NEW HAVEN – Der Begriff Völkermord bezeichnet den erwiesenen Versuch, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe „ganz oder teilweise“ zu vernichten und all ihre kulturellen und physischen Spuren auszulöschen. Dieses Ziel wird durch Methoden verfolgt, zu denen Massenmord, Vergewaltigungen, Entführungen und Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen gehören. Während Kinder umerzogen werden können, um eine völlig neue Identität anzunehmen, wird ihre alte Kultur dabei systematisch aus Büchern und anderen Medien getilgt. Ziel ist es, zu bestreiten, dass ihre Vorfahren je existiert haben.
Natürlich trauern wir beim Gedanken an Völkermord um die Opfer. Über die unbeschreibliche körperliche Gewalt hinaus ist die Auslöschung von Identitäten – die komplette Völker dem Bereich des Mythos überantwortet – zutiefst tragisch. Doch vollständig begreifen lässt sich das Phänomen nur, wenn man es auch aus der Perspektive der Täter betrachtet. Völkermord hat in der Nationalgeschichte vieler Völker eine wichtige Rolle gespielt. Und manchmal ist er das Ergebnis der bewussten und willentlichen Entscheidung eines Volkes, seine Identität – und den Wesenskern der eigenen Nation– über die Ausrottung einer anderen Gruppe zu definieren.
Ich möchte hier einigen der schlimmsten Völkermörder einen empathischen Spiegel vorhalten. Ich möchte über die bleibenden Schäden sprechen, die an dem Gefühl der Volkszugehörigkeit – dem Gemeinschaftsgefühl und der Gruppenidentität – derjenigen angerichtet werden, die Völkermord konkret als Ausdruck ihrer eigenen Nationalität begehen. Ich möchte mich auf den besonderen Status eines derartigen Erbes konzentrieren.
Aus Blut geboren
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Deutschland eines der angesehensten Zentren der Kultur und Zivilisation weltweit. Es brachte einige der größten Denker hervor, die sich je mit der Bedeutung des Menschseins auseinandersetzten: Kant, Goethe, Hegel, Schelling, Einstein, um nur einige zu nennen. So viele Geistesgrößen aus diesem mittelgroßen Land haben uns eine Vision einer besseren Welt hinterlassen.
Meine Großeltern und mein Vater waren Deutsche. Sie empfanden eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem Vaterland und tiefen Stolz auf seine Größe. Doch dann wurde ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen und sie wurden vertrieben, weil sie das Verbrechen begangen hatten, Juden zu sein. Einige Deutsche hatten entschieden, dass die deutsche nationale Identität nur zu begreifen sei, wenn man sie von der Identität meines Volkes, der Juden, abgrenzte und zu dieser in Gegensatz stellte. Mit dem Aufstieg Adolf Hitlers kam Deutschland zu dem Schluss, dass die Tötung von Juden konstituierend sei für die deutsche Identität.
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In meinem eigenen Land, den USA, wurde ein Völkermord an den indigenen Völkern begangen, und dies wird Amerikas Erbe auf ewig beflecken, egal, wie sehr die extreme Rechte versucht, das historische Geschehen abzuleugnen oder schönzureden. Doch treffen nur wenige Länder eine bewusste Entscheidung, ihre nationale Identität auf die aktive Beteiligung am Völkermord zu gründen. Ein Land, das diesen Weg einschlägt, erwirbt sich einen dauerhaften Platz in den Annalen des Schreckens. Deutschland war nicht das erste.
Die Konföderierten Staaten von Amerika etwa gründeten ihre nationale Identität auf die Praxis der Sklaverei. In seiner berüchtigten „Grundstein-Rede“ erklärte Alexander Stephens, der Vizepräsident der Konföderierten: Die „Fundamente [unserer Regierung] sind gelegt; ihr Grundstein beruht auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht ebenbürtig ist, dass Sklaverei – die Unterordnung unter die überlegene Rasse – sein natürlicher und normaler Zustand ist. Diese, unsere neue, Regierung ist die erste in der Geschichte der Welt, die auf dieser großen physischen, philosophischen und moralischen Wahrheit beruht.“
Stephens machte deutlich, dass das wesentliche Merkmal eines Konföderierten die begeisterte Unterstützung der Besitzsklaverei sei, und zwar nicht als notwendiges Übel, sondern als ein positives Gut. Die konföderierte Identität ist daher von ihrem Kern her schändlich, was mit erklärt, warum sich heute nur sehr wenige als Konföderierte identifizieren. Die mit ihrem Wesenskern verknüpfte Schande macht diesen als politische Position unbrauchbar.
