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Der Aufstieg der Mesoökonomie

CAMBRIDGE – Im Jahr 1950 veröffentlichte George A. Lincoln von der Abteilung für Sozialwissenschaften an der US-Militärakademie das Buch Economics of National Security: Managing America's Resources for Defense, in dem er und seine Kollegen die - oft verspätet gezogenen und schmerzhaften - Lehren aus der industriellen Mobilisierung während des Zweiten Weltkriegs zusammenfassten. In einer nur vier Jahre später erschienenen zweiten Auflage legte Lincoln eine „vollständige Überarbeitung“ vor, in der weitere Lektionen aus der „Teilmobilisierung“ für den Koreakrieg Berücksichtigung fanden.

Die zweite Auflage bot eine umfassende, detaillierte Analyse der vom Vorsitzenden des War Industries Board im Ersten Weltkrieg, Bernard Baruch, ermittelten fünf bedeutenden Faktoren der Mobilisierung: Arbeitskräfte, Rohstoffe, Geld, Produktion und Kampfgeist. Das Buch nahm aber auch die aufkommenden Bedrohungen des Kalten Krieges vorweg und benannte vier verschiedene Ebenen der Mobilisierung.

Die erste Ebene ist die Vollmobilisierung wie sie die Briten, in noch größerem Umfang als die Amerikaner, während des Zweiten Weltkriegs vollzogen. Die zweite Ebene umfasst eine begrenzte (oder Teil-) Mobilisierung, wie sie in den Vereinigten Staaten in den zwei Jahren vor Pearl Harbor und nach Ausbruch des Koreakriegs durchgeführt wurde. Die dritte Ebene besteht in einem anhaltend hohen „Bereitschaftsplateau“, wie es in den USA - in unterschiedlichem Maße - während des gesamten Kalten Krieges aufrechterhalten wurde. Und die vierte Ebene ist eine demobilisierte „normale“ Friedenswirtschaft.

In früheren Friedenszeiten, die bis zur Gründung der Vereinigten Staaten zurückreichen, stellte die staatliche Beschaffung - einschließlich der Beschaffung von Rüstungsgütern - eine triviale Inanspruchnahme der Ressourcen des Landes dar. Doch die Ökonomie der nationalen Sicherheit nach dem Zweiten Weltkrieg brachte ein neues Paradigma mit sich. Jede der verschiedenen Mobilisierungsstufen unterschied sich durch ihren relativen Ressourcenbedarf und die legitime Notwendigkeit von Maßnahmen zur Aufhebung von Preissignalen. In diesem Punkt überschneidet sich die Ökonomie der nationalen Sicherheit mit der Ökonomie einer breiteren Palette industriepolitischer Maßnahmen und kann diese auch beeinflussen.

In all diesen Fällen besteht die zentrale Herausforderung laut Lincoln darin, „das Verhältnis zwischen Erfordernissen und Möglichkeiten“ zu ermitteln, das wiederum „von der Verfügbarkeit entsprechender Erfahrungen, Daten und statistischer Informationen“ abhängt. Er formulierte es folgendermaßen:

„Es ist vergleichsweise einfach, darüber zu sprechen, wie die Erfordernisse der Streitkräfte in Endprodukte umzuwandeln seien und welche Rohstoffe, Werkzeugmaschinen, Arbeitskräfte und Anlagen für diese Endprodukte nötig sind sowie darüber, wie viel Geld für diese Transformationen erforderlich ist. Doch die tatsächliche, detailgenaue Transformation von einer Kategorie in eine andere stellt einen anspruchsvollen Prozess dar, der Urteilsvermögen und jede Menge Mühen und Zeit in Anspruch nimmt. Noch diffiziler präsentiert sich in dieser Gleichung die Seite der Möglichkeiten. Wir müssen wissen, was in der US-Ökonomie vorhanden ist, wie es an die Sicherheitsanstrengungen angepasst werden kann und wie der Zeitplan für diese Anpassung aussieht. Diese Sicherheitsanstrengungen verlaufen dynamisch, wobei integrierte Aktivitäten gleichzeitig ablaufen. Eine kleine Fehlkalkulation, bemessen in Dollar oder Tonnage, wie etwa ein Mangel an Kupfer, kann eine erhebliche Unterbrechung nach sich ziehen.”

