlaubte der BBC, ihr häusliches Leben zu dokumentieren, von Grillabenden im Garten bis zum Tee mit den Kindern. Sie war der Meinung, dass sie als bodenständig präsentieren musste, um beliebt zu bleiben.

Die Amerikaner befreiten sich 1776 von der britischen Monarchie (Farmer George war ihr letzter König). Seitdem hat das Weiße Haus viel von dem Prunk und Gehabe eines königlichen Hofes angenommen, und zwar in einem Maße, das das anderer Demokratien bei weitem übertrifft – außer vielleicht in Frankreich, wo die Republik immer noch in königliche Pracht gekleidet ist.

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Um das US-Präsidentenamt mit all seinen quasi-monarchischen Insignien zu erlangen, müssen die Kandidaten, wie die britischen Royals, eine große Show abziehen, um als Mensch wie du und ich rüberzukommen, mit dem man ein Bier auf der Veranda trinken kann. Wer Präsident werden will, ist natürlich nicht wirklich wie wir, aber er muss so tun, als wäre er es.

Allerdings ist das sentimentale Getue amerikanischer Parteitage – die Umarmungen, Küsse und familiären Liebesbekundungen – auch bei anderen feierlichen Anlässen in Amerika auffällig. Ausländische Oscar-Preisträger zum Beispiel neigen dazu, ihre Dankesreden kurz und knackig zu halten. Nicht so die amerikanischen Stars; sie müssen sich unter Tränen von der Grundschullehrerin bis zum Hund bei allen bedanken und ihre tiefe Verbundenheit mit der Menschheit zum Ausdruck bringen.

Sentimentalität ist verpflanztes Gefühl – eine öffentliche Zurschaustellung von Liebe, Trauer, Hoffnung und Freude, und nicht das Echte, Wahre, das normalerweise privat bleibt. Die Politik ist, wie die Filmindustrie in Hollywood, tatsächlich ein von rücksichtslosem Wettbewerb geprägtes Geschäft, in dem private Gefühle – die eigenen und die anderer – oft ignoriert oder unterdrückt werden müssen, um voranzukommen.

Die Befriedigung des eigenen Ehrgeizes verlangt viel und kann liebende Ehepartner und Kinder leicht verletzen. Aber die Gefühle müssen irgendwo hin, irgendwie ausgedrückt werden. Daher all die Gefühlsduselei auf öffentlicher Bühne, in Hollywood und auf Parteitagen.

Auf dem Parteitag der Demokraten war viel davon die Rede, dass sich die Amerikaner „umeinander kümmern“, „ihre Nachbarn lieben“ und „den Armen und Ausgegrenzten helfen“. Auf viele Amerikaner mag diese Beschreibung zutreffen. Aber die USA sind eine weitaus wettbewerbsintensivere Gesellschaft – und haben ein dürftigeres Sicherheitsnetz – als die meisten anderen Demokratien. Wer Erfolg haben will, muss sich gut verkaufen können. Das gilt besonders für die Männer und Frauen, die sich gegenüber der Öffentlichkeit verkaufen müssen, wie Filmschauspieler oder Politiker. Sie sind Performer, die so tun als ob.

Das bedeutet per definitionem, etwas zu schaffen, das unecht ist. Und doch verlangt die Öffentlichkeit von Schauspielern und Politikern, dass sie echt wirken. Das ist der Grund, warum wir uns nach Klatsch und Tratsch über ihr Privatleben sehnen, je niederträchtiger, desto besser. Und zugleich – menschenfreundlicher –, warum wir gezeigt bekommen wollen, wie sehr Politiker ihren Mann oder ihre Frau verehren. Wir wollen, mit einem Wort, dass sie „authentisch“ sind.

Was wir also auf dem Parteitag und bei der Oscar-Verleihung, im Fernsehinterview und im Zeitschriftenprofil sehen, ist die Inszenierung von Authentizität. In den richtigen Händen, so wie in Chicago, kann dies tatsächlich wie die größte Show auf Erden aussehen.

Aus dem Englischen von Jan Doolan

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