Im Falle Deutschlands liegt die Sache anders. Fast kein Deutscher will heute als Arier leben, denn das wäre so, als lebte man als Konföderierter. Aber die Deutschen leben noch immer als Deutsche und halten damit am Erbe ihrer Vorfahren fest, die ihre deutsche Identität über den Akt des Völkermordes zum Ausdruck brachten. Indem sie weiterhin als Deutsche leben – mit allem, was dazugehört –, tragen sie eine immense Last. Wenn Deutsche diese Last achselzuckend abtun oder sich weigern, weiter mit ihr zu leben, bestätigen sie damit das tiefe, begründete historische Misstrauen gegenüber ihrem Land.
Die Nazipropaganda überzeugte die Deutschen, dass Deutschsein bedeutete, die Juden vom Angesicht der Erde zu tilgen. Die Deutschen übernahmen daher ein Verständnis deutscher Identität, das unlöslich mit den Juden verbunden war, die als Todfeind definiert wurden. Die heutigen Deutschen wissen in ihren Herzen, dass ihre nationale Identität durch eine von ihren Vorfahren getroffene welthistorische Entscheidung unwiderruflich verändert wurde.
Selbst viele Jahrzehnte nach den Verbrechen der Nazis empfinden viele Deutsche ein Gefühl der Scham wegen ihres Deutschseins. Wenn Deutsche mich treffen, kann es vorkommen, dass sie ein Gefühl der Befangenheit empfinden, und sie tun häufig so, als wäre es ihnen gleichgültig oder nicht bewusst, dass ihre Großeltern ihr Deutschtum über einen mörderischen Hass auf meine Großeltern definierten. Deutschland ist durch diese vergangene bewusste Entscheidung, sich ausdrücklich und mit Stolz als das Volk zu identifizieren, das das europäische Judentum ausrottete, definiert und wird es immer bleiben. Geschichte und Moral verlangen ein derartiges ewiges Gedenken.
Rationalisierung des Irrationalen
Was kann ein Volk dazu bringen, seine nationale Identität an den ausdrücklichen Völkermord an einem anderen Volk zu knüpfen? Die Rhetorik des Völkermordes wählt hierzu per definitionem eine konkrete Gruppe aus und rechtfertigt ihre Ausrottung. Eine „antagonistische ideologische soziale Gruppe“ ist eine, die sich selbst über eine stark negative kollektive Reaktion auf eine andere Gruppe definiert. Genozidale Äußerungen bringen die extremste Art antagonistischer ideologischer sozialer Gruppe hervor und nähren diese negative emotionale geistige Einstellung auf spezielle Weise. Durch Verbreitung falscher historischer Narrative definieren sie das Wesen der ins Visier genommenen Gruppe als existentielle Bedrohung. Eine „genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe“ ist daher eine, deren Identität auf der Vorstellung beruht, dass ihre eigene Existenz durch die einer anderen Gruppe gefährdet ist.