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Die Wiederentdeckung der Industriepolitik

Siebzig Jahre später erlangt diese Denkweise neue Aktualität, weil sie den notwendigen Rahmen für die Operationalisierung der „modernen Industrie- und Innovationsstrategie“ bietet, die der nationale Sicherheitsberater von US-Präsident Joe Biden, Jake Sullivan, am 27. April 2023 vorstellte.

Laut Sullivan sehen sich die USA aufgrund ihrer „ausgehöhlten“ industriellen Basis, aufgrund eines „neuen, von geopolitischem und sicherheitspolitischem Wettbewerb geprägten Umfelds“, einer „sich beschleunigenden Klimakrise und der dringenden Notwendigkeit einer gerechten und effizienten Energiewende“ sowie „der Herausforderung der Ungleichheit und der damit einhergehenden Beschädigung der Demokratie“ mit vielfältigen und zunehmenden wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Problemen konfrontiert. Sämtliche dieser Herausforderungen erfordern „eine den Aufbau fördernde Wirtschaftsmentalität“. Die USA müssen gewährleisten, über die „Fähigkeit zur Produktion und Innovation zu verfügen und öffentliche Güter wie eine starke physische und digitale Infrastruktur und saubere Energie in großem Umfang bereitzustellen.“

Als Antwort auf diese Herausforderungen hat die US-Regierung industriepolitische Maßnahmen wie den Infrastructure Investment and Jobs Act (2021), den CHIPS and Science Act (2022) sowie den Inflation Reduction Act (2022) verabschiedet. Selbst in ihrer Gesamtheit reichen diese Maßnahmen jedoch nicht annähernd an die umfassende Ressourcenmobilisierung heran, die aufgrund der „Produktionsdynamik” den Sieg im Zweiten Weltkrieg ermöglichte, noch sind sie mit der bescheidenen Teilmobilisierung für den Koreakrieg vergleichbar.

Dennoch handelt es sich um Schritte in dieselbe Richtung. Die Rückverlagerung von Amerikas verlorenen Produktionskapazitäten im High-Tech-Bereich und die beschleunigte Errichtung einer grünen Infrastruktur werden so etwas wie eine Verschmelzung von Lincolns „Teilmobilisierung“ und dem „Bereitschaftsplateau“ erfordern.

Darüber hinaus wird der Aufbau dieser Kapazitäten zwangsläufig zu vorgelagerten Engpässen führen, da es kritische Abhängigkeiten gibt, die erst in der (frustrierenden) Praxis deutlich in den Vordergrund treten. Glücklicherweise sind diese neuen US-Initiativen zu einem Zeitpunkt ergriffen worden, an dem die Idee der Industriepolitik innerhalb der Wirtschaftswissenschaften wieder an Legitimität gewinnt. Lange Zeit von Ökonominnen und Ökonomen als fruchtloser und nutzloser Versuch verspottet, „Sieger auszuwählen“, werden jetzt historische Beispiele effektiver Industriepolitik wiederentdeckt und einer gründlichen Bewertung unterzogen.

In einer kürzlich erschienenen Untersuchung der Fachliteratur lenken die Ökonomin Réka Juhász sowie die Ökonomen Nathan J. Lane und Dani Rodrik die Aufmerksamkeit auf eine Reihe von Ansätzen, im Rahmen derer man (im Gegensatz zur Ermittlung bestimmter „nationaler Champions“) durch die Verlagerung von Wettbewerbsanreizen in Sektoren, die als strategisch wichtig angesehen wurden, einen Strukturwandel in Marktwirtschaften herbeiführen wollte. Das herausragendste Beispiel ist natürlich die Förderung aller jener Technologien, die in ihrer Gesamtheit die digitale Revolution ausmachen, durch das US-Verteidigungsministerium: dabei handelt es sich um eine äußerst erfolgreiche Maßnahme zur Operationalisierung der Ökonomie der nationalen Sicherheit.

