06bf4f0346f86fc404828001_ms7911c.jpg Margaret Scott

Ein Marshall-Plan für die arabische Welt

ROM: Die bedeutende Rede des amerikanischen Präsidenten Barack Obama über die Konsequenzen des Arabischen Frühlings stellt auch Europa vor eine Herausforderung. Nur wenn sich die transatlantische Partnerschaft als effektiv erweist, so wie als es darum ging, den Anforderungen des Kalten Krieges und der Überwindung der europäischen Teilung zu begegnen, kann der Westen dazu beitragen, dass die durch die arabischen Aufstandsbewegungen geweckten Hoffnungen Realität werden.

Die Krise in Europas südlicher Nachbarschaft spiegelt einen tiefgreifenden Prozess des Wandels wider, der anhaltende Folgen haben wird – für die Region, Europa und die Welt als Ganze. Die Mittelmeerregion ist für den Frieden, die Stabilität und das Wirtschaftswachstum Europas von zentraler Bedeutung. Unsere außereuropäischen Nachbarn im Mittelmeerraum betrachten Europa als ihren natürlichen Partner. Und was in diesen Ländern passiert, einschließlich des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses, hat eine Breitenwirkung, die natürlich die enge Beteiligung weltweiter Partner bedingt – an erster Stelle der USA.

Die jüngsten Ereignisse nicht nur in Libyen, sondern auch in Tunesien, Ägypten, Syrien, dem Jemen und Bahrain spiegeln die politische Komplexität dieser Länder wider. Sie sind zugleich das Ergebnis verschiedener Faktoren wie der Frustration über steigende Lebensmittelpreise und weit verbreitete Korruption, verbunden mit Forderungen nach größerer Demokratisierung, der Reduzierung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit und der Schaffung von Arbeitsplätzen.

Europas Antwort auf diesen Prozess muss das Ziel eines geordneten und raschen Wandels innewohnen. Vorschläge für eine „Partnerschaft für den Wandel“, die auf politischen Reformen und der uneingeschränkten Achtung der Menschenrechte und grundlegenden Freiheiten beruht, sollten berücksichtigen, dass die politische Landschaft der Region in den kommenden Monaten mit Sicherheit angespannt und unberechenbar bleiben dürfte.

Nicht überraschend hat daher die regionale Stabilität für die Europäer eine hohe Priorität. Chaos, ein Wiedererstarken des Terrorismus, der Aufstieg des radikalen Islamismus und massive Immigrationswellen in Richtung Europa sind nur einige der potenziellen Gefahren für die Europäische Union, über die derzeit nachgedacht wird. Die EU sollte vor diesem Hintergrund ihr Möglichstes tun, um jede Verschlechterung der Sicherheitslage innerhalb der Region zu verhindern.

Nach 1945 wurde mit einem Paket von Finanzhilfen, dem Marshall-Plan, das Ziel verfolgt, die Volkswirtschaften Westeuropa wieder aufzubauen und neu zu beleben, um demokratischen Wandel und politische Stabilität zu unterstützen. Heute stehen die Länder des Arabischen Frühlings vor ähnlichen Herausforderungen und Notwendigkeiten. Wir müssen Länder wie Ägypten und Tunesien – und möglicherweise ein friedliches Libyen – in die Lage versetzen, ihre politische Stabilität durch Demokratisierung zu stärken.

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Der Marshall-Plan ging mit Partnerschaften zum Wiederaufbau einher, in denen die USA und die europäischen Empfängerländer gleichberechtigt waren. Das Ziel bestand darin, zur Schaffung eines dauerhaften Friedens die gegenseitige Zusammenarbeit zu stärken. Im Mittelmeerraum ist die Situation weiter fortgeschritten: Die breiten Linien einer Partnerschaft existieren bereits; was jetzt erforderlich ist, ist eine Stärkung der Integration Europas mit seinen südlichen Nachbarn.

Dies ist der Grund, warum Italien einen neuen „EU-Mittelmeerplan“ vorgeschlagen hat, der darauf abzielt, den Prozess des Wandels zu unterstützen und der Region aufbauend auf bestehenden institutionellen und finanziellen Hilfsmitteln zusätzliche Ressourcen zur Verfügung zu stellen. Die vom französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy 2008 ins Leben gerufene Union für das Mittelmeer muss wiederbelebt werden und eine neue Ausrichtung hin zu Entwicklungsprojekten erhalten, die von Schnellstraßen und Häfen bis hin zur Förderung kleiner und mittlerer Unternehmen (KMUs) reichen.

Zugleich jedoch bedarf es einer breiter angelegten Wirtschaftsinitiative zur Mobilisierung einer kritischen Masse an europäischen und internationalen Finanzressourcen, um Investitionen in die Region zu locken und ihre Infrastruktur und Dienstleistungen zu modernisieren. Wir sollten gemeinsam mit den USA die Handels- und Wirtschaftsbarrieren niederreißen, die diesen Volkswirtschaften die Luft abdrücken. Und wir sollten einigen Mittelmeerstaaten den Assoziierungsstatus gewähren, der ihnen eine schrittweise Integration mit dem EU-Binnenmarkt und die Teilnahme an EU-Programmen ermöglicht.

Um all dies zu erreichen, bedarf es einer Reihe klarer Prinzipien. Wir Europäer müssen Stabilität begünstigen, einen echten Geist gemeinsamer Zuständigkeit erzeugen und politische Verantwortung fördern.In diesem neuen Rahmen sollte die EU eine überzogene Konditionalität vermeiden, insbesondere in der Phase des Wandels.

Europas starke Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung der Region muss oberste Priorität bleiben, während die arabischen Länder die notwendigen Reformen einleiten. Darüber hinaus sollte eine spezielle Finanzorganisation gegründet werden, um bei dieser Aufgabe zu helfen. Ein erwägenswerter Vorschlag ist die Aufwertung und Stärkung der FEMIP (Fazilität Europa-Mittelmeer für Investition und Partnerschaft) der Europäischen Investitionsbank, die so zu einer autonomen Einrichtung – vieleicht mit Sitz im Nahen Osten oder in Nordafrika – werden würde, deren Anteile von den Regierungen (oder anderen Institutionen) der Region und anderen hierzu bereiten Parteien gehalten würden.

Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung in London könnte diesem Unterfangen beitreten, indem sie ihre Aktivitäten auf die Region ausweitet. Dies könnte mit dem Aufbau spezieller Dienste zur Förderung arbeitsplatzschaffender Unternehmen gekoppelt werden. Die EBWE hat einen wichtigen Beitrag zum Prozess des wirtschaftlichen Wandels in Osteuropa geleistet, und viel spricht dafür, ihre Erfahrung und Kompetenz zu nutzen, um dem südlichen Mittelmeer zu helfen.

Zugleich muss die EU einen „Dialog unter Gleichen“ in Politik- und Sicherheitsfragen einleiten, der darauf abzielt, regionsübergreifend Vertrauen zu schaffen. Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit im Mittelmeer und Nahen Osten (KSZM) könnte schnell zu einem nützlichen Instrument zur Förderung dieses umfassenden Ansatzes in Bezug auf Sicherheit und Entwicklung werden. Kurz gesagt: Wir müssen die Mittelmeerländer in Produzenten statt in Konsumenten regionaler Stabilität verwandeln.

Wir Europäer können es uns nicht leisten, unsere arabischen Freunde an den jenseitigen Küsten unseres gemeinsamen Meeres im Stich zu lassen. Sie sind Teil unserer gemeinsamen Geschichte, und sie verdienen jene bessere Zukunft, die zu errichten wir ihnen helfen können.

https://prosyn.org/KtJlS9Pde