Die Rechtfertigung eines begeisterten, offenen Völkermords ist ein komplizierter Prozess, und diese hochabstrakten Konzepte sind für ihr Verständnis zentral. Aber Beispiele können das Abstrakte konkretisieren. Am 3. April 2022 veröffentliche die staatliche russische Presseagentur RIA Nowosti einen Artikel mit dem Titel „Was sollte Russland mit der Ukraine tun?“ Der Historiker Timothy Snyder hat diesen Text zutreffend als „Russlands Handbuch für den Völkermord“ beschrieben und angemerkt, es handele sich dabei um „eines der unverhohlensten mir jemals untergekommenen genozidalen Dokumente“. Snyder ist einer der führenden Historiker des Massenmordes, und seine Einschätzung hat daher Gewicht. Sie zeigt, dass wir es mit einem der eindeutigsten je geschriebenen Aufrufe zum Völkermord zu tun haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat seinen Krieg in der Ukraine von Anfang an als „Denazifizierungskampagne“ beschrieben. Der RIA-Artikel konkretisiert diese Rechtfertigung in verstörenden Einzelheiten. Nachdem er die Ukraine als „den Feind Russlands und vom Westen zur Zerstörung Russlands genutztes Werkzeug“ beschrieben hat, entwickelt er eine komplexe Argumentation, um diese Behauptung zu stützen.
Den Lesern wird erzählt, dass der Westen seine traditionellen europäischen Werte zugunsten eines „westlichen Totalitarismus, den aufgezwungenen Programmen zivilisatorischer Zersetzung und Auflösung, den Mechanismen der Unterwerfung unter die Supermacht des Westens und der Vereinigten Staaten“ aufgegeben habe. Russland ist von dieser Warte aus „die letzte Autorität beim Schutz und der Bewahrung jener Werte des historischen Europas (der Alten Welt), die es verdienen, bewahrt zu werden und die der Westen letztlich aufgegeben hat, womit er den Kampf um sich selbst verloren hat“.
In einer Rede des Jahres 1935 mit dem Titel „Kommunismus ohne Maske“ beschreibt Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels die vom Bolschewismus ausgehende Bedrohung in ähnlicher Weise, nur dass hier die Juden das Ziel sind. „In seiner letzten Konsequenz“, warnte er, „bedeutet er die Zerstörung aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leistungen Westeuropas zugunsten einer wurzellosen und nomadischen internationalen Kabale, die ihre Verkörperung im Judentum gefunden hat“. Genau wie Goebbels die Nazis als Beschützer der traditionellen Werte des Westens vor einer kosmopolitischen, dekadenten Ideologie darstellte, propagiert die jetzige russische Führung ihre Vision einer zeitlosen und unzerstörbaren Russkiy Mir.
Russlands neue Identität
„Was sollte Russland mit der Ukraine tun?“ enthält eine pseudohistorische Litanei der massiven Ungerechtigkeiten, die Russland von der Hand des Westens widerfahren seien. „Russland hat alles getan, was möglich war, um den Westen zu retten“, heißt es dort, aber „der Westen entschloss sich, Rache an Russland zu nehmen für die Hilfe, die dieses in selbstloser Weise geleistet hatte“. In dieser Darstellung ist die Ukraine das primäre Werkzeug westlicher Heimtücke, und die Identifizierung des Landes als unabhängige Nation spiegelt den Aufstieg eines „Ukronazismus“ wider.
Dies, so erklärt man uns, sei eine besonders schlimme Version des Nazismus: „Der Ukronazismus stellt eine viel größere Bedrohung für die Welt und für Russland dar als die Hitler-Version des deutschen Nazismus.“ Die ukrainische Identität sei ein „antirussisches Konstrukt ohne eigene zivilisatorische Substanz“. Ihr zentrales Merkmal – der Wesenskern der ukrainischen Nation – sei ihre Feindseligkeit gegenüber Russland. Daher „hat die Geschichte bewiesen, dass die Ukraine, anders etwa als Georgien oder der Baltischen Staaten, unmöglich als Nationalstaat existieren kann, und dass alle Versuche zur ‚Errichtung‘ eines derartigen Nationalstaates naturgemäß zum Nazismus führen“.
Das Dokument beschreibt dann all die Praktiken, aus denen die „Denazifizierung“ der Ukraine besteht. Dazu gehören „Massenermittlungen“, um die persönliche Verantwortung für die „Verbreitung der Naziideologie“ (ukrainische Souveränität) und die „Unterstützung des Naziregimes“ (der ordnungsgemäß gewählten ukrainischen Regierung und ihrer ernannten Vertreter) zu ermitteln. Die Strafen für diese Verfehlungen umfassen Zwangsarbeit, Inhaftierung und Tod. Die Denazifizierung erfordere zudem „die Beschlagnahmung von Bildungsmaterialien und das Verbot, auf allen Ebenen, von Bildungsprogrammen, die naziideologische Leitlinien enthalten“ (alles, was die ukrainische Identität erwähnt).