Die Mitte zwischen Mikro- und Makroökonomie

Ob bei der Mobilisierung für einen Krieg oder dem (Wieder-)Aufbau hochentwickelter Produktionskapazitäten in Friedenszeiten - der Erfolg hängt von der Funktionsfähigkeit komplexer Lieferketten ab. Diese Tatsache war jedoch lange Zeit in Vergessenheit geraten - oder blieb zumindest unterschätzt. Erst nach den jüngsten Lieferketten-Schocks begann man in Wissenschaft, Politik und anderen Bereichen, dem komplizierten, kaum erforschten „Meso“-Bereich zwischen Mikro- und Makroökonomie mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

Während sich die Mikroökonomie mit dem Verhalten einzelner Akteure (Unternehmen, Verbraucher, Arbeitnehmer, Investoren) befasst, beschäftigt sich die Makroökonomie mit dem Verhalten statistischer Aggregate (wie sie durch BIP, Nationaleinkommen und so weiter dargestellt werden). Der Raum dazwischen wurde jedoch weitgehend vernachlässigt, insbesondere im Hinblick darauf, wie er als dynamischer Kontext fungiert, in dem sich Wirtschaftspolitik entfaltet. Eine Ursache für diese Lücke könnte der allzu vereinfachende Glaube sein, man könne darauf vertrauen, dass die Märkte die effizienteste Lösung liefern, oder zumindest vertrauenswürdiger seien als korrumpierbare Politiker.

Das Problem, das die Aufmerksamkeit auf diesen Bereich lenkte, besteht in der Anfälligkeit einer Wirtschaft, deren Struktur auf Effizienz optimiert wurde. Die Covid-19-Pandemie machte deutlich, wie die langjährige Verpflichtung zur Maximierung der Kapitalrendite (zum Nutzen der Aktionäre und Führungskräfte) dazu führte, dass nur wenig Kapital in die Aufrechterhaltung von Pufferbeständen oder redundanten sekundären Quellen investiert wurde, mit denen man Angebotsschocks hätte auffangen können. Da es sich bei den systemischen Vorteilen dieser Investitionen um positive Externalitäten handelt, werden sie in den Berechnungen der einzelnen Unternehmen nicht berücksichtigt.

Darüber hinaus schränkte die Unkenntnis über die vernetzte Struktur des Wirtschaftssystems auch die Bemühungen ein, die systemische Anfälligkeit zu beheben. Aus diesem Grund ist es jetzt dringend erforderlich, die Wirtschaft als komplexes Gefüge von Produktionsnetzwerken zu verstehen, die sich als Reaktion auf spezifische Nachfrage und angebotsseitige Schocks dynamisch ausbilden.

Ein gutes Beispiel für eine derartige Aufklärung bietet die bahnbrechende Arbeit von Vasco Carvalho von der University of Cambridge und seinen Kollegen aus dem Jahr 2016, in der die „Ausbreitungseffekte“ des Großen Ostjapan-Erdbebens von 2011 nachgezeichnet werden, um dessen kumulative wirtschaftliche Auswirkungen zu erfassen. Die Studienautoren untersuchten, wie sich die „durch das Erdbeben und seine Folgen verursachte Störung auf vor- und nachgelagerte Lieferketten ausbreitete und direkte sowie indirekte Zulieferer und Kunden der von der Katastrophe betroffenen Unternehmen betraf.“ Durch die Anwendung eines „allgemeinen Gleichgewichtsmodells“ von Produktionsnetzwerken waren sie in der Lage, „die gesamten makroökonomischen Auswirkungen des Schocks unter Berücksichtigung dieser Ausbreitungseffekte abzuschätzen.“

Diese Fokussierung auf Produktionsnetzwerke eröffnet der Wirtschaftswissenschaft neue Perspektiven. Mit diesem Zwischenbereich beschäftigten sich, entgegen dem damaligen Trend, auch zwei bekannte Ökonomen. Bei einem handelte es sich um den sowjetisch-amerikanischen Nobelpreisträger Wassily Leontief, der die erste Input-Output-Tabelle erstellte, um den Warenfluss von Primärressourcen zu Endprodukten darzustellen.

