urban farm rooftop BENJAMIN CREMEL/AFP/Getty Images

Die Städte sind der Schüssel für nachhaltige Lebensmittelversorgung

AUSTIN – Wenn man in der Stadt lebt, wird man zum Kannibalen. Zumindest ist dies eine Lieblingsmetapher von Jean-Jacques Rousseau, der die Städte für den Sündenpfuhl der menschlichen Verderbnis hielt. Von den schlimmen Folgen der Verstädterung war Rousseau so überzeugt, dass er „die Menschen lieber auf der Wiese grasen als sich in den Städten gegenseitig verschlingen“ sehen wollte. Die Verstädterung mache die Menschen gegenüber den Leiden der Landbevölkerung unempfindlich, und wenn sich Stadtbewohner zusammenrotten, verkümmere ihre Fähigkeit, Mitgefühl für andere zu entwickeln. Seiner Ansicht nach werden Städter zu Leuten, die bereit sind, sich gegenseitig zu opfern, um ihren Appetit zu stillen: also Kannibalen.

Rousseaus Angst, Städte würden ihre Bewohner dazu verleiten, auf Kosten anderer ihre eigenen Interessen zu verfolgen, ist heute immer noch genauso relevant wie im achtzehnten Jahrhundert. Und auf nichts trifft dies stärker zu als auf das Nahrungssystem.

Seit es Städte gibt, gibt es auch schon Strategien, um sie zu ernähren. Im Vereinigten Königreich gab es während der Industriellen Revolution die Kleingartenbewegung, die der armen und arbeitenden Bevölkerung Land zur Verfügung stellte, um dort Obst und Gemüse anbauen zu können. Bis heute sind diese stadtnahen Gärten für die britischen Städter eine beliebte Versorgungsmöglichkeit. Etwa 350.000 haben bereits einen Kleingarten, und weitere 800.000 hätten gern einen.

Im aller Welt erkennen die Städte die Bedeutung der urbanen Landwirtschaft und insbesondere der städtischen Agrarökologie, die zum Aufbau der Bodenqualität, zur Steigerung der Erträge und zur Optimierung der Bewässerung keine chemischen Mittel verwendet, sondern auf biologische Diversität setzt. Solche Konzepte wurden bereits in Ballungsräumen von Rom bis São Paolo eingeführt, um Gesundheitskrisen, Klimawandel und die Armut zu bekämpfen.

Aber wenn wir noch nie von dieser Art von Landbewirtschaftung gehört haben, kann uns Rousseau erklären, warum das so ist: Sie bedroht den Reichtum der städtischen Eliten.

Rousseau hat vorausgesehen, wo und wie die Demokratie untergraben wird: „Städte sind schädlich, aber noch schädlicher sind Hauptstädte“, schrieb er. „Eine Hauptstadt ist ein Abgrund, in den sich fast die gesamte Nation stürzt, um ihre Moral, ihre Gesetze, ihren Mut und ihre Freiheit zu verlieren.“ Was die Ernährung angeht, sind die Hauptstädte heute der Ort, wo Geld dafür ausgegeben wird, die Lokalregierungen davon abzuhalten, ihre Bürger zu schützen.

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Nehmen wir die Lobbykampagne der Lebensmittelindustrie im Wahlkampf der jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten: Im Bundesstaat Washington State gaben Coca-Cola, PepsiCo und Keurig Dr Pepper über 20 Millionen Dollar aus, um die Städte daran zu hindern, die Steuern für Supermärkte zu erhöhen – darunter auch Steuern auf mit Zucker gesüßte Getränke, die bekanntlich das Risiko von Erkrankungen an Typ-2-Diabetes erhöhen. Die Lobbyarbeit war erfolgreich, und auch wenn die bestehende Getränkesteuer von Seattle davon ausgenommen wurde, werden die anderen Städte nicht folgen können. Um die Kassenzettel klein und die Gewinne der Industrie hoch zu halten, wurden die Bürger von Washington davon überzeugt, sich gegenseitig zu opfern.

Und damit sind sie nicht allein. In den letzten zehn Jahren haben zwölf amerikanische Bundesstaaten Gesetze verabschiedet, um die Kommunen davon abzuhalten, das Gesundheitsrisiko durch Fertigprodukte zu entschärfen. Und in mindestens 26 Staaten sind die Lebensmittelkonzerne gesetzlich vor Gerichtsverfahren geschützt, bei denen es um ernährungsbedingte Krankheiten geht. Zwar erkennen einige Politiker, dass die Lebensmittelindustrie die Taktik der Tabakkonzerne kopiert, aber Rousseau hat auch noch einen umfassenderen Trend vorhergesehen: Der städtische Reichtum lässt sich nicht mit öffentlicher Freiheit in Einklang bringen.

In den 1760er Jahren, als die Korsen Rousseau bei der Niederschrift ihrer Verfassung um Rat fragten, riet er ihnen, sie sollten Landarbeiter bleiben. „Ein Volk von Landarbeitern sollte niemals den Luxus der Städte begehren und die Faulpelze beneiden, die dort leben“, mahnte er. „Kommerz produziert Reichtum, aber die Landwirtschaft sichert die Freiheit. Man könnte meinen, es sei besser, beides auf einmal zu haben, aber in Wirklichkeit sind sie nicht miteinander vereinbar.“

Natürlich ist Rousseau unbeugsame Stadtfeindlichkeit nicht mehr zeitgemäß. Ein Grund, warum die moderne Lebensmittelindustrie ihre Produkte so aggressiv vermarktet, ist der, dass die Städte zu Brutstätten progressiver Veränderungen geworden sind. Mehr als die Präsidenten erkennen die Bürgermeister, dass die Einführung eines gesunden Nahrungsversorgungssystems bedeutet, ein ungesundes abzuschaffen. Tatsächlich schließen sich immer mehr städtische Regierungen Initiativen wie dem Milan Urban Food Policy Pact an, die neue, nachhaltige Ansätze zum Kampf gegen Hunger und Umweltverschmutzung fördern.

Aber in anderer Hinsicht hat Rousseau immer noch recht: Um etwas zu erreichen, benötigen wir politische Rahmenbedingungen, und das größte Hindernis für die Ernährung der Städte von morgen liegt in den Problemen, die durch die Konzentration von Reichtum entstehen. Städtischer und ländlicher Hunger sind das Ergebnis von Armut, und Armut ist eine Folge moderner Ernährungssysteme. In den USA sind 70% der am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze in der Lebensmittelindustrie angesiedelt, und die entsprechenden Unternehmen machen Rekordgewinne.

Um die Städte zu ernähren, reicht es nicht, das Land zu bearbeiten. Ebenso müssen wir Rousseau sozialen „Kannibalismus“ abschaffen. Dies bedeutet, uns mit denjenigen solidarisch zu erklären, die unter dem heutigen Nahrungsmittelsystem am stärksten leiden. Wollen wir wirklich etwas verändern, müssen uns zusammentun und uns gemeinsam über die wachsende Anzahl unter- und mangelernährter Menschen empören.

Aus dem Englischen von Harald Eckhoff

https://prosyn.org/7Yh8kKcde