Mit seinem Fokus auf Russlands historische Rolle gegenüber dem Westen bietet das Dokument eine neue Konzeptualisierung russischer Identität an. Insbesondere definiert es die Russen als genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe. Russe zu sein bedeutet hier ein Bekenntnis zur völligen Vernichtung der Ukraine und des ukrainischen Volkes. Die „Denazifizierung“ der Ukraine ist dabei der reinste Ausdruck russischer Identität. Gemäß dieser Logik zeigt sich die russische Identität am besten in brutalen und gewalttätigen Racheakten.
Die Rechtfertigung der russischen Handlungen in der Ukraine erfordert es, zu ändern, was es bedeutet, Russe zu sein, indem man den Völkermord in die nationale Identität einmeißelt. Russe zu sein bedeutet, die Auslöschung der Ukraine zu bejubeln. Die Kosten dieser Umdeutung werden von allen zu tragen sein, die sich selbst als Russen betrachten – und zwar für immer.
Ein entsetzliches Erbe
Wie mein Vater liebe ich das Heimatland meiner Vorfahren, Deutschland, das mir und meinen Kindern kürzlich die Staatsbürgerschaft zurückgegeben hat. Ich liebe seine Philosophie, Literatur und gegenwärtige Rolle als Fürsprecher des Friedens in der Welt. Trotzdem ist mein erster Gedanke, wenn ich einen anderen Deutschen treffe, dass seine Großeltern meine Ermordung und die meiner Familie höchstwahrscheinlich begeistert unterstützt hätten. Mein erster Gedanke ist, dass Deutschland sich wissentlich entschied, eine genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe zu werden und sich als das Volk zu definieren, dass endlich die Juden ausrotten würde.
Sie haben es nicht komplett geschafft. Aber sie ermordeten acht meiner Großtanten und Großonkeln und alle ihre Kinder. Die vergasten meine Urgroßmutter in einem Konzentrationslager, und sie schlugen meinen sechsjährigen Vater in den Straßen Berlins zu Hackfleisch. Die Großeltern und Urgroßeltern meiner deutschen Mitbürger hatten entschieden, dass man das als Deutscher so macht.
Ich weiß, dass die heutigen Deutschen diesen Teil ihrer Geschichte vergessen möchten und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen möchten. Die Deutschen haben sich ihr Deutschsein erhalten und zugleich tapfer die Konzeption, die ihre Großeltern davon hatten, aufgehoben. Doch zeigen sich in ihren Augen noch immer Furcht und Scham, wann immer sie versuchen, das Gespräch vom dunklen Erbe ihres Landes weg zu lenken. Und das wird immer so bleiben, weil Völkermord nie vergessen wird und nie vergessen werden kann.
Wenn sich Russlands Völkermord in der Ukraine fortsetzt und die Umdeutung des Russischseins Erfolg hat, werden Verweise auf die russische Identität auf alle Zeit nicht Puschkin oder Tolstoy heraufbeschwören, sondern die begeisterte Ausrottung eines ganzen Volkes. Die Toten und die Gräueltaten, die wir bereits in Butscha und anderswo gesehen haben, werden der letztliche Ausdruck russischer Identität werden. Das ist die Entscheidung – eine an ein schreckliches Erbe geknüpfte Identität –, die die heutigen Russen für ihre Nachkommen treffen.
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Anders Åslund
considers what the US presidential election will mean for Ukraine, says that only a humiliating loss in the war could threaten Vladimir Putin’s position, urges the EU to take additional steps to ensure a rapid and successful Ukrainian accession, and more.
From the economy to foreign policy to democratic institutions, the two US presidential candidates, Kamala Harris and Donald Trump, promise to pursue radically different agendas, reflecting sharply diverging visions for the United States and the world. Why is the race so nail-bitingly close, and how might the outcome change America?