Heute legt das US Bureau of Economic Analysis jährlich nationale Input-Output-Tabellen vor, die jedoch zwangsläufig statisch und rückwärtsgewandt angelegt sind. Sie geben zwar Aufschluss über Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur, bieten aber nicht den theoretischen Rahmen und die empirischen Informationen, die erforderlich sind, um zu verstehen, wie Schocks im System übertragen werden und wie die ökonomischen Attribute verschiedener Sektoren dynamisch interagieren.

Der zweite Pionier im Bereich der Mesoökonomie war der italienische Ökonom Luigi Pasinetti, der in seinem, in Structural Economic Dynamics beschriebenen, Ansatz verschiedene Wirtschaftssektoren durch ihre unterschiedlichen Elastizitäten hinsichtlich Nachfrage und Angebot in Bezug auf Preis und Einkommen sowie durch branchenspezifisches Produktivitätswachstum charakterisierte. Das Gesamtverhalten dieser Modellökonomie ergab sich durch das dynamische Ergebnis der Interaktion dieser Sektoren. Pasinettis Arbeit war jedoch rein konzeptionell und es fehlten sowohl Daten als auch entsprechende Rechenressourcen, um sie in der Praxis umzusetzen.

Mit der Digitalisierung des Wirtschaftslebens und der Verfügbarkeit von weitaus mehr Rechenkapazität schwinden die Grenzen, denen sich Pasinetti noch ausgesetzt sah, wodurch sich der Mesoökonomie neue Möglichkeiten eröffnen. Bei der Untersuchung von Lieferketten verspricht die Mesoökonomie, Leitlinien zur Ermittlung und Bewertung potenzieller Ausfallstellen und Ausbreitungskanäle zu bieten und die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, wo Investitionen in Resilienz am dringendsten erforderlich sind. Die gleiche Art der Analyse auch für die Untersuchung von Finanznetzwerken von Bedeutung - wie das Problem der „systemrelevanten Finanzinstitutionen“ nach der globalen Finanzkrise 2008 gezeigt hat.

Eine weitere  praktische Anwendung der Mesoökonomie besteht in der Abbildung der Abhängigkeiten, die industriepolitische Initiativen und ihre systemischen Folgen mit sich bringen. Da jede Anstrengung zum Wiederaufbau einer Hightech-Produktionsbasis in den USA auf zahlreiche Engpässe stoßen wird, können mesoökonomische Modelle dabei behilflich sein, zu antizipieren, wo Ko-Investitionen gezielt eingesetzt werden sollten.

Vertiefende Überlegungen

Um das volle Potenzial der Mesoökonomie zu verstehen, hilft es, sich zu vergegenwärtigen, wodurch sie sich von anderen Wirtschaftsbereichen unterscheidet. Ein Hauptmerkmal ist der Fokus auf bestehende Beziehungen zwischen Unternehmen innerhalb von Märkten, Lieferketten und Finanznetzwerken sowie über diese hinweg. Diese Beziehungen weisen identifizierbare Merkmale in mehreren Dimensionen auf, wobei jedes Unternehmen einen Netzwerkknoten darstellt, der durch die Anzahl der Verbindungen zu anderen - den „Rang“ des Knotens - charakterisiert werden kann.

Jeder dieser Knotenpunkte kann dann entsprechend des Volumens oder des Wertes der Transaktionen, für die er genutzt wird, gewichtet werden. Eine Verbindung von einem zu einem anderen Unternehmen verknüpft das Ursprungsunternehmen mit anderen auf zweiter, dritter und höherer Ebene. Vorwärtsverbindungen stellen Waren- oder Dienstleistungsströme von einem bestimmten Unternehmen zu anderen dar; Rückwärtsverbindungen bilden Ströme hin zum Unternehmen ab. Dadurch wird die Architektur des Netzwerks - und des umfassenderen Netzwerks aus Netzwerken - deutlich, wobei die Position jedes Knotenpunkts im Vergleich zu den anderen hervorgehoben wird. Ein Maß ist die relative „Zentralität“ eines Knotenpunkts in der Gruppe der Netzwerke, an denen er beteiligt ist, während ein anderes seine relative Position in einer vor- oder nachgelagerten Lieferkette erfasst.

Doch was wollen wir über diese Netzwerke eigentlich wissen? Zunächst möchten wir herausfinden, wie sie als Reaktion auf die Marktkräfte entstehen, die auf Unternehmen wirken. Wir wollen wissen, wie stabil und widerstandsfähig die Unternehmen gegenüber Schocks sind, und ob sich ihre Rolle in einem Netzwerk klein und spezifisch oder groß und systemisch gestaltet. Außerdem geht es um die Frage, inwieweit sie umfassenderen sozialen oder strategischen Zwecken dienen und wo, beziehungsweise wie, staatliche Eingriffe bestimmte Netzwerke stärken oder formen können.

Eine weitere Frage lautet, wie Forschende im Bereich Mesoökonomie diese Art der Analyse durchführen. Glücklicherweise verfügen wir mittlerweile über eine rasch wachsende Zahl an wissenschaftlichen Arbeiten, in denen die üblichen Instrumente der ökonomischen Analyse mit den für die Untersuchung von Netzwerken spezifischen Instrumenten kombiniert werden. Das heißt, jede Art von Beziehung zwischen Unternehmen kann mathematisch als Graph beschrieben werden, wodurch die Verwendung von Konzepten aus der Graphentheorie (wie Engpässe, Netzwerkflüsse, Zentralitätsstatistiken, Kohäsion, Modularität und - in der Theorie der Zufallsgraphen - Perkolation und Phasenübergänge) möglich wird.

Diese neue akademische Methode zeigt das Potenzial der Mesoökonomie, wenn es darum geht, den Umfang der Forschung zu erweitern und die Politik auf neuartige Weise und in neuen Bereichen zu informieren. Darüber hinaus enthält ein Großteil der neueren Literatur Fallstudien, die sich mit der Frage des „Wie“ der Mesoökonomie befassen. Dazu werden Modelle entwickelt, die zunehmend verfügbare Mikrodaten nutzen, um die von den Daten definierten Beziehungsnetzwerke zu untersuchen.

In Phasen der Stabilität etwa führt das Streben nach wirtschaftlicher Effizienz und Marktmacht zu Beziehungen in Produktionsnetzwerken, die von Lock-in-Effekten und Rent-Seeking geprägt sind, von Konsolidierung und Monopolisierung ganz zu schweigen. Kostspielige Investitionen in verbesserte Resilienz oder Produktionsflexibilität durch ein Unternehmen in einer ausgedehnten Lieferkette schaffen eine positive Externalität für alle direkten und indirekten Partner, doch ist es unwahrscheinlich, dass das Unternehmen, das die anfänglichen Kosten trägt, diese Vorteile vollständig für sich nutzen kann.

So kann Profitstreben auf Unternehmensebene das entstehende Netzwerk brüchig machen. Dazu schreiben Agostino Capponi von der Columbia University, Chuan Du von der US-Notenbank Federal Reserve und Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz: „In Anbetracht von Marktmacht und der Unvollständigkeit des Marktes sollte man erwarten, dass die Märkte im Verhältnis zu einer eingeschränkt effizienten Benchmark zu wenig in Resilienz investieren.”

Dabei handelt es sich um eine der zahlreichen kreativen Ansätze zur Erforschung der Ökonomie komplexer Produktionsnetzwerke mit den Instrumenten der Netzwerktheorie. Die Bandbreite und Vielfalt dieser Forschung ist vielversprechend und zeigt, welche Möglichkeiten die Mesoökonomie bietet.

Man denke an die Wirtschaftsgeschichte. Unter Zuhilfenahme mesoökonomischer Methoden ist es Ernest Liu von der Princeton University gelungen, den offenkundigen Erfolg der Industriepolitik in Südkorea und China zu untersuchen. Er zeigt, dass die vom Staat bevorzugt geförderten Industrien strategisch vorgelagert sind und starke und vielfältige Vorwärtsverbindungen aufweisen. Als diese Industrien beschleunigtes Wachstum und eine höhere Produktivität erzielten, brachte das erhebliche Vorteile für die gesamten Produktionsnetzwerke in der Wirtschaft und trug so zum „Wachstumswunder“ der beiden Länder bei.