NEW HAVEN – Der Begriff Völkermord bezeichnet den erwiesenen Versuch, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe „ganz oder teilweise“ zu vernichten und all ihre kulturellen und physischen Spuren auszulöschen. Dieses Ziel wird durch Methoden verfolgt, zu denen Massenmord, Vergewaltigungen, Entführungen und Zwangsabtreibungen und -sterilisierungen gehören. Während Kinder umerzogen werden können, um eine völlig neue Identität anzunehmen, wird ihre alte Kultur dabei systematisch aus Büchern und anderen Medien getilgt. Ziel ist es, zu bestreiten, dass ihre Vorfahren je existiert haben.
Natürlich trauern wir beim Gedanken an Völkermord um die Opfer. Über die unbeschreibliche körperliche Gewalt hinaus ist die Auslöschung von Identitäten – die komplette Völker dem Bereich des Mythos überantwortet – zutiefst tragisch. Doch vollständig begreifen lässt sich das Phänomen nur, wenn man es auch aus der Perspektive der Täter betrachtet. Völkermord hat in der Nationalgeschichte vieler Völker eine wichtige Rolle gespielt. Und manchmal ist er das Ergebnis der bewussten und willentlichen Entscheidung eines Volkes, seine Identität – und den Wesenskern der eigenen Nation– über die Ausrottung einer anderen Gruppe zu definieren.
Ich möchte hier einigen der schlimmsten Völkermörder einen empathischen Spiegel vorhalten. Ich möchte über die bleibenden Schäden sprechen, die an dem Gefühl der Volkszugehörigkeit – dem Gemeinschaftsgefühl und der Gruppenidentität – derjenigen angerichtet werden, die Völkermord konkret als Ausdruck ihrer eigenen Nationalität begehen. Ich möchte mich auf den besonderen Status eines derartigen Erbes konzentrieren.
Aus Blut geboren
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert war Deutschland eines der angesehensten Zentren der Kultur und Zivilisation weltweit. Es brachte einige der größten Denker hervor, die sich je mit der Bedeutung des Menschseins auseinandersetzten: Kant, Goethe, Hegel, Schelling, Einstein, um nur einige zu nennen. So viele Geistesgrößen aus diesem mittelgroßen Land haben uns eine Vision einer besseren Welt hinterlassen.
Meine Großeltern und mein Vater waren Deutsche. Sie empfanden eine leidenschaftliche Liebe zu ihrem Vaterland und tiefen Stolz auf seine Größe. Doch dann wurde ihnen die Staatsbürgerschaft entzogen und sie wurden vertrieben, weil sie das Verbrechen begangen hatten, Juden zu sein. Einige Deutsche hatten entschieden, dass die deutsche nationale Identität nur zu begreifen sei, wenn man sie von der Identität meines Volkes, der Juden, abgrenzte und zu dieser in Gegensatz stellte. Mit dem Aufstieg Adolf Hitlers kam Deutschland zu dem Schluss, dass die Tötung von Juden konstituierend sei für die deutsche Identität.
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In meinem eigenen Land, den USA, wurde ein Völkermord an den indigenen Völkern begangen, und dies wird Amerikas Erbe auf ewig beflecken, egal, wie sehr die extreme Rechte versucht, das historische Geschehen abzuleugnen oder schönzureden. Doch treffen nur wenige Länder eine bewusste Entscheidung, ihre nationale Identität auf die aktive Beteiligung am Völkermord zu gründen. Ein Land, das diesen Weg einschlägt, erwirbt sich einen dauerhaften Platz in den Annalen des Schreckens. Deutschland war nicht das erste.
Die Konföderierten Staaten von Amerika etwa gründeten ihre nationale Identität auf die Praxis der Sklaverei. In seiner berüchtigten „Grundstein-Rede“ erklärte Alexander Stephens, der Vizepräsident der Konföderierten: Die „Fundamente [unserer Regierung] sind gelegt; ihr Grundstein beruht auf der großen Wahrheit, dass der Neger dem weißen Mann nicht ebenbürtig ist, dass Sklaverei – die Unterordnung unter die überlegene Rasse – sein natürlicher und normaler Zustand ist. Diese, unsere neue, Regierung ist die erste in der Geschichte der Welt, die auf dieser großen physischen, philosophischen und moralischen Wahrheit beruht.“
Stephens machte deutlich, dass das wesentliche Merkmal eines Konföderierten die begeisterte Unterstützung der Besitzsklaverei sei, und zwar nicht als notwendiges Übel, sondern als ein positives Gut. Die konföderierte Identität ist daher von ihrem Kern her schändlich, was mit erklärt, warum sich heute nur sehr wenige als Konföderierte identifizieren. Die mit ihrem Wesenskern verknüpfte Schande macht diesen als politische Position unbrauchbar.
Im Falle Deutschlands liegt die Sache anders. Fast kein Deutscher will heute als Arier leben, denn das wäre so, als lebte man als Konföderierter. Aber die Deutschen leben noch immer als Deutsche und halten damit am Erbe ihrer Vorfahren fest, die ihre deutsche Identität über den Akt des Völkermordes zum Ausdruck brachten. Indem sie weiterhin als Deutsche leben – mit allem, was dazugehört –, tragen sie eine immense Last. Wenn Deutsche diese Last achselzuckend abtun oder sich weigern, weiter mit ihr zu leben, bestätigen sie damit das tiefe, begründete historische Misstrauen gegenüber ihrem Land.
Die Nazipropaganda überzeugte die Deutschen, dass Deutschsein bedeutete, die Juden vom Angesicht der Erde zu tilgen. Die Deutschen übernahmen daher ein Verständnis deutscher Identität, das unlöslich mit den Juden verbunden war, die als Todfeind definiert wurden. Die heutigen Deutschen wissen in ihren Herzen, dass ihre nationale Identität durch eine von ihren Vorfahren getroffene welthistorische Entscheidung unwiderruflich verändert wurde.
Selbst viele Jahrzehnte nach den Verbrechen der Nazis empfinden viele Deutsche ein Gefühl der Scham wegen ihres Deutschseins. Wenn Deutsche mich treffen, kann es vorkommen, dass sie ein Gefühl der Befangenheit empfinden, und sie tun häufig so, als wäre es ihnen gleichgültig oder nicht bewusst, dass ihre Großeltern ihr Deutschtum über einen mörderischen Hass auf meine Großeltern definierten. Deutschland ist durch diese vergangene bewusste Entscheidung, sich ausdrücklich und mit Stolz als das Volk zu identifizieren, das das europäische Judentum ausrottete, definiert und wird es immer bleiben. Geschichte und Moral verlangen ein derartiges ewiges Gedenken.
Rationalisierung des Irrationalen
Was kann ein Volk dazu bringen, seine nationale Identität an den ausdrücklichen Völkermord an einem anderen Volk zu knüpfen? Die Rhetorik des Völkermordes wählt hierzu per definitionem eine konkrete Gruppe aus und rechtfertigt ihre Ausrottung. Eine „antagonistische ideologische soziale Gruppe“ ist eine, die sich selbst über eine stark negative kollektive Reaktion auf eine andere Gruppe definiert. Genozidale Äußerungen bringen die extremste Art antagonistischer ideologischer sozialer Gruppe hervor und nähren diese negative emotionale geistige Einstellung auf spezielle Weise. Durch Verbreitung falscher historischer Narrative definieren sie das Wesen der ins Visier genommenen Gruppe als existentielle Bedrohung. Eine „genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe“ ist daher eine, deren Identität auf der Vorstellung beruht, dass ihre eigene Existenz durch die einer anderen Gruppe gefährdet ist.