Andere haben einen ähnlichen Ansatz gewählt, um das Potenzial für gezielte staatliche Eingriffe entlang mehrstufiger Lieferketten in einer „grünen“ Wirtschaft zu evaluieren. Das Argument  von Philippe Aghion und seiner Kolleginnen und Kollegen von der London School of Economics zugunsten einer „sektorspezifischen Industriepolitik zur bestmöglichen Bewältigung des Problems der Energiewende“ könnte etwa den herkömmlichen Ruf nach einer allgemeinen CO2-Steuer ergänzen oder sich sogar als wirksamer erweisen.

In einer kürzlich erschienenen Arbeit zeigen Liu und Song Ma, dass eine weitere aktuelle Anwendung der Mesoökonomie darin besteht, Innovationsnetzwerke zu evaluieren, „im Rahmen derer frühere Innovationen in einem Sektor den zukünftigen Innovationen in anderen Sektoren zugute kommen können.“ Sie verweisen darauf, dass „ein Planer, der langfristiges Wachstum anstrebt, den zentralen Sektoren des Innovationsnetzwerks zwar mehr F&E zuweisen sollte … dieser Anreiz aber in offenen Volkswirtschaften, die mehr von den Spillover-Effekten ausländischen Wissens profitieren, gedämpft ausfällt.“

Der mesoökonomische Ansatz wird darüber hinaus auch zur Untersuchung der Inflationsdynamik herangezogen. Ausgehend von einem modernen neokeynesianischen makroökonomischen Modell mit „multiplen Branchen und Primärfaktoren mit heterogenen Angebotskurven” arbeitet Elisa Rubbo von der University of Chicago etwa in die Gegenrichtung, um „notwendige und hinreichende Bedingungen für Veränderungen des relativen Angebots und der relativen Nachfrage in verschiedenen Industrien zu schaffen, die sich auf die Gesamtinflation auswirken.” Im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung zeigt sie, dass Veränderungen der relativen Preise den Inflationsindex sehr wohl beeinflussen können.

Und wie praktisch alle Wirtschaftsbereiche besitzt auch die Mesoökonomie eine finanzielle Dimension. In einem kürzlich veröffentlichten Arbeitspapier der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich heißt es:

„Produktion braucht Zeit, insbesondere wenn sie über lange Lieferketten erfolgt. Working Capital in Form von Vorräten und Forderungen überbrückt die zeitliche Diskrepanz zwischen der Kostenentstehung und dem Geldeingang aus Verkäufen. In dem Maße, in dem die Finanzierungskosten des Working Capital eine Rolle spielen, ist die Länge der Lieferketten nicht nur eine Frage ökonomischer Fundamentaldaten (wie Produktionstechnologie oder Handelshemmnisse), sondern wird auch von den finanziellen Bedingungen beeinflusst.”

Darüber hinaus unterstreicht dieser Working-Capital-Ansatz die Botschaft, dass ausgedehnte Lieferketten dazu angetan sind, Mikroschocks mit makroökonomischen Folgen zu verstärken:

„Anhand dieser Theorie beleuchten wir einen neuartigen Übertragungskanal für makroökonomische Schwankungen durch Investitionen in das Working Capital, der starke Parallelen zu Investitionen in Sachkapital aufweist, aber über Unternehmensgruppen hinweg und nicht auf der Ebene des einzelnen Unternehmens wirkt. Wir zeigen die damit verbundenen Auswirkungen der Finanzierungsbedingungen auf die Produktivität und das Volumen des internationalen Handels auf.”

Jahrzehnte nach Leontiefs bahnbrechender Studie über die Struktur der US-Wirtschaft werden in modernen Input-Output-Tabellen die komplexen Muster der Input-Verbindungen in hunderten von Branchen detailliert dargestellt. Dringt man tiefer in den Mikrobereich vor, ist es möglich, die Lieferanten-/Abnehmerbeziehungen von Millionen Unternehmen in der gesamten Wirtschaft zu erfassen. Man darf jedoch nicht vergessen, dass diese Beziehungen dynamischer Natur sind: Sie entwickeln sich nicht nur als Reaktion auf endogene Kräfte, sondern sind auch unvorhergesehenen Schocks ausgesetzt, wie beispielsweise dem kürzlichen Einsturz der Francis Scott Key-Brücke in Baltimore.