Die Rechtfertigung eines begeisterten, offenen Völkermords ist ein komplizierter Prozess, und diese hochabstrakten Konzepte sind für ihr Verständnis zentral. Aber Beispiele können das Abstrakte konkretisieren. Am 3. April 2022 veröffentliche die staatliche russische Presseagentur RIA Nowosti einen Artikel mit dem Titel „Was sollte Russland mit der Ukraine tun?“ Der Historiker Timothy Snyder hat diesen Text zutreffend als „Russlands Handbuch für den Völkermord“ beschrieben und angemerkt, es handele sich dabei um „eines der unverhohlensten mir jemals untergekommenen genozidalen Dokumente“. Snyder ist einer der führenden Historiker des Massenmordes, und seine Einschätzung hat daher Gewicht. Sie zeigt, dass wir es mit einem der eindeutigsten je geschriebenen Aufrufe zum Völkermord zu tun haben.
Der russische Präsident Wladimir Putin hat seinen Krieg in der Ukraine von Anfang an als „Denazifizierungskampagne“ beschrieben. Der RIA-Artikel konkretisiert diese Rechtfertigung in verstörenden Einzelheiten. Nachdem er die Ukraine als „den Feind Russlands und vom Westen zur Zerstörung Russlands genutztes Werkzeug“ beschrieben hat, entwickelt er eine komplexe Argumentation, um diese Behauptung zu stützen.
Den Lesern wird erzählt, dass der Westen seine traditionellen europäischen Werte zugunsten eines „westlichen Totalitarismus, den aufgezwungenen Programmen zivilisatorischer Zersetzung und Auflösung, den Mechanismen der Unterwerfung unter die Supermacht des Westens und der Vereinigten Staaten“ aufgegeben habe. Russland ist von dieser Warte aus „die letzte Autorität beim Schutz und der Bewahrung jener Werte des historischen Europas (der Alten Welt), die es verdienen, bewahrt zu werden und die der Westen letztlich aufgegeben hat, womit er den Kampf um sich selbst verloren hat“.
In einer Rede des Jahres 1935 mit dem Titel „Kommunismus ohne Maske“ beschreibt Nazi-Propagandaminister Joseph Goebbels die vom Bolschewismus ausgehende Bedrohung in ähnlicher Weise, nur dass hier die Juden das Ziel sind. „In seiner letzten Konsequenz“, warnte er, „bedeutet er die Zerstörung aller wirtschaftlichen, gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Leistungen Westeuropas zugunsten einer wurzellosen und nomadischen internationalen Kabale, die ihre Verkörperung im Judentum gefunden hat“. Genau wie Goebbels die Nazis als Beschützer der traditionellen Werte des Westens vor einer kosmopolitischen, dekadenten Ideologie darstellte, propagiert die jetzige russische Führung ihre Vision einer zeitlosen und unzerstörbaren Russkiy Mir.
Russlands neue Identität
„Was sollte Russland mit der Ukraine tun?“ enthält eine pseudohistorische Litanei der massiven Ungerechtigkeiten, die Russland von der Hand des Westens widerfahren seien. „Russland hat alles getan, was möglich war, um den Westen zu retten“, heißt es dort, aber „der Westen entschloss sich, Rache an Russland zu nehmen für die Hilfe, die dieses in selbstloser Weise geleistet hatte“. In dieser Darstellung ist die Ukraine das primäre Werkzeug westlicher Heimtücke, und die Identifizierung des Landes als unabhängige Nation spiegelt den Aufstieg eines „Ukronazismus“ wider.
Dies, so erklärt man uns, sei eine besonders schlimme Version des Nazismus: „Der Ukronazismus stellt eine viel größere Bedrohung für die Welt und für Russland dar als die Hitler-Version des deutschen Nazismus.“ Die ukrainische Identität sei ein „antirussisches Konstrukt ohne eigene zivilisatorische Substanz“. Ihr zentrales Merkmal – der Wesenskern der ukrainischen Nation – sei ihre Feindseligkeit gegenüber Russland. Daher „hat die Geschichte bewiesen, dass die Ukraine, anders etwa als Georgien oder der Baltischen Staaten, unmöglich als Nationalstaat existieren kann, und dass alle Versuche zur ‚Errichtung‘ eines derartigen Nationalstaates naturgemäß zum Nazismus führen“.