Glücklicherweise wissen wir inzwischen, dass die Abbildung dieser Netzwerke mit den Methoden der Mesoökonomie Interventionen zur Milderung der Folgen derartiger Verwerfungen anleiten kann.

Wirtschaftliche und nationale Sicherheit

In seiner Rede im April 2023 bezeichnete Sullivan Halbleiter und mineralische Rohstoffe, die für die „Zukunft der sauberen Energie“ von entscheidender Bedeutung sind, als strategische Bereiche, in denen wirtschaftliche und nationale Sicherheit zusammenlaufen:

„Man denke nur an die Halbleiter, die für unsere heutigen Konsumgüter ebenso unverzichtbar sind wie für Technologien, die unsere Zukunft prägen werden, von künstlicher Intelligenz über Quantencomputer bis hin zur synthetischen Biologie. Amerika stellt heute nur etwa 10 Prozent der weltweiten Halbleiter her. Die Produktion - im Allgemeinen und insbesondere, wenn es um die modernsten Chips geht - ist geografisch anderswo konzentriert. Das sorgt für ein gravierendes wirtschaftliches Risiko und Verwundbarkeit im Bereich der nationalen Sicherheit.

… Oder man betrachte die Situation bei kritischen Mineralien - dem Fundament für die Zukunft der sauberen Energie. Die Vereinigten Staaten produzieren heute lediglich 4 Prozent des Lithiums, 13 Prozent des Kobalts, 0 Prozent des Nickels und 0 Prozent des Graphits, die benötigt werden, um die aktuelle Nachfrage nach Elektrofahrzeugen zu decken. Unterdessen werden mehr als 80 Prozent der kritischen Mineralien von einem Land, nämlich China, verarbeitet...”

Diese Bemerkungen erinnern an Lincolns Ausführungen 70 Jahre zuvor. Mit Blick darauf, wie die Technologie die mineralische Rohstoffbasis der industriellen Wirtschaft innerhalb von nur 50 Jahren verändert hatte, stellte er fest:

„Um 1900 benötigte die Industrie kaum mehr als die wenigen seit der Antike bekannten Mineralien: Kohle, Eisen, Kupfer, Zinn, Blei-Zink, Gold und Silber. Doch der technologische Fortschritt hat dazu geführt, dass heute etwa 45 metallische Elemente und 8.000 Legierungen dieser Metalle für die moderne Industrie unverzichtbar sind. Um ein Beispiel zu nennen: Titan, einst eine Verunreinigung in Eisenerz, diente zunächst als Blei-Ersatz und erlangte dann Bedeutung für die Herstellung von Hochgeschwindigkeitsflugzeugen.”

Lincolns zweite Erwähnung eines neuen kritischen Materials bezog sich auf Germanium, das „den Transistor ermöglicht.“ Eine unfreiwillige Ironie der Geschichte besteht darin, dass kurz nachdem er dies schrieb, Germanium durch Silizium abgelöst wurde, weil es relativ leicht zu verarbeiten und bei hohen Temperaturen stabil war. Doch die Botschaft ist dieselbe. Unabhängig vom Profil der Endnachfrage nach Produkten - und damit von der Form dieser Produkte - sind genau diese vorgelagerten Materialien sowohl für eine wachsende Wirtschaft als auch für ihre Mobilisierungsbasis von entscheidender Bedeutung.

Daher ist der Zugang zu diesen Materialien und den Technologien zu ihrer Verarbeitung von vorrangiger Bedeutung für die wirtschaftliche und nationale Sicherheit. Der Zugang zu Lithium und Kobalt ist ebenso bedeutsam wie der Zugang zu hochentwickelten Halbleiter-Verarbeitungstechnologien, wie sie TSMC in Taiwan beherrscht. TSMC wiederum ist von den herausragenden Technologien abhängig, die in extrem ultravioletten Lithographie-Systemen („EUV“) eingebettet sind, wie sie in einzigartiger Weise von ASML in den Niederlanden hergestellt werden.

Wie diese Beispiele zeigen, ist Mesoökonomie zwangsläufig international ausgerichtet. Dies war auch zu Lincolns Zeiten der Fall: „Die Erschließung ausländischer Quellen ist von entscheidender Bedeutung ... Es sind Maßnahmen zu ergreifen, die sowohl für die Vereinigten Staaten als auch für das Ursprungsland von Vorteil sind“ (seine Hervorhebung). In ähnlicher Weise erklärt Sullivan: „Unser Ziel ist letztlich eine starke, resiliente und hochmoderne technisch-industrielle Basis, in die die Vereinigten Staaten und gleichgesinnte Partner - sowohl etablierte als auch aufstrebende Volkswirtschaften - gemeinsam investieren und auf die sie sich stützen können.“

Freilich geht es dabei nicht nur um Güter mit doppeltem Verwendungszweck. Der erfolgreiche Wiederaufbau einer Hightech-Produktionsbasis in den USA wird auch von einem ausreichenden Angebot an erforderlichen Qualifikationen abhängen. Die unter dem Begriff „KI“ zusammengefassten hochentwickelten Verfahren maschinellen Lernens können diese Fertigkeiten in genau definierten Anwendungen ergänzen. Allerdings wird man auch qualifizierte Menschen benötigen. Im Juli 2023 warnte TSMC, dass sich die Produktion in der neuen Fertigungsstätte in Arizona aufgrund eines Mangels an lokalen Arbeitskräften mit erforderlichen Fachkenntnissen verzögern würde. Die Mesoökonomie muss zwangsläufig auch Analysen darüber anbieten, wie Arbeitsmärkte auf sich verändernde Nachfragemuster nach Qualifikationen reagieren.

Ein Werkzeug, aber keine Wunderwaffe

Die hier skizzierte Vision der Mesoökonomie umfasst eine dynamische Abbildung der Produktion und Verteilung von Gütern und Dienstleistungen sowie der Veränderungen von nachfrage- und angebotsseitigen Entwicklungen, die allesamt durch technologische Innovationen bedingt sind. Das könnte den Anschein erwecken, dass eine umfassende Wirtschaftsplanung auf detaillierter Ebene versprochen wird – oder droht. Sind wir also im Begriff, die Debatten aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg über die Durchführbarkeit von Wirtschaftsplanung im Sozialismus wieder aufzunehmen?

Nein, das sind wir nicht, denn Reichweite und Implikationen der Mesoökonomie sind dafür zu gering. Wie alle Ansätze zum Verständnis sozialer Phänomene muss sich auch die Mesoökonomie der radikalen Unsicherheit beugen, die allen individuellen und kollektiven Entscheidungen innewohnt, die sie zu analysieren versucht. Das Problem besteht nicht nur darin, dass systemische Schocks zufällig und unvorhersehbar sind oder möglicherweise aus einem unvorhergesehenen Regimewechsel entstehen. Es geht auch darum, dass - routinemäßige oder improvisierte - Handlungen aller Beteiligten Reaktionen hervorrufen, die auch die Ausgangsbedingungen verändern, die zu diesen Handlungen motiviert haben.

Vielmehr bietet die Mesoökonomie politischen Entscheidungsträgern die notwendigen Informationen, um gezielte Maßnahmen zu ergreifen, die entweder die Resilienz des Wirtschaftssystems auf der Angebotsseite erhöhen oder wirksame Reaktionen auf legitime außermarktliche Erfordernisse ermöglichen. Zu diesen Informationen gehört zwangsläufig eine Abbildung der Wirtschaftsnetzwerke, um potenzielle Schwachstellen und Engpässe zu ermitteln. Ausgestattet mit derartigen Erkenntnissen verfügen die Gestalter industriepolitischer Maßnahmen über bessere Chancen, ihre sich überschneidenden Ziele in den Bereichen Wirtschaft und nationale Sicherheit zu erreichen.

Mein Dank gilt Vasco Carvalho und Matthew Elliott von der University of Cambridge sowie Daniel Goroff von der Alfred P. Sloan Foundation für ihre außerordentliche Unterstützung und Bestärkung.

Übersetzung: Helga Klinger-Groier

https://prosyn.org/hY9Hhftde