Das Dokument beschreibt dann all die Praktiken, aus denen die „Denazifizierung“ der Ukraine besteht. Dazu gehören „Massenermittlungen“, um die persönliche Verantwortung für die „Verbreitung der Naziideologie“ (ukrainische Souveränität) und die „Unterstützung des Naziregimes“ (der ordnungsgemäß gewählten ukrainischen Regierung und ihrer ernannten Vertreter) zu ermitteln. Die Strafen für diese Verfehlungen umfassen Zwangsarbeit, Inhaftierung und Tod. Die Denazifizierung erfordere zudem „die Beschlagnahmung von Bildungsmaterialien und das Verbot, auf allen Ebenen, von Bildungsprogrammen, die naziideologische Leitlinien enthalten“ (alles, was die ukrainische Identität erwähnt).
Mit seinem Fokus auf Russlands historische Rolle gegenüber dem Westen bietet das Dokument eine neue Konzeptualisierung russischer Identität an. Insbesondere definiert es die Russen als genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe. Russe zu sein bedeutet hier ein Bekenntnis zur völligen Vernichtung der Ukraine und des ukrainischen Volkes. Die „Denazifizierung“ der Ukraine ist dabei der reinste Ausdruck russischer Identität. Gemäß dieser Logik zeigt sich die russische Identität am besten in brutalen und gewalttätigen Racheakten.
Die Rechtfertigung der russischen Handlungen in der Ukraine erfordert es, zu ändern, was es bedeutet, Russe zu sein, indem man den Völkermord in die nationale Identität einmeißelt. Russe zu sein bedeutet, die Auslöschung der Ukraine zu bejubeln. Die Kosten dieser Umdeutung werden von allen zu tragen sein, die sich selbst als Russen betrachten – und zwar für immer.
Ein entsetzliches Erbe
Wie mein Vater liebe ich das Heimatland meiner Vorfahren, Deutschland, das mir und meinen Kindern kürzlich die Staatsbürgerschaft zurückgegeben hat. Ich liebe seine Philosophie, Literatur und gegenwärtige Rolle als Fürsprecher des Friedens in der Welt. Trotzdem ist mein erster Gedanke, wenn ich einen anderen Deutschen treffe, dass seine Großeltern meine Ermordung und die meiner Familie höchstwahrscheinlich begeistert unterstützt hätten. Mein erster Gedanke ist, dass Deutschland sich wissentlich entschied, eine genozidale antagonistische ideologische soziale Gruppe zu werden und sich als das Volk zu definieren, dass endlich die Juden ausrotten würde.
Sie haben es nicht komplett geschafft. Aber sie ermordeten acht meiner Großtanten und Großonkeln und alle ihre Kinder. Die vergasten meine Urgroßmutter in einem Konzentrationslager, und sie schlugen meinen sechsjährigen Vater in den Straßen Berlins zu Hackfleisch. Die Großeltern und Urgroßeltern meiner deutschen Mitbürger hatten entschieden, dass man das als Deutscher so macht.
Ich weiß, dass die heutigen Deutschen diesen Teil ihrer Geschichte vergessen möchten und die Vergangenheit Vergangenheit sein lassen möchten. Die Deutschen haben sich ihr Deutschsein erhalten und zugleich tapfer die Konzeption, die ihre Großeltern davon hatten, aufgehoben. Doch zeigen sich in ihren Augen noch immer Furcht und Scham, wann immer sie versuchen, das Gespräch vom dunklen Erbe ihres Landes weg zu lenken. Und das wird immer so bleiben, weil Völkermord nie vergessen wird und nie vergessen werden kann.
Wenn sich Russlands Völkermord in der Ukraine fortsetzt und die Umdeutung des Russischseins Erfolg hat, werden Verweise auf die russische Identität auf alle Zeit nicht Puschkin oder Tolstoy heraufbeschwören, sondern die begeisterte Ausrottung eines ganzen Volkes. Die Toten und die Gräueltaten, die wir bereits in Butscha und anderswo gesehen haben, werden der letztliche Ausdruck russischer Identität werden. Das ist die Entscheidung – eine an ein schreckliches Erbe geknüpfte Identität –, die die heutigen Russen für ihre Nachkommen treffen.
Aus dem Englischen von Jan Doolan